Nach einem Jahrzehnt bei Facebook und Twitter war unser Autor genervt und gelangweilt und stieg aus. Er schreibt aber weiter gern Randbemerkungen über Aktuelles und Zeitloses, Wichtiges und Marginales. In loser Folge dokumentieren wir hier seine Zwischenrufe.

Entschleunigung, Nullwachstum, Ende der Globalisierung

Warum gibt es eigentlich kein Freudenfest der Wachstumskritiker? Okay, zurzeit sind Partys verboten. Aber man könnte doch zumindest eine virtuelle Siegesfeier, einen Dankgottesdienst in den Social Media oder etwas Ähnliches organisieren. Durch Covid-19 und Trump haben die Anti-Wachstums-Advokaten alles erreicht, was sie seit Jahrzehnten fordern: 2020 gab es in Deutschland nicht nur Nullwachstum, sondern sogar Minuswachstum. Lockdown und Hygieneauflagen haben das Leben der Menschen massiv entschleunigt. Und Trumps protektionistische Wirtschaftspolitik, der viele andere Regierungen folgten, bremste die Globalisierung aus. Sieg auf ganzer Linie – und es kommt keine Freude auf. Stattdessen ist die Zahl der Zeitungsartikel und Bücher, in denen Entschleunigung und Nullwachstum angepriesen werden, deutlich zurückgegangen. Vermutlich empfinden es die Wachstumskritiker als peinlich, dass ein Virus und ein verrückter US-Präsident ihre Wünsche erfüllt haben.

Greenpeace kocht, DER SPIEGEL kellnert

Immer wenn man glaubt, der Journalismus sei nun vollends auf den Hund gekommen, legt DER SPIEGEL das Niveau noch ein bisschen tiefer. Ein Artikel unter dem Titel „Die Anti-Windkraft-Bewegung“ erschien am 9.2.2021 und berichtete über ein „Netzwerk von Windkraftgegnern, die als vermeintliche Umweltschützer wohl von der Industrie unterstützt gegen geplante Anlagen klagen, wie eine Recherche von Greenpeace zeigt“. Beim weiteren Lesen stellt sich heraus, dass der gesamte Artikel nichts weiter ist als eine Zusammenfassung dieser Greenpeace-Recherche. Beim eigentlichen Kern angelangt, der Frage welche finsteren Mächte die Windkraftgegner finanzieren, ist dann die Luft raus: „Woher das Geld kommt? Auch die Greenpeace-Recherche kann das nicht beantworten.“ Und beim SPIEGEL gibt‘s ja leider keinen, der recherchieren kann.

Dass die Vernichtung von Hunderttausenden Vögeln und Fledermäusen durch die Windindustrie womöglich auch berechtigte Kritik von Naturschützern hervorruft, kommt der SPIEGEL-Redaktion genauso wenig in den Sinn wie ihren Souffleuren von Greenpeace. Auch kein Gedanke daran, dass es kein Journalismus ist, wenn man völlig unkritisch eine Recherche von Greenpeace abpinselt. Also von einer Organisation, die selbst ein Energieversorgungsunternehmen betreibt (Greenpeace Energy) und Windstrom verkauft. Was enthüllt der SPIEGEL wohl als nächstes: Eine BMW-Recherche über die Deutsche Bahn? Was Burger King über den Vegetarierbund herausbekommen hat? Es ist noch Luft nach unten.

Das Schweigen im Blätterwald

Zu Jahresbeginn häufen sich einmal wieder die Hiobsbotschaften über die alten Leitmedien des westdeutschen Journalismus. Süddeutsche, Stern und Focus werden noch ein Stück weiter kaputtgeschrumpft. Die Entlassungswellen schwappen nun schon seit mehr als zehn Jahren über die Redaktionen. Wie einst die Kohlekumpel sehen die Journalisten wie in immer schnellerer Folge ihre Arbeitsstätten verschwinden. Es betrifft alle, die einmal als „die vierte Gewalt“ im Staat bezeichnet wurden, von der FAZ, über den Spiegel bis Bild. ARD und ZDF wären auch längst pleite, würde sie nicht durch Gebühren am Leben erhalten. Leser und Zuschauer ignorieren, was einst so wichtig war. Montags musste man den Spiegel gelesen haben, wenn man im Büro erschien, die Tageschau hatte buchstäblich jeder gesehen und am Vorbeigehen schnappt man schnell noch auf, was die Bildzeitung gerade skandalisierte. Das war einmal. Die Branche selbst berichtet selten und recht wortkarg über die Krise. Würde ein anderes einst so stolzes Gewerbe ähnlich im Elend versinken, gäbe es dazu Schlagzeilen im Dutzend. Auch dies trägt zum Glaubwürdigkeitsverlust bei. Die Journalisten, die noch einen Job haben, mucken nicht auf. Ehrlichkeit noch Mut werden nur noch simuliert. Leser und Zuschauer merken es und wenden sich ab.

