Gerade haben die Schulen wieder geöffnet, da droht die dritte Coronawelle, Familien mit Kindern im Schulalter zurück in Homeoffice und Homeschooling zu zwingen. Experten aus dem Bildungsbetrieb werden nicht müde, die damit verbundenen Gefahren für die Bildung zu betonen. Dabei steckt im Lockdown eine Bildungschance.

Bereits während der ersten Corona-Welle, im April 2020, äußerte sich der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger besorgt um die Zukunft der Schulkinder: bei einer unveränderten Fortführung des Homeschooling könne „rund ein Viertel der Schüler leistungsmäßig dauerhaft abgehängt“ werden. Im Januar diesen Jahres stimmte die Kultusministerkonferenz in die Sorge ein. Die ausgesetzte Präsenzpflicht und der Distanzunterricht in Schulen über einen längeren Zeitraum bleibe „nicht ohne negative Folgen für die Bildungsbiographien“, heißt es im KMK-Beschluss vom 4. Januar.

Um das drohende Unheil abzuwenden, finden sich Kinder und Eltern im Lockdown in einem Spagat zwischen Homeoffice und Homeschooling. Lehrer verschicken stapelweise Arbeitsblätter, die pünktlich ausgedruckt, bearbeitet und abgegeben werden sollen. Überforderte Schulserver für den Distanzunterricht brechen unter der Last der Videoverbindungen und Anfragen zusammen. Die Kinder haben verständlicherweise keine Lust auf den Zirkus und sehnen sich nach ihren Freunden. Und die Eltern sind mit der Rolle aus Aushilfslehrer überfordert. Nicht zuletzt, weil sie sich selbst oft kaum an etwas von dem erinnern, was sie in der Schule einmal laut Lehrplan gelernt haben.

Was bei der Panik um zerstörte Bildungsbiografien und Kinderbetreuung allerdings vergessen wird, ist, dass das Abarbeiten von Schulaufgaben etwas sehr anderes ist als Bildung. Nicht nur bringt das erzwungene Verfolgen eines Lehrplans keinen Bildungserfolg. Es verhindert individuelles und damit nachhaltiges Lernen. Denn was nicht aus eigenem Interesse gelesen, geschrieben oder gerechnet ist, davon bleibt nach Klassenarbeiten und Abschluss ohnehin nur ein lebloser Schatten.

Schulen gleichen Fabriken

Wie der Kreativitätsforscher Ken Robinson in einem mittlerweile berühmten TED-Talk betonte, entstanden die Strukturen unseres öffentlichen Schulsystems im Kontext und nach dem Vorbild der industriellen Revolution. Noch heute gleichen Schulen Fabriken, in denen Kinder, nach Herstellungsdatum sortiert, dieselben Verarbeitungsprozesse durchlaufen: unter Menschen, die sie sich nicht ausgesucht haben, müssen sie sich Antworten auf Fragen merken, die sie nie gestellt haben. Und wehe ein Kind interessiert für etwas anderes als die aufgezwungenen „Bildungsangebote”. Schlechte Noten, Versetzungsgefährdung, fehlender Abschluss drohen — kurz: die Gefahr aussortiert zu werden und damit die erhoffte Zukunft als Pilotin, Zugführer oder Feuerwehrfrau nie erleben zu dürfen. Die allgegenwärtige Drohung „Zurückzubleiben“ stellt zwar die Erreichung des Klassenziels nach Lehrplan sicher. Für die Bildung ist sie pures Gift.

Die Abrichtung junger Geister zu folgsamen Sachbearbeitern ist tief in unserer kollektiven Vorstellung von Kindheit und Jugend verankert. Als Kind geht man zur Schule, alle lernen das Gleiche, Lehrer sind qua Amt Autoritäten. Dieses Bild von Bildung fußt auf der Annahme, dass Kinder nur unter Druck etwas lernen, Fragen von außen vorgegeben werden müssen und Schüler eines Jahrgangs am Ende eines Schuljahrs das gleiche wissen müssen, um die sogenannte Allgemeinbildung zu erlangen. Der Rahmenlehrplan für die Klassen 1 bis 10 des Landes Berlin zum Beispiel legt fest, „welche Anforderungen Schülerinnen und Schüler erfüllen müssen, um erfolgreich von der Grundschule zur weiterführenden Schule überzugehen und um ihren gewünschten schulischen Abschluss zu erreichen”, wie Bildungssenatorin Sandra Scheeres in der Einleitung schreibt. In der Sektion zum Sachunterricht wird gleich zu Beginn klargestellt, welche Fragen von Kindern in den Jahrgangsstufen 1 bis 4 erwartet werden: „Warum ist es in der Nacht dunkel? Wie sahen die Dinosaurier aus? Wie leben Kinder in anderen Ländern? Weshalb haben Vögel Federn? Wie funktioniert ein Handy? Wozu brauchen wir eigentlich Geld? Wann dürfen wir mitbestimmen?

