Vor gut vierzig Jahren hat Wolf Biermann ein Gedicht geschrieben, dessen Bedeutung in einem Wort zusammengefasst werden kann: Weltliteratur. Es ist das Lebenslied unseres in Amerika lebenden Autors geworden.

Vorbemerkung: Am 26 Oktober hielt ich eine Laudatio auf Wolf Biermann, dem an diesem Abend im Foyer der Deutschen Bank in Berlin der Preis des Aspen Institute Deutschland verliehen wurde. Ich sprach frei, es gibt also kein Manuskript. An dieser Stelle möchte ich meine kleine Lobrede aus dem Gedächtnis rekonstruieren, damit sie nicht verlorengeht.

UND ALS WIR ANS UFER KAMEN

Und als wir ans Ufer kamen

Und saßen noch lang im Kahn

Da war es, dass wir den Himmel

Am schönsten im Wasser sahn

Und durch den Birnbaum flogen

Paar Fischlein. Das Flugzeug schwamm

Quer durch den See und zerschellte

Sachte am Weidenstamm

–      am Weidenstamm

 

Was wird bloß aus unsren Träumen

In diesem zerriss’nen Land

Die Wunden wollen nicht zugehn

Unter dem Dreckverband

Und was wird mit unsren Freunden

Und was noch aus dir, aus mir

Ich möchte am liebsten wegsein

Und bleibe am liebsten hier

–      am liebsten hier

Sechzehn lässig gereimte Zeilen. Sechzehn Zeilen, die sich ziemlich genau im Raum und der Zeit festmachen lassen: Sie stammen vielleicht aus der Mitte der Siebzigerjahre – die russischen Panzer hatten schon den Prager Frühling niedergewalzt. Wolf Biermann und seine Freunde waren also schon um eine Illusion ärmer, aber er war doch immer noch noch ein gläubiger Kommunist. Der Kahn, in dem die Liebenden in diesem Gedicht sitzen, schaukelt auf de Wellen des Möllensees bei Berlin; das Ufer gehört zu dem Grundstück von Biermanns engstem Freund, dem Regimekritiker Robert Havemann, in Grünheide. Und der poetische Trick, der Grundeinfall des Gedichts ist so überzeugend wie einfach: Im Wasser des Sees spiegelt sich der Himmel – im Himmel über dem See aber spiegelt sich das zerrissene Deutschland.

So. Und jetzt möchte ich Ihnen, wenn Sie gestatten, erzählen, was mir neulich mit Biermanns Versen in Amerika passiert ist. Dazu müssen Sie wissen, dass ich vor zehn Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert und seit gut fünf Jahren amerikanischer Staatsbürger bin. Ich bin nur Amerikaner – und sonst gar nichts. Ich habe keinen anderen Pass.

Der Traum von einer Republik

Also: Wir erleben gerade an der Ostküste einen goldenen Herbst. Blitzblaue Himmel, mildes Licht. Im Hudson Valley brennt der Herbst in den Blättern der Bäume sein Feuerwerk ab. Die Eltern eines sehr lieben Freundes von uns haben ein Grundstück am Ufer eines Sees in New Jersey, des Oscawana Lake. (Ich merke mir diesen Namen immer mit „Oskar-Werner-Lake“, damit merken Sie gleich, wo ich aufgewachsen bin und welcher Generation ich angehöre.) Zu diesem Grundstück gehört ein Elektroboot. Unser Freund, meine Frau, unser kleiner Sohn und ich tuckerten ein bisschen auf dem See herum; mein Sohn hatte eine orange Schwimmweste an. Und dann tuckerten wir zurück zum Steg. Und dann … ahnen Sie schon, was jetzt kommt? Richtig: Just in diesem Augenblick flog ein Flugzeug über den See weg, und sein Bild spiegelte sich im Wasser. Nun, es standen keine deutschen Weiden herum. Es gab auch keinen Birnbaum. Es war amerikanischer Mischwald. Aber mir kamen natürlich trotzdem sofort Biermanns Verse in den Sinn:

Und als wir ans Ufer kamen

Und saßen noch lang im Kahn

Da war es, dass wir den Himmel

Am schönsten im Wasser sahn …

 

Was wird bloß aus unsren Träumen

Nun sind Wolf Biermanns Träume nicht meine Träume. Ich bin kein Kommunist, sondern ein langweiliger Liberaler – ein Wort, das Sie bitte nicht mit „liberal“ ins Englische übersetzen sollen. Ich gehöre also mehr zur radikalen Mitte.

Aber auch ich habe Träume. Etwa den Traum, den Martin Luther King in seiner Rede beschwor – eine der größten Reden, die meimer Meinung nach je gehalten wurden. „I have a dream.“ Der Traum von einer Republik, in der die Farbe der Epidermis endlich keine Rolle mehr spielt.

Wie Sie vielleicht wissen, hielt Dr. King seine wunderbare Rede vor dem Monument, das dem Andenken unseres größten Präsidenten gewidmet ist. Auch dieser Präsident hatte einen Traum: „… that the government of the people, by the people and for the people shall not perish from the earth“.

Was wird bloß aus unsren Träumen

In diesem zerriss’nen Land

Zerrissen – zwischen den „blue states“ an den Küsten, die demokratisch wählen, und den „red states“ in der Mitte. Zerrissen zwischen Stadt und Land. Zerrissen zwischen Schwarzen und Weißen. Zerrissen zwischen arm und reich. Zerrissen zwischen jenen 35 Prozent meiner Landsleute, die den Mann im Weißen Haus weiterhin großartig finden, und dem Rest von uns.

Die Wunden wollen nicht zugehn

Unter dem Dreckverband

Ich war gerade in Montgomery, Alabama. Dort können Sie die Stelle unten am Fluss anschauen, wo damals die Sklavenschiffe ankamen. Und Sie können die Hauptstraße entlanggehen, wo die Sklaven in Ketten durchgetrieben wurden. Und Schilder weisen darauf hin, wo die Sklaven verkauft wurden, neben Kühen und Schweinen – wo schwarze Väter, Mütter von ihren Kindern getrennt wurden. Sehr sympathische Leute, die der „Equal Justice Intiative“ angehören, bauen in Montgomery gerade das erste Denkmal für die Opfer der Lynchjustiz in den Vereinigten Staaten. Ich habe es mir angeschaut und kann Ihnen versichern: Es wird ein sehr eindrucksvolles Monument. Manche von Ihnen kennen vielleicht das schöne traurige Lied, das Billy Holiday berühmt gemacht hat: „Southern trees bear a strange fruit …“ Gleichzeitig stehen in Montgomery natürlich weiterhin Reiterstandbilder herum, die Robert E. Lee und andere Vaterlandsverräter glorifizieren, die im Bürgerkrieg für die Südstaaten gekämpft haben. Die Wunden wollen nicht zugehn.

Und was wird mit unsern Freunden

Und was noch aus dir, aus mir

Und ich gestehe: Seit dem 9. November 2016 ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich Immobilienanzeigen google. Was kostet eigentlich ein Haus in Vancouver, Canada? Aber würden die Kanadier uns in ihr schönes Land reinlassen? Also: Was kostet ein Haus in Haifa, der langweiligsten Stadt des Nahen Ostens? (Das meine ich natürlich als höchstes Lob: Im Nahen Osten eine langweilige Stadt zu sein – das ist eine große zivilisatorische Leistung!) Die Israelis müssen uns schließlich nehmen, wie wir sind, nebbich. Ach, übrigens: Was kostet  ´ne Wohnung in Berlin?