Mit Relotius nach Utopia

Was haben der ideale Kommunismus und der mentale Orgasmus gemeinsam? Es gibt sie beide nicht. Sie existieren nur im Reich der Utopie beziehungsweise der Fantasie – was zuweilen das Gleiche ist. Hannes Stein gibt uns in seinem neuen Buch „Der Weltreporter“ eine Impression davon, wie es wäre, wenn es solche Unmöglichkeiten tatsächlich gäbe. Außer durch diese beiden Wolkenkuckucksheime reisen wir mit einem etwas obskuren Hamburger Reporter noch kreuz und quer durch zehn weitere Uto- und Dystopien, von der ultimativen Völlerei im Restaurant am Ende der Welt bis zur gemütlichen Münchner Räterepublik unter tropischer Sonne. Am Schluss erfahren wir sogar, was uns im Jenseits erwartet. Wohl zur Überraschung aller Glaubensfanatiker wird es von einer ziemlich tiefenentspannten Runde von Religionsgründern von Moses bis Mohammed verwaltet.

In seine Erkundungen der Unwirklichkeiten fügt Stein immer wieder aktuelle Bezüge: von Trumps Niedergang bis zum Relotius-Skandal. Die Rahmenhandlung spielt während einer tödlichen Pandemie. Doch diesen Gegenwartsbezug habe er vorausgeahnt, beteuert Stein. Das Buch sei vor der Covid-19-Seuche beendet worden.

Eine Reise durch ideologische Luftschlösser und versponnene Traumwelten geführt von einem journalistischen Märchenerzähler – der manchmal durchaus sympathisch ist.

Hannes Stein: Der Weltreporter. Galiani Berlin. Erscheint am 11. Februar 2021

100.000 Jahre ohne Sex

Amazonenkärpflinge (Poecilia formosa) sind eine kleiner Guppy-ähnli­che Fischart aus Nordamerika, die zu 100 Prozent weiblich ist und sich durch Jungfernzeugung vermehrt. Die Töchter entwickeln sich aus unbefruchteten Eiern, sind somit Klone ihrer Mütter. Eigentlich müssten sie ausgestorben sein, denn evolutionär betrachtet hat Klonen gegenüber der sexuellen Fortpflanzung zwei Nachteile. In jedem Erbgut treten irgendwann Fehler auf. Wenn das Genom stets gleichbleibt und nicht aufgefrischt wird, kommen über die Generationen immer neue Erbfehler hinzu, bis es irgendwann keine gesunden Individuen mehr gibt. Außerdem können sich Klone wegen der mangelnder Neukombination ihres Erbguts nicht so schnell an veränderte Umweltbedingungen anpassen. Vermutlich deshalb gibt es sehr wenige Wirbeltierarten, die sich durch Jungfernzeugung vermehren. So zumindest die Theorie. Doch die Amazonenkärpflinge überleben bereits seit über 100.000 Jahren. Jetzt haben Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei herausgefunden, warum die Fischchen so lange auch ohne Gen-Auffrischung durch Sex überleben konnten (Pressemitteilung des IGB vom 11.2.2021). Amazonenkärpflinge sind Hybride, die aus der Verpaarung zweier Arten entstanden sind. Das beutet, jedes Weibchen trägt zwei Garnituren DNA in sich, aus denen es sich wechselweise bedienen kann.

Anders als in der Physik oder Mathematik gibt es in der Biologie keine Regel ohne Ausnahme. Das Leben richtet sich nicht nach starren Formeln, weder beim Amazonenkärpfling noch beim SARS-CoV-2-Virus, noch beim Menschen.

Wenn die Realität die Satire überholt…

Als vor Jahren einige Autoren die These aufstellten, Essen würde von manchen Menschen mittlerweile ähnlich sündhaft empfunden, wie Sex bei den Viktorianern, hielt ich das für übertrieben – für eine satirische Zuspitzung, um einen merkwürdigen Trend zu kritisieren. Sie hatten Recht. Das schlechte Gewissen beim Essen wird nun schon von der Lebensmittelindustrie vermarktet. „Not Guilty“ heißt eine Marke für Fruchtgummis und Marshmallows. Ein Eiweißdrink wirbt mit dem Slogan „Guilt Free Pleasures“. Lustvoll essen war gestern.

Hier geht es zur Webseite von Michael Miersch