Die Ostdeutschen lieben ihre Opferrolle, der Westen will Ruhe für sein Geld. Den Siegeszug der Antidemokraten erklärt die Schriftstellerin Ines Geipel als Spätfolge verpasster Aufarbeitung. Mit ihr sprachen Ellen Daniel und Michael Miersch.

In Ihrem Buch „Umkämpfte Zone“ beschreiben Sie anhand Ihrer Familie, wie aus überzeugten Nationalsozialisten funktionierende DDR-Bürger wurden, ohne dass Aufarbeitung oder gar Reue stattgefunden hätte. Ihr Großvater lebte mit seiner Familie als Besatzungsbeamter in Riga, einem Ort, an dem Tausende Juden erschossen wurden. Ihr Vater spionierte als Stasi-Agent im Westen. Es gab, so schreiben Sie, im Osten Deutschlands eine „Vergessenspolitik“. War diese Vergessenspolitik wirksamer als das Vergessenwollen im Westen?

Die DDR war eine Einschlussgesellschaft, die das Vergessen strategisch behandelte. Die Nachwirkungen der verweigerten Aufarbeitung sowohl des Nationalsozialismus als auch der DDR-Geschichte reichen bis heute. Es gab ja im Osten keine echte Öffentlichkeit, also nicht das, was wir als Diskurs kennen. Für Fragen konnte man auch im Gefängnis landen. Noch dazu fußte die DDR-Diktatur auf einem reinen Opfermythos, durch den auch die ehemaligen Nazis entlastet wurden. So hat man die Leute ins System reingeholt. Diese instrumentelle Geschichtspolitik, die Verzahnung der beiden Diktaturen, sowohl in den Familiengeschichten als auch im politischen System wirkt nach, bis hin zu den explosiven neurechten Dynamiken, die wir heute erleben. 

Dieses sich Festkrallen an der Opferrolle: Ist das der Kern dessen, was die DDR in den Köpfen hinterlassen hat?

Die Opferrolle war die zentrale Entlastungsstrategie des Systems. Wenn man es sich genauer anschaut, gibt es bis heute eine feine politische Naht zwischen Ost und West: Der Osten bleibt das reine Opferkollektiv, egal, was geschieht. Der Westen ist der Dauerschuldner. Schon verblüffend, welche Entlastungserzählungen vor allem auch die Jungen im Osten immer wieder hinkriegen, von den Abgehängten, den Bürgern 2. Klasse, den Kolonisierten, den feindlich Übernommenen. Das wird aufs Heikelste inszeniert. Aber auch für den Westen ist das ja ziemlich bequem.

Den Schmerz des anderen fremd halten

Warum tut der Westen das?

Der Westen ist und bleibt die Nenngröße und verteidigt darin auch sein Fundament. Es gibt ein lang trainiertes Desinteresse, nicht nur an Ostdeutschland, sondern auch an Osteuropa und Russland. Die politischen Synapsen wurden schlicht nicht geknüpft. Man kann sich so diesen politischen und historischen Raum fremd halten, auch den Schmerz des anderen fremd halten. Bei den Solidaritätskundgebungen für Nawalny hier in Berlin sind fast keine Deutschen, nur Russen. Das ist das Bild für ein Symptom. Aber was war und ist der Stalinismus für die Westdeutschen? Ist er in ihren Köpfen und Herzen? Umgekehrt hat der deutsche Völkermord an den Juden im Osten im Grunde vierzig Jahre im Eisschrank gelegen. Umso drängender ist, dass dieses getrennte Gedächtnis endlich aufbricht. Das ist anspruchsvoll, klar, aber wie sonst wollen wir aus den Radikalisierungen herausfinden? 

Warum will man nichts voneinander wissen?

