Was sich so in meinem Notizbuch angesammelt hat – 29. November 2018

Ein Freund, der in der Schweiz Professor ist, schreibt mir mit Blick auf einen Eintrag in der vergangenen Folge des „Books of Kells“, in dem es um die Titelhörigkeit der Deutschen geht: „Nach meiner Wahrnehmung bekommt man in der Schweiz mit einem akademischen Titel keine besondere Behandlung mehr, allenfalls noch Ärzte.“ Diese Beobachtung bestätigt meinen Eindruck, dass die Schweiz in mancherlei Hinsicht erwachsener ist als Deutschland, weswegen dort auch, anders als es vermutlich in Deutschland der Fall wäre, die direkte Demokratie funktioniert. Den Gegenpol bildet in dieser Hinsicht Österreich. Wenn ich Briefe an Österreicher schreibe, beginnen die nicht selten mit der Anrede „Sehr geehrter Herr Magister…“

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Wann begannen Politiker eigentlich, bei Gesetzentwürfen die oft sperrigen aber korrekten Überschriften durch einfach klingende aber unpräzise Werbeslogans zu ersetzen? Damit soll wohl Bürgernähe demonstriert werden, es verbirgt aber mehr als es erklärt und wirkt nicht selten unfreiwillig komisch. So konnte man kürzlich lesen, der Bundestag habe über das „Pflegeprsonal-Stärkungsgesetz“ beraten. Man fragt sich unwillkürlich, ob wohl den Erschöpften Malzbier verabreicht werden soll. Das Zeug zum Klassiker hat mit seiner unvergleichlichen Kombination aus Sinnlosigkeit und sprachlicher Unschärfe das „Gute-Kita-Gesetz“. Mir scheint hier ein grundlegendes Missverständnis vorzuliegen: Gesetze sind keine Werbeplakate. Mit solchen Überschriften erzeugt man keine Bürgernähe, sondern liefert nur unnötigerweise denen Munition, die die Bürger glauben lassen wollen, Politik sei leicht und banal.

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Viele Fachleute auf den verschiedensten Gebieten ärgern sich darüber, dass sie in den Massenmedien kaum zu Wort kommen, und falls doch einmal, dass sie böswillig missverstanden werden und ihnen das Wort im Munde herumgedreht wird. Ich habe solche Erfahrungen auch schon gemacht, kann mich aber in jüngster Zeit nicht beklagen. So haben mich zum Beispiel im Wahljahr 2017 viele Journalisten um meine Meinung gefragt, meinen Antworten zugehört und diese auch korrekt veröffentlicht. Aber es gibt aufschlussreiche Kürzungen. Im Mai 2017 sagte ich in einem Interview mit dem Konstanzer „Südkurier“: „Der Fall Wulff hat gezeigt, dass wir dringend eine Debatte über journalistische Ethik brauchen. Die Massenmedien haben einen enormen Einfluss auf die Meinungsbildung (…). Aus dieser Verantwortung ergeben sich Pflichten, etwa zu einer möglichst distanzierten und neutralen Berichterstattung im Sinne der Maxime von Hanns-Joachim Friedrichs, sich ‚nicht gemein zu machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten’.“ Im September 2017 schrieb ich in einem Beitrag für die FAZ mit Blick auf die damals zahlreichen Klagen von Journalisten, der Wahlkampf sei zu langweilig: „Es ist jedenfalls nicht die Hauptaufgabe der Politik, die dramaturgischen Bedürfnisse der Redaktionen zu befriedigen.“ Und ebenfalls im September 2017 antwortete ich in einem Interview für die „Welt“ auf die Frage, ob nicht Wahlumfragen wegen ihres möglichen Einflusses auf das Wählerverhalten verboten werden müssten, dass wenn ein solcher Einfluss Grund genug für ein Verbot sei, ich als erstes das Verbot jeglicher Fernseh- und Zeitungsberichterstattung vor Wahlen fordere. Alle drei Passagen mussten leider, leider aus den Veröffentlichungen herausgestrichen werden, Platzmangel, ich würde schon verstehen. Aber natürlich. Ich verstehe schon.

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Die FDP wird erst an dem Tag dauerhaft gerettet sein, an dem es der FAZ gelingt, einen Artikel über sie zu veröffentlichen, in dem sie nicht wenigstens einmal als „FPD“ bezeichnet wird.

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Zu den Seltsamkeiten der Gegenwart gehört, dass mehr Menschen Angst vor Konservierungsmitteln im Essen haben als vor der Gefahr, durch verdorbene Lebensmittel krank zu werden. Nur in einer derart ahnungslosen Gesellschaft können Fernsehköche bestehen, die beim Stichwort „Konservierungsmittel“ in demonstrative Empörung verfallen und dann im nächsten Moment Unmengen von Zitronensaft ins Gulasch träufeln.

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Vorsicht vor Menschen, die lautstark Gerechtigkeit fordern. Fast immer bedeutet das, dass sie sich über das Recht hinwegsetzen oder wenigstens das Geld anderer Leute einstecken wollen.

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Bei vielen Deutschen ist gegenüber Amerika (wie übrigens auch bei vielen Ostdeutschen gegenüber Westdeutschland) eine seltsame Underdog-Arroganz zu beobachten, nämlich die Einstellung: Die mögen vielleicht reicher und mächtiger sein als wir, aber dafür haben sie keine Kultur. Auch hier hilft die eigene Anschauung über Vorurteile hinweg: Wer einmal eine nahezu beliebige amerikanische Stadtbücherei betreten, deren Nutzer beobachtet und dies mit einer ebenfalls nahezu beliebigen Bücherei in einer gleich großen deutschen Stadt verglichen hat, dürfte von solchem kulturellen Hochmut gründlich geheilt sein.

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Elternabend in der Grundschule, Ende der dritten Klasse. Die Lehrerin berichtet, dass zwei Drittel der Kinder nicht richtig lesen und schreiben können. Sie verkündet, dass sich die Schule nicht darum kümmern könne und dass gefälligst die Eltern ihren Kindern das Lesen und Schreiben beibringen sollten. Dann berichtet sie über umfangreiche und zeitraubende Programme, mit denen die Schule den Kindern in der nächsten Zeit „Sozialkompetenz“ vermitteln wolle. Nach den Vorstellungen zeitgemäßer Pädagogik ist es also die Aufgabe der Schule, die Kinder zu erziehen, während es die Aufgabe der Eltern ist, sie zu bilden. Ich empfehle deswegen, künftig die schulische Infrastruktur samt Bibliothek, Tafeln und Sekretariat in die Elternhäuser zu schaffen und umgekehrt die Kinderbetten in den Klassenräumen aufzustellen. Und dann will ich keine Klagen mehr hören über sozial bedingte ungleiche Bildungschancen.

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Was ist der Unterschied zwischen einer Lobby und einer NGO? Das Anliegen letzterer wird von den Journalisten befürwortet.

 

 


Thomas Petersen berichtet in der Reihe „Mein Books of Kells“ in unregelmäßigen Abständen über das, was sich über die Jahre in seinem Notizbuch angesammelt hat. Die „Mein Book of Kells“-Reihe kann hier nachgelesen werden.