Wie rechts ist Lindners FDP?
Christian Lindner hat die Führung der FDP in ihrer dunkelsten Stunde übernommen und sie wieder erfolgreich gemacht. Und dabei bisweilen auch rechte Ressentiments bedient, sagen manche Kritiker. Unser Gastautor Jan Schnellenbach widerspricht.
Hat die FDP in den vergangenen Monaten einen Rechtsruck hingelegt? Das kommt ganz drauf an, wen man fragt. Selbst in Kreisen, die den Liberalen traditionell gewogen sind, unter Volks- und Betriebswirten, klaffen die Meinungen weit auseinander, wie man zuletzt auf Twitter nachlesen konnte. Mein Kollege Paul Hünermund etwa, Professor an der Universität von Maastricht, verortet die Partei mittlerweile rechts der CDU.
Die FDP ist mit vielen Positionen, die sie vertritt, teils rechter als die CDU. Mit echten Zentrismus, für einen breiten Querschnitt der Bevölkerung (nicht nur weiße Männer über 50), hat das leider – und ich betone leider – wenig zu tun.
— Paul Hünermund (@PHuenermund) August 3, 2019
Aus meiner Sicht ist die Unterscheidung zwischen Links- und Rechtsliberalismus sinnlos. Der Kern liberalen Denkens ist immer die Erhaltung und wo es möglich ist, auch die Ausweitung individueller Freiheit. Das bedeutet natürlich nicht, dass man als Liberaler in einer regellosen Welt leben möchte.
Auch Liberale können manchmal von der Notwendigkeit der einen oder anderen Einschränkung individueller Freiheit überzeugt werden. Aber solche Überzeugungsarbeit sollte doch mühsam und auch meist vergeblich sein, wenn sie an einen Liberalen gerichtet ist, der den Wert der Freiheit hoch einschätzt.
Nun könnte man einwenden, dass es zumindest zwei Freiheitsbegriffe gibt und dass sich Links- und Rechtsliberale vielleicht nur dadurch unterscheiden, welchen Freiheitsbegriff sie für wichtiger halten – die einen die positive, die anderen die negative Freiheit. Während negative Freiheit einen Zustand beschreibt, in dem man keinem äußeren Zwang ausgesetzt ist, beschreibt positive Freiheit (oder wie Amartya Sen es nennt: „substantive liberty“) eine Ausstattung mit Ressourcen und Fähigkeiten, die einem erst Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
Der Begriff der positiven Freiheit ist schillernd und wird sehr verschieden interpretiert. So nimmt etwa Amartya Sen eine vor allem ökonomische Perspektive ein. Es geht ihm darum, eine ausreichende Ausstattung mit Humankapital und materiellen Ressourcen zu sichern. In modernen Wohlfahrtsstaaten wird das durch Umverteilungssysteme mehr oder weniger zielsicher und mehr oder weniger effizient erreicht.
Paternalistische Interventionen
Andere Autoren als Sen gehen weiter und nutzen den Begriff als Einfallstor für paternalistische Interventionen. Frei im positiven Sinne ist aus dieser Perspektive nur, wer in der Lage ist, ein selbstbestimmtes und vernünftiges Leben zu führen. Und wer in irgendeiner Form unvernünftig scheint, dem kann man zur positiven Freiheit verhelfen, indem man ihn zwingt.
So hört man dann aus dem Lager, das sich linksliberal nennt (ohne eigentlich liberal zu sein) auch oft Rufe nach Verboten und autoritären Anleitungen zum guten Leben. Es ist heutzutage kaum möglich, auch nur einmal eine Ausgabe der „Zeit“ zu lesen, in der nicht nach Einschränkungen individueller Freiheit gerufen wird.
Der Wunsch, schnell Auto zu fahren, die Präferenz für ein gutes Steak, der Anspruch, über einen größeren Teil des eigenen Bruttoeinkommens selbst verfügen zu wollen, all das erscheint manch einem Verfechter positiver Freiheit als widersinnig. Denn wer wirklich im positiven Sinne frei ist, wer also Einsicht in das hat, was vernünftig ist und nicht mehr Sklave seiner Launen und spontanen Wünsche ist, der könne doch all das nicht wirklich wollen.
