Wie der Old Shatterhand aus Radebeul unterhält Oskar Lafontaine sein Publikum mit Rührgeschichten über die Ausbeutung der „edlen Wilden“ aus der Dritten Welt, die er mit Grenzen vor Spekulanten schützen will. In Wahrheit will er sich und seine Fans vor unliebsamer Konkurrenz schützen.

Es geht um die Dritte Welt … und wie man zeigt, dass man auch dann ein guter Mensch ist, wenn man ihren Aufstieg in die erste Liga verhindern will. Bei Oskar Lafontaine taucht sie auf, wenn es darum geht, den linken Nationalismus gegen den bösen Neo-Liberalismus zu verteidigen. Eine ominöse Welt wie aus einem Computerspiel, amorph und pixelig wie Minecraft, besiedelt mit merkwürdigen Kreaturen, die mal Freunde, mal Feinde sind, aber immer irgendwie unheimlich, denn in Wahrheit sind die Hungerleider aus Asien und Afrika für einen echten Ethnopluralisten wie Lafontaine eine Gefahr, auch wenn er sich zu ihrem Fürsprecher aufschwingt.

Das hört sich dann so an: „Der grenzenlose „Freihandel“ etwa mit den afrikanischen Staaten schadet deren Landwirtschaft, weil wir hoch subventionierte europäische Agrarprodukte dort zu Dumpingpreisen verkaufen.“, sagte er in einem Interview mit der Welt. „Wir brauchen einen fairen Handel. Und die Unternehmer befürworten freizügigen Personenverkehr, um in den Entwicklungsländern qualifizierte Arbeitskräfte abzuwerben und durch verstärkte Zuwanderung die Lohnkonkurrenz zu verschärfen“ – mit anderen Worten: Bleibt uns vom Halse!

Lafontaine ist der neue Karl May. Einer, der die „Wilden“ sehr gut kennt, obwohl er sie zuvor nie gesehen hat und der trotzdem besser weiß, was für sie gut ist als sie selbst: Sie sollen möglichst zu Hause bleiben und nicht auf die Idee kommen, als „Fremdarbeiter“ (Lafontaine 2005 in Chemnitz) die deutschen Arbeitsmärkte zu penetrieren.

Nun hat es Lafontaine nicht einfach, denn auf der anderen Seite – etwa bei Alt-Right, Le Pen, AfD oder der neuen antideutschen Rechten aus der Bahamas-Fraktion – behauptet man das gleiche, nur mit leicht verändertem Tonfall, härter und unverfrorener, aber in der Sache identisch. Wir haben es also mit einem Wettrennen zu tun, wer als erster die Tore schließt, die Globalisierung stoppt und die Migranten in ihre Favelas zurückschickt. Wer als erstes Europas politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheit zerstört und durch ein loses Bündel konkurrierender Nationalstaaten ersetzt. Weil Europa schon genug Fremdheit, Verwirrung und Unordnung gestiftet hat.

Hass auf das Latte-Macchiato-Establishment

Eine wichtige Rolle spielen dabei die von Verbitterung und Wut auf das Establishment gezeichneten Modernisierungsverlierer in diesem neuen Europa: Jene 20 oder vielleicht 30 Prozent, die nicht zwischen den Hauptstädten hin- und herjetten, die nicht in coolen Büros mit Englisch als Businesssprache arbeiten, die nicht in hochglanzgebügelten Latte-Macchiato-Kiezen zwischen Briten, Holländern, Spaniern und Skandinaviern eine aufregende Existenz wie in einem Lifestyle-Katalog führen ­– mit einem Wort, Menschen ohne Anschluss an die neuen Verkehrsformen urbaner Weltläufigkeit, aber in dem Bewusstsein, dass das mal von Nachteil sein könnte. Diese wütenden Verlierer prägt weniger die Sorge um ihre Existenz, als vielmehr Neid und Missgunst auf die neue kulturimperialistische Elite. Und während sich viele dieser Abgehängten von ihren Parteien abgewandt haben, legt Lafontaine einen kleinen Spurt auf der rechten Überholspur vor, um sich hoffentlich noch rechtzeitig an die Spitze des Zugs aus Fackeln und Mistgabeln zu setzen, ehe dort allein die Höckes und Bachmanns das große Wort führen.