Das Jetzt ist kompliziert. Deshalb gibt es die Sehnsucht nach einer getrennten, weil emotional sortierten Vergangenheit. Bei Lesungen im Western melden sich Zuhörer, die sagen, sie möchten ihre schöne alte Bonner Republik wiederhaben. Man sehnt sich zurück in die Ära Willy Brandt, als die Westdeutschen das Gefühl hatten, sie werden in der Welt wieder als gute Deutsche angesehen. Es gibt da dieses Gefühl aufpassen zu müssen, dass man sich nicht zu viel und vor allem nicht zu genau erinnert. In der DDR wurde über mehrere politische Etagen hinweg eisern geschwiegen, unterstützt durch eine antifaschistische Staatsrhetorik, die das Dritte Reich auf die Kommunistenverfolgung reduzierte. In der BRD ging man in den 70er-Jahren dazu über, sich allzu pauschal die Schuldschuhe anzuziehen. Und in die schlüpft man heute aus Gewohnheit immer noch. Eine Art politischer Reflex, um etwas stabil zu halten, was längst heftig driftet. Das könnte zur Geschichte eines verpassten Abschieds werden.

Ist das Selbstverständnis als Opferkollektiv wirklich eine Ost-Spezialität? Nach dem Krieg sahen sich doch auch viele Westdeutsche als Opfer der Bombardements oder der Vertreibungen. Nach dem Motto: Wir wurden von Hitler betrogen und waren die Leidtragenden. 2002 gab es nochmal eine Welle, in der der Bombenkrieg der Alliierten ein großes Thema war. Da spürte man bei Manchen richtiggehend Erleichterung: Endlich Opfer! Wo genau ist der Unterschied zur Selbstwahrnehmung im Osten Deutschlands?

Im Osten ist die Abwehr erbitterter, wunder, zäher. Es geht ja auch um mehr als 50 Jahre Diktaturgeschichte. Als zählte alles doppelt. Wenn ich heute auf junge Leute aus dem Osten treffe, höre ich immer wieder den Satz: „Ich würde am liebsten Schweizer sein“. Soll sagen, es geht um das unbeschriebene, weiße Blatt. Man will von der Verstrickung der Eltern- und Großelterngeneration nichts hören, man will durch Wissen nicht schuldig werden. Dazu kommt im Osten ein immer stärker werdender antiwestlicher Impuls. Im Westen gab es eine Nachkriegsjugend, die das Schweigen über den Holocaust irgendwann brechen konnte. Es gab einen generationellen Bruch, eine Gegenidentifizierung, was die Eltern anging. Die jungen Ost-Generationen mittlerweile ohne Diktaturerfahrung suchen mehrheitlich die Überidentifizierung mit der Elterngeneration. Junge Intellektuelle schreiben erfolgreiche Bücher, in denen ein neues Ostbewusstsein kreiert werden soll. Selbstbewusstsein ist wunderbar, aber ohne Geschichte? Das kann nicht gut gehen. Es fehlt an einem Koordinatensystem, über das man die doppelte Diktaturgeschichte des Ostens besprechen könnte. Stattdessen bleibt der Osten ein Schwarzes Loch. Opfer? Täter? Egal. Wer kann das schon sagen? Oder es gibt das leidliche Ironiegebot – süffige Ost-Komödien, in denen die Gewaltgeschichte ausgeblendet wird. 

West-Linke blinzelten das Unrecht weg

Diese DDR-Verniedlichung ist auch im Westen beliebt. Die DDR als Spießerland mit altdeutschem Mief, komischen Ritualen und Witzfiguren im Politbüro…

Westdeutsche Feuilleton-Linke haben sich das Unrecht und die Gewalt oft rigoros weggeblinzelt. Die meisten waren zwar nicht von der DDR überzeugt, wollten aber auch nicht so genau wissen, was dort konkret geschieht. 

Sie lebten ab 1989 in Hessen. Auf welches DDR-Bild trafen Sie dort?