Isaiah Berlin, der oft irrigerweise als intellektueller Vater der positiven Freiheit gehandelt wird, sieht die Gefahren eines positiven Freiheitsbegriffs in seinem Essay Two Concepts of Liberty bereits sehr klar. Er sieht in der positiven Freiheit vor allem ein Einfallstor für Versuche, rationalistische Gesellschaftsentwürfe aus einem Guss zu implementieren, welche die Heterogenität individueller Wünsche und Lebensentwürfe unter die Räder kommen lassen und die eigentliche, die negative Freiheit ungebührlich einschränken:
„Pluralism, with the measure of ’negative‘ liberty that it entails, seems to me a truer and more humane ideal than the goals of the ideal of ‚positive‘ self-mastery by classes, or peoples, or the whole of mankind. it is truer because it does, at least, recognize the fact that human goals are many, not all of them commensurable, and in perpetual rivalry with one another.“
Und:
„Everything is what it is. Liberty is liberty, not equality or fairness or justice or culture, or human happiness, or a quiet conscience.„
Liberalismus, der die individuelle (negative) Freiheit als besonders schützenswert betrachtet, kann und will mit dem Pluralismus der Interessen und Wünsche der Mitglieder einer Gesellschaft gut leben. Ein solcher Liberalismus weiß, dass, eine Gesellschaft mit individueller Freiheit keine Harmoniesucht befriedigt, sondern immer zu einer, wie Ralf Dahrendorf es nannte, Konfliktgesellschaft führen wird. Aber die Konflikte, die in pluralistischen Gesellschaften mit einem hohen Grad individueller Freiheit ausgetragen werden, sind produktiv. So hält der Liberale die Offenheit der weiteren Entwicklung, die sich aus dem Fehlen einer großen, harmonischen Gesellschaftsvision ergibt, nicht für ein Problem, sondern für ein Versprechen.
Trotzdem sind Liberale sich natürlich der Tatsache bewusst, dass eine liberale Gesellschaft keine Anarchie ist. Nehmen wir beispielsweise die Frage der Umverteilung von Einkommen. Milton Friedman trat für eine negative Einkommensteuer ein, die Steuern und Transfers in einem System vereint. Friedrich von Hayek schlug in seiner „Verfassung der Freiheit“ ein durchaus großzügiges System der sozialen Absicherung vor.
Aber Liberale bekommen keine nervösen Zuckungen, wenn der Gini-Koeffizient einen Anstieg der Einkommensungleichheit anzeigt. Der Sozialstaat dient für sie der Absicherung von Einkommensrisiken, aber nicht der Durchsetzung von materiellen Gleichheitszielen. Liberale können mit Ungleichheit gut leben, solange auch die Mitglieder der Gesellschaft, die Pech hatten, ausreichend versorgt sind.
Wenn man individuelle Freiheit, also klassische, negative Freiheit als Leitmotiv liberalen Denkens akzeptiert, wird die Unterscheidung zwischen Links- und Rechtsliberalismus eigentlich sinnlos. Man muss dann in den Mühen des politischen Alltags von einer liberalen Partei nur erwarten, dass sie vom Status Quo ausgehend konsequent bestehende Freiheitsspielräume verteidigt und diese, wo es realistisch möglich ist, auch vergrößern will.
Damit wären wir zum Schluss wieder bei der FDP, deren angeblicher Rechtsruck der Anlass der Diskussion und dieses Beitrags war. Natürlich ist man als Liberaler mit der FDP mal mehr, mal weniger zufrieden – gerade auch wenn es um ihre Fähigkeit geht, in Koalitionen liberale Politik wirklich durchzusetzen. Aber zumindest ist erkennbar, dass in konkreten politischen Fragen individuelle Freiheit meist das Kriterium ist, dem das höchste Gewicht zukommt. Und das ist schon nicht wenig.
Wie liberal sind die Linksliberalen?
Auch die angebliche Spaltung in Wirtschafts- und Bürgerrechtsliberale sehe ich so nicht. Es werden beide Säulen, die Wirtschafts- und die Gesellschaftspolitik, jeweils von Spezialisten beackert, die zueinander nicht im Widerspruch stehen, sondern sich ergänzen. Ein solider Bürgerrechtsliberalismus schwächt schließlich den wirtschaftspolitischen Liberalismus nicht, sondern ergänzt ihn. Wenn nun im Moment in der Öffentlichkeit das Interesse stärker auf die Wirtschaftspolitik gerichtet ist, dann stellt eine stärker die wirtschaftsliberalen Positionen betonende Programmatik aber sicher keinen Rechtsruck dar, oder gar eine Abkehr vom Bürgerrechtsliberalismus. Denn auch dieser wird ja weiter sehr aktiv betrieben, steht aber gerade weniger im Scheinwerferlicht.
Der Vorwurf eines Rechtsrucks scheint wenig plausibel. Und denen, die sich linksliberal nennen, aber tatsächlich mit dem Vorrang individueller Freiheit ein Problem haben und sich auf Varianten positiver Freiheit kaprizieren, möchte man dagegen raten, den Mut aufzubringen, sich offen als Sozialdemokraten zu bekennen. Denn das ist keine Schande und die Sozialdemokratie braucht sie.
Jan Schnellenbach ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus (BTU).