Aber die Wahrheit ist: Wir gehen nicht weg. Meine Frau ist Anwältin, die fände anderswo nicht so leicht einen Job. Mein kleiner Sohn geht in die „preschool“, und es wäre ein Verbrechen, ihn aus seiner vertrauten Umgebung herauszureißen. Und ich? Ich denke gar nicht daran, das Sternenbanner Stephen Bannon und seinen Volksgenossen zu überlassen. Die Konföderiertenflagge – die können sie meinetwegen haben. Das Sternenbanner nicht.

Also kurz und gut:

Ich möchte am liebsten wegsein

Und bleibe am liebsten hier

Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Dieses deutsche Gedicht, das Wolf Biermann vor gut vierzig Jahren geschrieben hat – unter völlig anderen Zeitumständen, man könnte beinahe sagen: in einer anderen Epoche, und in einem Land, das es nicht mehr gibt – dieses deutsche Gedicht ist mein amerikanisches Lebenslied geworden.

Erwähnenswert ist das nur aus einem einzigen Grund. Angenommen, morgen bekommt jemand in Kenia diese sechzehn lässig gereimten Verse in die Hand. (Ich weiß ganz wenig über Kenia.) Vielleicht in einer exzellenten Übersetzung. Dann wird dieser Kenianer vielleicht sagen: Wow! Woher weiß dieser … wie hießt er gleich: Biermann … das von mir?

Weltliteratur

Das ist übrigens immer das kennzeichnende Gefühl bei der Begegnung mit großer Kunst: Woher weiß der das von mir? Mir geht es zum Beispiel jedes Mal so, wenn ich Mozarts „Requiem“ höre: Woher kennt dieser Mozart meine Todesfurcht? Dabei bin ich noch nicht einmal katholisch!

Und sollten wir uns in fünfhundert Jahren nicht gegenseitig mit Atombomben von der Erdoberfläche geblasen haben, was möglich ist, und sollte es dann noch einen Menschen geben, der diese wunderschöne Sprache kann – Deutsch –, dann wird dieser Jemand die sechzehn Verse des Wolf Biermann lesen und denken: mea res agitur. Auf deutsch: Woher weiß der das von mir?

An dieser Stelle möchte ich nun kurz Hegel zitieren. (Wenn man in Berlin zu Besuch ist, darf man Hegel zitieren, er hat schließlich nicht weit von hier gelehrt.) Also: Georg Wilhelm Friedrich Hegel sagte in seinen Vorlesungen zur Ästhetik:

„Der ästhetische Rang eines Kunstwerks bemisst sich am Grad seiner Universalisierbarkeit.“

Damit wir das alle verstehen, sage ich es jetzt gleich noch einmal:

„Der ästhetische Rang eines Kunstwerks bemisst sich am Grad seiner Universalisierbarkeit.“

Damit ist keineswegs gemeint, dass es die Aufgabe des Dichters sei, universale Wahrheiten zu verkünden. Nein, nein! Der Dichter muss über das Eigene schreiben: über das, was ihn unmittelbar angeht, also über sich selbst, über seine Epoche. Aber wenn es ihm gelingt, dabei etwas zu formulieren, was von universaler Gültigkeit ist – dann schafft er das, was Goethe mit einem von ihm geprägten Wort „Weltliteratur“ nannte.

Ich hätte Ihnen in dieser Rede lang und breit von Wolf Biermanns Leben erzählen können, aber das hat Biermann in seiner glänzenden Autobiographie viel besser getan, als ich es je könnte. Darum habe ich Ihnen heute Abend nur von diesem Gedicht gesprochen. Ich wollte Ihnen zeigen: Sogar wenn Wolf Biermann in der DDR und hinterher nicht die gute Rolle gespielt hätte, die er gespielt hat – und sogar, wenn er nie in seinem Leben etwas anderes geschrieben hätte als diese sechzehn lässig gereimten Verse: dieses Gedicht ist, ganz im goethe’schen Sinne, Weltliteratur. Und darum hat er einfach schon dafür den Preis des Aspen Institute verdient.

Masal tow, Se’ew!