Auf eine Banalisierung der Diktatur. Viele verstanden gar nicht, dass die Menschen in der DDR vor allem die Diktatur loswerden wollten. Sie wollten über den besseren Sozialismus und übers Kollektiv nachdenken. Das war die Stimmung an der Uni in Darmstadt, bei den Linken und Linksliberalen, denen ich im Westen begegnete. Wir Ost-Mauerkinder wollten aber kein System reformieren. Es sollte Schluss sein. Wir wollten endlich zur Welt gehören. Deshalb sind wir ja auch weg. Wir wollten nicht mehr dazugehören.   

Waren Ihnen die BRD-Bürger fremd?

In gewisser Weise ja. Die Lebenshaltung war eine völlig andere. Die West-Gesellschaft hatte andere Kodizes. Das Ich und sein Glück. In der DDR gab es kein Ich, da gab es das Kollektiv, in dem der Einzelne zu verschwinden hatte Diese unterschiedliche Seelenlage wird in meinen Augen zu wenig thematisiert. Wir sprechen über Wirtschaftsdaten und Rentenanpassungen, aber zu wenig über die politische und emotionale Entwurzelung des Ostens. Was lange Unfreiheit etwa mit den Menschen macht. 

Heißt das, dass viele in der DDR sozialisierte Menschen mit einer freien und offenen Gesellschaft nicht klarkommen? Gar nicht so leben wollen?

Es ist schwierig mit der Freiheit, wenn du sie nicht kennst. Was ist persönliches Glück? Was heißt Verantwortung? Medial hält sich der Mythos, dass die DDR das wärmere, sozialere System gewesen sei und dass die Westdeutschen nur ihr Ego kennen. Es ist komplexer. Die DDR war eine Gesellschaft ohne Seelenkunde. Die Psychoanalyse war mit Staatsgründung verfemt. Wo sollten die Ostdeutschen denn hin mit ihren traumatischen Erfahrungen, ihrer Trauer, ihrem Schmerz, ihren Gewalterfahrungen? Man hatte das Gefühl, als Einzelner rechtlos sein. Das hängt dieser Gesellschaft bis heute nach. Im Westen ging es schon in der Schule um Outperforming. Du bist, was du darstellst. Das ist dem Osten nach wie vor ziemlich fremd. 

Schweigen auch in den Familien

Das große Thema ihres Buches ist das Verdrängen der Vergangenheit und das Schweigen über Unrecht und Gewalt. Es gibt ja Psychologen, die sagen, dass Verdrängung sehr gesund sein kann. 

Schweigen gehört zum Immunsystem einer Gesellschaft. Nicht jedes Schweigen ist falsch. Es ist ja ein Charakteristikum unserer heutigen übermedialisierten Welt, dass wir von morgens bis abends zugetextet werden und uns fragen: Muss ich das wirklich alles wissen? Aber das meine ich nicht. Ich beschreibe in dem Buch das Schweigekollektiv DDR. Instrumentelles Schweigen, strukturelles Schweigen, politisches Schweigen, Intimschweigen. In dem man auch in den Familien über vieles nicht sprechen konnte, nicht durfte, nicht wollte. Die DDR war 1989 bis in die letzte Pore hinein verschlissen, auch moralisch. Ein Komplettzusammenbruch, wenn es zu viel falsches Schweigen gibt.

Sie sind in einer besonderen Familie aufgewachsen. Ihr Vater war als Stasi-Agent auch auf dem Gebiet der BRD operativ tätig und damit Teil eines exklusiven Zirkels. Sie gehörten als Sprinterin zum Spitzensportkader der DDR. Wie ist es Ihnen gelungen, sich aus diesen Verhältnissen zu emanzipieren und die Distanz aufzubauen, die Sie heute haben?