Das sind allesamt spannende Fragen. Nur sind es eben nicht die Fragen, die auch nur ein Teil einer Klasse je zeitgleich in den Unterricht mitbringen würde. Was, wenn die siebenjährige Marie sich gerade für Flugzeuge begeistert? Und der neunjährige Jakob für Regenwürmer? Könnten sie beide im Unterricht diesen eigenen Interessen Folgen. Nein, da ist schließlich laut Lehrplan grad etwas anderes dran.

Dabei ist die Forschungslage zur Bedeutung individueller Neugier für den Bildungserfolg eindeutig. „Eine riesige Zahl empirischer Studien […] hat die positiven Auswirkungen von Neugier und Interesse auf eine Vielzahl von Lernergebnissen wie Selbstregulation und akademische Leistung gezeigt“, fassen etwa die Lernpsychologen Kou Murayama, Lily FitzGibbon und Michiko Sakaki die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte im Fachmagazin Educational Psychology Review zusammen.

Lehrplan um jeden Preis

Forschungsarbeiten wie die der Bildungsforscherin Susan Engel belegen, dass Schulunterricht nach Plansoll den tiefen Quell der Bildung, die Neugier, systematisch trockenlegt. Engel konnte unter anderem nachweisen, dass die Neugier von Kindern mit dem Eintritt in die Schule radikal abnimmt. An einer amerikanischen Vorstadt-Grundschule untersuchte ihr Team, wieviele Fragen Kinder verschiedenen Alters im Klassenzimmer stellten. Das Ergebnis: schon die jüngsten Schulkinder stellten in einem Zeitraum von zwei Stunden nur zwei bis fünf Fragen. In der fünften Klasse gab es bereits zweistündige Abschnitte, in denen die 10- und 11-Jährigen ihrer Lehrerin keine einzige eigene Frage stellten. „Jeder Kita-Erzieher weiß, dass Kinder im Alter von 18 Monaten bis 5 Jahren unersättlich nach Informationen sind“, schreibt Engel in einem Essay im Magazin Creativity. „Doch irgendwie schwindet die tiefe Neugier, die ihnen in den ersten fünf Lebensjahren so viel Wissen brachte, sobald die Kinder zur Schule gehen.“ Dem Guardian berichtete Engel von einer Episode, in der eine Neuntklässlerin im Unterricht fragte, ob es irgendwo auf der Welt einen Ort gebe, an dem die Menschen keine Kunstwerke schaffen. Die Lehrerin unterbrach das Kind mitten im Satz: „Zoe, keine Fragen bitte, es ist Zeit zu lernen.“

Einem religiösen Ritual gleich soll auch im Lockdown um jeden Preis der Lehrplan eingehalten werden. Ein Grund für den aufdringlichen Eifer mag sein, dass es dem Selbstverständnis des Schulsystems und seiner Träger nicht gut anstünde, sollte sich herausstellen, dass ein verpasstes Schuljahr die mentalen Fähigkeiten und die Allgemeinbildung von Kindern nicht beeinträchtigt oder sogar fördert.

In einem Land mit Schulpflicht und Lehrplan böte der Lockdown die seltene Gelegenheit, Kinder für ein paar Wochen oder Monate beim Erforschen ihrer eigenen Fragen zu unterstützen. Das Einzige, was es bräuchte, ist weniger Respekt vor der heiligen Kuh des Schulsystems. Eltern sollten sich vor Augen führen: ihren Kindern fehlt nicht etwa die Lehrerin, das Klassenzimmer oder der Lehrplan. Ihnen fehlt der Kontakt zu den Menschen, die ihre Interessen teilen, ihren Freunden. Das ist schlimm genug. Lassen wir ihnen zumindest ihre Fragen!