Angesichts seiner politischen Interessen schaue Israel zum ersten Mal über die antisemitische Politik seiner Alliierten hinweg, schreibt Kollege Richard C. Schneider in seinem Artikel. Aber das stimmt nicht.

Dies ist eine Replik auf den Artikel von Richard C. Schneider. 

Angesichts seiner politischen Interessen schaue Israel zum ersten Mal über die antisemitische Politik seiner Alliierten hinweg, schreibt Kollege Richard C. Schneider in seinem Artikel. Aber das stimmt nicht. Glauben Sie nicht? Dann mal die Geschichtsbücher aufgeschlagen!

Beginnen wir in den 50ern, wenige Jahre nach der Staatsgründung: Israels Ministerpräsident David Ben Gurion steckte damals mitten in Verhandlungen mit der deutschen Regierung über Reparationszahlungen – wohl wissend, dass Adenauers Kabinett und alle angeschlossenen Ämter (Stichwort: Auswärtiges Amt) weiterhin von Nazis getragen wurde. Kein Wunder also, dass sich Ben Gurion im eigenen Land für diese Annäherung an die deutsche Judenhasser heftige Attacken ausgesetzt sah.

Etwa von Menachem Begin: „Es gibt Dinge im Leben, die schlimmer sind als der Tod!“, rief der konservative Politiker bei einer Rede im Jahr 1952. Mit den „Dingen“ meinte er das Angebot Adenauers an Ben Gurion, den Israelis rund dreieinhalb Milliarden Deutsche Mark zu überweisen. Keine Dekade war vergangen, seit die Rote Armee die deutschen Konzentrationslager befreit hatte. Die Verbrechen der Deutschen in Auschwitz oder Treblinka füllten nicht nur die Seiten der Geschichtsbücher, sie waren Tagesgespräch auf den Straßen des jungen Staates. Durfte man mit diesen Leuten Geschäfte machen, mit ihnen diskutieren, verhandeln, speisen, trinken, sprechen? Ben Gurion hat sich letztendlich für „ja“ entschieden.

Aber macht ihn das zum Bruder im Geiste der deutschen Judenhasser? Selbstverständlich nicht.

Machen wir weiter mit Menachem Begin. Der wurde zwei Dekaden nach Ben Gurion zum israelischen Ministerpräsident gewählt. Und wen lud er sich alsbald zum Staatsbesuch nach Jerusalem ein? Den ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat. Für die historisch ahnungslosen Leser unter ihnen: Das war der Araber, der Israel wenige Jahre zuvor während des Jom-Kippur-Kriegs am liebsten vernichtet hätte. Und es war der gleiche Mann, der 1953 der Zeitung „Al-Musawwar“ vorgeschwärmt hatte, er bewundere Hitler „von ganzem Herzen“.

Aber macht das Begin zum Bruder im Geiste mit dem arabischen Hitlerfan? Natürlich nicht.

Oder erinnert sich noch jemand an die 80er-Jahre? Damals wechselten sich Schimon Peres und Jitzchak Rabin als Regierungschefs im Judenstaat ab. Beide wurden Zeugen einer heftigen antisemitischen Kampagne, der sogenannten „Intifada“, in deren Verlauf fast 300 Israelis getötet wurden. Was die Beiden nicht davon abhielt, mit deren Urheber, Jassir Arafat, Friedensverhandlungen zu führen – und dabei großzügig über seinen Antisemitismus hinwegzusehen. Damit nicht genug, sie protestierten nicht einmal dann, als ihnen gemeinsam mit Arafat der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Im Gegenteil, sie posierten sogar noch für ein freundliches Foto mit dem Judenschlächter.

Aber macht das Peres und Rabin zu Arafats Brüdern im Geiste? Nö.

Von Arafat nach Afrika. Es war 1948, dem Gründungsjahr Israels, als in Südafrika die „Nasionale Party“ ihren ersten Wahlsieg davontrug. Nicht nur die schwarze Bevölkerung, sondern auch unter den Juden des Landes beobachtet man den Triumph der Partei besorgt.

Helen Suzman, eine Jüdin und viele Jahre lang die einzige Anti-Apartheids-Stimme im Parlament, beschrieb im Gespräch mit dem „Guardian“ die Stimmung im Land: „They didn’t fear there would be a Holocaust but they did fear there might be Nuremberg-style laws, the kind that prevented people practising their professions. The incoming government had made it clear that race differentiation was going to be intensified, and the Jews didn’t know where they were going to fit into that.“

Die Sorgen kamen nicht von ungefähr. In den folgenden Jahren ihrer Herrschaft machte die „Nasionale Party“ immer wieder deutlich, wes Geistes Kind sie war. So umgab sich die Regierung in den frühen 60er-Jahren nur zu gerne mit dem britischen Faschistenführer Oswald Mosley. 1966 dann wurde mit John „B. J.“ Vorster ein Mann zum Ministerpräsidenten gewählt, der wenige Jahre zuvor noch Aktivist der paramilitärischen Nazi-Organisation Ossewabrandwag war. Dennoch lud 1976 der israelische Ministerpräsident, der zu diesem Zeitpunkt Jitzchak Rabin hieß, zum Staatsbesuch nach Israel ein.

Aber macht das Rabin zu Vorsters Bruder im Geiste? לא (nein).

Netanjahu macht, was Schneider ja ganz richtig andeutet: Realpolitik. Es gibt gute Gründe, Orbán für all seine reaktionäre Hässlichkeit zu verachten. Ihn für seinen Judenhass bloßzustellen und politisch zu isolieren. Gute Gründe hingegen, warum Netanjahu da mit gutem Beispiel vorangehen sollte, gibt es nicht. Im Gegenteil, der Blick in die Geschichte zeigt: Es war erst die Realpolitik, die Israel das Überleben ermöglicht hat. Wir Europäer sind es, die Israel immer und immer wieder in die Verlegenheit bringen, mit seinen Todfeinden verhandeln zu müssen Ein bisschen mehr Scham dafür wäre von Zeit zu Zeit daher angebracht.

 

Richard C. Schneider antwortet: Und sie sind doch Brüder im Geiste