Diese hochbelasteten Familien haben ja eine ganz eigene innere Taktung. Du weißt es als Kind nicht, aber du entwickelst eine spezielle Seismografik dafür. Du erlebst, wann und wo geschwiegen, gehüstelt, weggeblickt, geschlagen wird. Du bist ja drinnen. Als ich 14 war, nahm die Stasi-Karriere meines Vaters so richtig Fahrt auf und ich musste in ein Internat im Thüringer Wald, kein Sport-Internat, ein Sprachen-Internat. Natürlich habe ich das erstmal nicht gewollt. Wer will schon mit 14 weg von zu Hause? Aber ich war damit raus aus der Familie, und das war im Nachhinein meine Rettung. Als das System 1989 implodierte, war ich im Westen, also auch draußen. Es ist schon ein Unterschied, wo du bist, wenn etwas implodiert. Vielleicht geht es ja am Ende immer auch Landgewinn.

Der gefälschte Mythos Buchenwald

Nach Ihrer Darstellung stand am Anfang der DDR-Staatsgründung ein Schweigepakt zwischen zwei Fraktionen: Die Kommunisten, die aus Moskau zurückkamen, wo sie erlebt hatten, wie die meisten ihrer Genossen von Stalins Schergen ermordet wurden. Und die Kommunisten, die das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatten. Was war da passiert?

Es ist doch auffällig, dass die Moskauer im April 1945 sofort die Führung übernahmen, obwohl sie die zahlenmäßig deutlich kleinere Gruppe waren. Das hatte vor allem mit Stalin zu tun, aber auch, weil die Moskauer etwas über die Buchenwald-Kommunisten wussten, was keiner wissen sollte. In Buchenwald hatten deutsche Kommunisten als sogenannte rote Funktionshäftlinge mit der SS kooperiert, etliche sogar das sogenannte Abspritzen, die Ermordung von Juden und anderen Häftlingen übernommen. Ein giftiges Wissen, das die Moskauer strategisch nutzen konnten, denn sie hatten die Buchenwald-Leute damit in der Hand und auch die Macht darüber, auf welche Weise die Buchenwald-Geschichte zur Staatsdoktrin aufgebaut werden konnte. Der deutsche Kommunist als der alleinige Held gegenüber dem Nationalsozialismus wurde dabei zum zentralen Mythos. Eine erstaunlich haltbare Lüge.

Wie wirkte sich das auf die DDR-Gesellschaft aus?

Die Staatsführung hatte das Problem, vor dem Hintergrund der deutschen Katastrophe die Ostdeutschen für den Aufbau des Kommunismus zu begeistern. Eine Gesellschaft, die zu großen Teilen aus traumatisierten Wehrmachtssoldaten, Nazis und Nazi-Mitläufern bestand, beherrscht von Kommunisten, denen der Stalin-Terror das Rückgrat gebrochen hatte. Wie sie das gemacht haben? Einerseits durch ein Angstsystem, vor allem in den frühen DDR-Jahren, durch Willkür, Verrat, Morde. Andererseits durch die Staatsräson des Antifaschismus, die jedem DDR-Bürger das Angebot machte, sich als Opfer fühlen zu können. Wir sind die Guten, weil die Nazis sind ja alle weg und nun im Westen. Mit dieser Entlastung hat sich die Partei die Bevölkerung loyal gemacht. 

Die Repression in der DDR war eine andere als unter Stalin. Es gab keine Massenerschießungen und keinen Gulag, Günter Grass sprach später verniedlichend von der „kommoden Diktatur“. Dennoch funktionierte die Unterdrückung. Warum? 

Die DDR war ein durchherrschtes, versiegeltes System. Angst machte vor allem auch die Willkür. Der eine wurde eingesperrt, weil er zu lange Haare hatte, der andere kam davon. Bis auf den Diktator selbst konnte es jederzeit jede und jeden treffen. Das hat die Menschen hochkarätig verformt. Die DDR war aber auch eine ausgesprochen indirekte Gesellschaft. Camouflage, Verstecken, Verbergen, Lügen, um zu überleben, viel Uneigentliches, Einkapselungen, nach innen gehende Referenzräume – diese schwere gesellschaftliche Betäubung, dieses inwendige Mauersystem kriegen wir nur schwer erzählt. 