Ohnehin ist Vorsicht angesagt, wenn das Wort „fairer Handel“ auftaucht, denn meist dienen solche Wohlfühlvokabeln aus den Tausch-Kreis-Seminaren der Volkshochschule Radebeul nur der Pflege des eigenen Gewissens, ein therapeutisch tiefenwirksamer Seelenbalsam für gestresste Zivilisationsopfer – oder eben wie ein Band von Karl May. Wobei nichts gegen Kaffee aus eritreischen Bauern-Genossenschaften, Schrottskulpturen aus Nigeria oder Bengali Curry Schokolade einzuwenden ist, dennoch wäre es völlig o.k., wenn man den Produzenten selbst überlässt, wie und womit sie Handel treiben wollen – in der Regel nicht mit irgendwelchem Ethno-Schnickschnack. Auch das ist Freihandel!

Lafontaines Kenntnisse des Freihandels sind dagegen lückenhaft und von ideologischer Voreingenommenheit geprägt. Keineswegs ist es so, dass Freihandel die afrikanischen Staaten nur zu Müllhalden der hochsubventionierten Exportwirtschaft Europas macht. Vielmehr schafft ein gemeinsamer Markt Direktinvestitionen, die schneller und effektiver die wirtschaftliche Infrastruktur der AKP-Staaten (die ehemaligen Kolonialstaaten) stärken, als es die alten und oft korrupten Eliten vermochten, und sie somit fit für den globalen Markt machen. Tun es nicht die Europäer, werden es die Chinesen tun ­– mit weit weniger Ambitionen bei der Entwicklungshilfe als wir. Schon jetzt betätigt sich China als Großinvestor in Afrika, bei der Agrarwirtschaft als auch bei seltenen Erden.

Europäische Krankheit der Subventionitis

Natürlich gehört es dazu, sich gleichzeitig von der europäischen Krankheit der Subventionitis zu befreien – insbesondere der hochgradig malignen Form der europäischen Agrarsubventionen. Zum Glück sind die Zeiten passé, wo deutsche und französische Bauern auf EU-Kosten mit intensiver Landnutzung und gleichzeitiger Nitrat-Verunreinigung des Grundwassers den Maximalertrag aus jedem Quadratzentimeter Boden herausquetschten. Die Butterberge und Milchseen verklappte man in die Dritte Welt, zerstörte dort die einheimischen Märkte und nannte das dann Entwicklungshilfe. Heute geht der Trend zu extensiver Wirtschaft. Schön wäre es, wenn Subventionen nur noch dann gewährt werden, wenn sie zu Flächenstilllegung führen und aus Bauern Landschaftspfleger machen. Wer sich weiterhin als Bauer betätigen möchte, kann dann immer noch die wachsenden Nachfrage nach Bio-Produkten bedienen. Das schafft Raum für Billig-Importe aus der Dritten Welt.