DDR als Sehnsuchtsort der AntiFa

Der Satz, „Es war nicht alles schlecht“, ist ja vielfach in satirischer Absicht benutzt worden. Denken viele ganz ernsthaft so?

Die Erzählung, dass die DDR letztlich der gute antifaschistische Staat war, erfährt vor allem durch die jüngeren Ost-Generationen immer neue Auflagen. Diese Haltung: „Egal was wir tun, wir sind die Guten, die Opfer, doch die Zukurzgekommenen“ ist ein hartnäckiges Narrativ, das die historische Forschung über DDR-Unrecht und Gewalt wie Teflon abperlen lässt. Das sind dann am Ende nur noch westliche Propagandalügen. Ich beobachte eine schleichende Postlegitimierung der DDR, bei der die mehr als drei Millionen Opfer von DDR-Unrecht gar nicht erst in den Blick kommen.

Da mangelt es auch an Aufklärung, oder? Dass in Buchenwald die Kommunisten mit der SS kooperiert haben, ist nach wie vor so gut wie unbekannt. 

Die Legende vom edlen Antifaschisten ist sicherlich der am stärksten affektiv besetzte, politische Mythos im Osten. Bei meinen Lesungen steht eigentlich fast immer jemand auf und sagt: „Tja, Frau Geipel, schön und gut, aber das mit dem Antifaschismus, das haben wir doch wenigstens gut hingekriegt. Aber dann kam der Westen und hat uns auch den noch weggenommen“. Das ist das seelische Fundament des Ostens. Das will man sich nicht kaputt machen lassen. Ein MDR-Journalist sagte kürzlich zu mir: „Hören Sie auf damit. Da kommt eh keine Luft dran.“

Ist das der Boden für die rechts-autoritären Strömungen, die die links-autoritären in den ostdeutschen Bundesländern größtenteils überholt haben?

Es ist sicherlich komplizierter. In der westlichen Öffentlichkeit herrscht noch immer die Illusion: Wenn man nur genug Geld in den Osten pumpt, wird sich das schon irgendwie zurechtruckeln. Aber diese Strategie hat sich nicht bewährt. In den vergangenen fünf Jahren sind die politischen und mentalen Unterschiede noch einmal stärker geworden. Die letzten Studien sagen, dass sich vor allem die Generationen ohne Diktaturerfahrung eine rechtsautoritäre Diktatur herbeiwünschen. Im Alter von 15 und 30 Jahren sind es knapp 16 Prozent, die das wollen, im Westen für dasselbe Alter stattdessen nur zwei Prozent. Das sind gravierende und auch alarmierende Unterschiede. Wir schauen nervös auf die materielle Infrastruktur, aber was ist mit der immateriellen? Für die Infrastruktur der Seelen ist uns nicht wirklich was eingefallen.

Rechtspopulismus und Sehnsucht nach autoritärer Führung sind aber nicht spezifisch ostdeutsch. Das gibt es in allen europäischen Ländern – und auch in den Vereinigten Staaten, wo eine wütende Menge sogar das Capitol stürmte.

Die Geschichte raucht noch

Keine Frage, politischer Populismus ist ein globales Phänomen. Aber es ist auch kein Zufall, dass in Ostdeutschland eine rechtsautoritäre Ideologie auf besonders fruchtbaren Boden fallen kann. Autoritäres Denken, historische Derealisierung, Ausgrenzung von Fremdem – das ist nicht etwas von gestern, sondern hat tiefe Wurzeln in der Vergangenheit. Unter den AfD-Anhängern, mit denen ich gesprochen habe, waren viele, die politische Repression in der DDR direkt erlebt haben. Viele wollten fliehen, saßen im Knast, sind freigekauft worden. Manchen gelang die Flucht oder die Ausreise, sie studierten im Westen, kamen nach 1989 zurück und fanden ihren Platz in der neuen Gesellschaft nicht mehr. Sie fühlen sich heute gedemütigt und haben in der „gärigen“ AfD ihren Resonanzraum. 

Wie erklären Sie sich, dass auch unter den ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern eine ganze Reihe Sympathie für die AfD äußert?

Wir sprechen immer von Bürgerrechtlern der DDR und vergessen, dass sich unter diesem Label von Beginn an eine komplizierte Szene vereinen konnte. Die Mehrheit ist auch heute politisch ganz klar, aber schon bei den Leipziger Montagsdemonstrationen waren nationale, auch rechtsradikale Stimmen mit auf der Straße. Und so mancher Bürgerrechtler hatte eben ein anderes Deutschland vor Augen als das, in dem er heute lebt. Eines, das sich nach der Wende nicht komplett durchkommerzialisiert hat. Daher die Verbitterung und Desilllusionierung. Wenn schon der renommierteste Psychoanalytiker des Ostens Hans-Joachim Maaz (der 1990 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau“ die Gefühlslage der Ostdeutschen sehr klar kartographierte) das Boot verlässt, ist das ein Schlag. Tja. Unsere Biografien sind verschlungen. Wir hocken alle in der Geschichte und sind in ihr heillos verstrickt. Die Geschichte raucht noch, würde der Leipziger Schriftsteller Erich Loest wohl dazu sagen. Am Ende des Tages steht im Zentrum dieser schwer umkämpften Zone letztlich doch immer der Begriff Realitätsverweigerung.

Wenn die Lebensbilanz mau ausfällt …

Inwiefern Realitätsverweigerung? 

Leute wie ich waren beim Fall der Mauer Mitte, Ende 20. Jetzt sind wir Mitte, Ende 50 und stellen vielleicht fest: Die Welt ist damals für dich aufgegangen, aber du hast nichts oder wenig draus gemacht. Die Bilanz ist mau. Warum? Da müsste man seine blinden Flecken, Knoten, Umwege, Kompromisse anschauen. Man kann es sich aber auch bequem machen und mit Leuten marschieren, die hinter jeder Kränkung und hinter jedem Scheitern den großen Betrug wittern. 

Was wird von Ostdeutschen typischerweise als „maue Bilanz“ empfunden?

Das ist sicher sehr subjektiv. Der eine hat das Lebensziel, seine innere Lebendigkeit zu verteidigen und lebt in einer Sekte in Spanien. Der andere braucht Status und dicke Autos. Und geht es nicht eigentlich oft genug um Anerkennung, wenn es um die Bilanz geht? In meinem sozialen Umfeld hier in Berlin beobachte ich, dass zum Beispiel Leute mit richtig guten Jobs im Kulturbetrieb, mit riesigen Wohnungen und einem beinah dekadenten Lebensstandard plötzlich entdecken, wie bitter sie als Ostmenschen abgezockt wurden. Dahinter steckt etwa die Kränkung, dass sie eigentlich Künstler werden wollten, aber doch nie gemalt oder geschrieben haben. Nun ja. So ist halt das Leben. Nicht alles gelingt.

Die Deformationen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, wurzeln tief und werden in Ihren Augen auch nicht bearbeitet. Was bedeutet das für die Politik?

Dass der erste AfD-Ministerpräsident ein greifbares Szenario ist. Er steht als der weiße Elefant im Raum. Die AfD hat sich den Osten als politisches Experimentierfeld organisiert, und das wird für längere Zeit so bleiben. Die AfD sagt ja auch ganz unverblümt: Wenn es dem Land schlecht geht, geht es uns gut. Im Moment sieht es so aus, als ob die AfD die Pandemie zumindest im Osten erneut für sich nutzen kann. Die enorm hohen Covid-19-Todeszahlen traumatisieren. In der ersten Welle hatte Sachsen kaum Infizierte, jetzt in der zweiten Welle kommt das Krematorium in Dresden nicht mehr hinterher. Das dürfte sich demnächst auch politisch niederschlagen.

Was kann man dagegen tun, dass die östlichen Länder zum Homeland der AfD werden?