Denn selbstverständlich ist – entgegen der Auffassung von Lafontaine – Freihandel auch zwischen wirtschaftlich unterschiedlich aufgestellten Partnern zum gegenseitigen Vorteil möglich. Das Stichwort lieferte David Ricardo mit dem „komparativen Kostenvorteil“. Handel kann auch dann eine Win-Win-Situation produzieren, wenn einer der Partner über Kostennachteile verfügt. Denn nicht die absoluten Produktionskosten sind entscheidend, sondern die relativen Kosten zueinander. In der Summe bilden sie einen Vorteil für beide. Vereinfacht gesagt: Die Länder sollten sich vor allem auf jene Güter spezialisieren, die sie selbst am günstigsten herstellen können. Zum Beispiel Afrika Nahrungsmittel, die angesichts der Lohnstandards in Europa nur mit erheblicher Subventionierung konkurrenzfähig gehalten werden können und Europa umgekehrt Halbfertigprodukte, die Afrika mangels entsprechender Ressourcen nicht produzieren kann. Mit der Zeit werden sich die Märkte bei Preisen und Produkten angleichen. Klar, dass es dabei in der Alten Welt zu Verwerfungen kommt, die jedoch in eine Dynamik zur Verbesserung der Produktivität münden. Wer wie Lafontaine oder Trump die Märkte abschotten will, den Heizer auf E-Lok unbedingt behalten möchte, schafft bestenfalls Sicherheit auf Zeit, langfristig jedoch Verkrustungen, die von dynamischeren Volkswirtschaften irgendwann aus dem Weg geräumt werden.

Kapital geht zur Arbeit

Das gleiche gilt für die Arbeitsmärkte. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Unternehmer sich von Lafontaines Versuchen, den „freizügigen Personenverkehr“ zu beschränken, abschrecken lassen. Die Lohnkonkurrenz besteht auch mit Grenzen und wenn die Arbeit nicht zu uns kommen darf, geht das Kapital eben zur Arbeit wie schon millionenfach geschehen – egal welche Kapitalverkehrskontrollen Lafontaine einrichten möchte. Auch hier gilt Ricardos Grundsatz, dass die internationale Arbeitsteilung immer nach dem Prinzip der niedrigeren Opportunitätskosten funktioniert.

Sozial ist es ohnehin nicht, denn die ewige Leier von der Ausbeutung der Dritten Welt dient unter dem Strich nur der Etablierung ungleicher Verhältnisse im Weltmaßstab – verlogen bis zur letzten Faser des in Bangladesch gefertigten Billig-T-Shirts. Denn was hier als schändliches Lohndumping verurteilt wird, ist in Fernost möglicherweise die einzige Chance, überhaupt ein Leben führen zu können. Wobei sich durch den Freihandel die Lebensverhältnisse schrittweise verbessern, wie Zahlen beweisen. Aber auch da gibt sich Lafontaine als verständnisvoller, aber letztendlicher desinteressierter Anwalt der Dritten Welt. Einfühlsam wie Karl May, aber ahnungslos, wenn nicht sogar bösartig.

Einsam im Rentnerland!

Bleibt als letzte Frage, wie sich Lafontaine in Zukunft ein soziales Leben in einem Wohlfahrtstaat Deutschland ohne Migration vorstellt. Schon heute wird klar, dass ohne Zuzug in unsere Sozialsysteme, ohne Zuzug in den Arbeitsmarkt, ohne Zuzug in strukturschwache Regionen ganze Landstriche veröden mit Kleinstädten, in denen sich kein Investor mehr blicken lässt, kein Vereinsleben mehr existiert, keine Schulen, keine Einkaufsläden, keine Kindergärten. Rentnerland! Das Rentenkonzept der Linken liest sich jedoch wie ein Wunschkonzert aus dem ZK der SED. Das Rentenniveau bei 53 Prozent vom durchschnittlichen Gehalt, die Beiträge bei unter 25 Prozent. Die Rente mit 67 wieder abgeschafft und nach 40 Jahren kann jeder abschlagsfrei den Hammer niederlegen. Doch angesichts niedriger Geburtenraten bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung ist unklar, wer das finanzieren soll. Eher wird man wohl intelligentes Leben auf dem Mars entdecken.

Offene Grenzen und wohlgemerkt gesteuerte Migration, zu der die Flüchtlinge einen erheblichen Beitrag leisten, sind nicht nur eine Frage der Humanität, sie haben vor allem mit Logik zu tun. Aber mit Logik kommt man bei den Populisten bekanntlich nicht weit. Sie setzen wie Lafontaine eher auf Karl May!