Mir fällt nur ein, insbesondere die Jungen in den politischen Raum zu holen. Es geht letztlich auch um konkretes Wissen: Was ist Demokratie? Wie funktioniert sie, was kann sie leisten – und was nicht? Die öffentliche Erzählung heißt, die Jungen haben mit der Diktatur ja nichts mehr am Hut. Sie kennen nur die Einheit und Merkel. Aber diejenigen, die um 1989 geboren wurden und ihre Kindheit und Jugend in einer völlig deregulierten Gesellschaft gelebt haben, haben eine starke Diktaturzeichnung. Sie haben viel pure Gewalt erlebt und sind in einer faschisierten Gesellschaft sozialisiert worden. Sie haben keinerlei Schuld, aber Verantwortung. Ich denke, das wäre wichtig: sie von der Schuld zu entkoppeln, die durch die Ostgesellschaft wabert. Sie sollen ihr eigenes Leben leben können. 

Gewalt hinterlässt Unordnung

Es gibt die Vorstellung von der DDR, in der man seine unpolitische Nische beziehen und glücklich sein konnte. Viele populäre Filme und Bücher gehen in diese Richtung. Konnte man in der DDR ehrlich undglücklich sein, oder nur entweder – oder?

Die Nischen-Erzählung ist auch eine Entlastungserzählung. Klar, gab es das Bier auf der Wiese, die Liebe, die Datsche, all das. Aber eine Diktatur zur Dauernische zu machen, heißt vor allem: bloß nicht hinschauen, bloß nicht drüber reden, was konkret in den Familien passiert ist, wo die viele Gewalt stattgefunden hat. Deshalb ja auch ständig die Forderung nach den „Grautönen“. Aber blendet man das Schwarz und das Weiß aus, also, das, was einem System im Extrem möglich war, kommt am Ende nur Matsch raus. Das Bier, die Liebe, die Datsche gab es auch im Nationalsozialismus. Aber niemand würde den Nationalsozialismus allein aus der Bierperspektive erzählen. Da wäre doch klar, dass irgendwann mal das Grauen mit am Kneipentisch sitzt. 

Im Buch beschreiben Sie eine Szene, die sich in Ihrer Kindheit wiederholt abspielte: Ihr Vater hat Sie und Ihren Bruder körperlich schwer misshandelt. Nicht im Affekt, sondern in einer verstörenden, ritualisierten Form. Was glauben Sie: Welche Funktion hatte das für ihren Vater? Für Ihre Eltern? 

Diese Szene ist im Buch zuallererst ein Stellvertreter. Wenn man die systematische Gewalt der ausgebildeten Stasi-Leute kennt, ist klar, worum es dabei geht. Jedenfalls nicht um irgendwelche Backpfeifen. Es ging mir dabei nicht um Voyeurismus. Familie wird erzählt, um das Politische daran zu untersuchen und die Engführung von Intimem und historischem Raum, im Versuch, das Sanktuarium zu durchbrechen. Welche unbesprochenen Mythen lagern noch immer in den Generationen und finden nach wie vor keine Sprache, keinen Umgang? Warum ist die Kriegsenkelgeneration, also meine Generation, heute die Kernwählerschaft der AfD? Warum lassen sich die Diktaturlosen derart aufladen? Ich wollte mich in diesen Binnenraum hineinschreiben, mich dabei noch einmal auf diese sehr deutsche Wand zubewegen, mit dem Risiko, dass ich da nicht durchkomme. Ist nun mal so, dass ich in dem Buch viel vom Schweigen schreibe, um letztlich im Schweigen zu landen. Das muss ich hinnehmen. Viel Gewalt hinterlässt nun mal viel Unordnung. Das ist so. Sie ergibt keinen Mehrwert. Dennoch war das Buch nicht umsonst. Wir reden ja hier drüber.

Ines Geipel: „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“, Klett-Kotta, Stuttgart, 277 Seiten