Für die Sozialdemokraten ist die Europawahl eine Katastrophe mit Ansage. Ein wesentlicher Grund: Die Analyse der Wahlschlappe von 2017 war völlig falsch.

Sie mühen sich, aber es ist vergebens: Die beiden SPD-Spitzenkandidaten Katarina Barley, und Udo Bullmann mögen viele Wahlkampfauftritte absolvieren, aber sie treffen den Nerv der möglichen SPD-Wähler nicht. Wie sich die europäische Politik auf die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie auswirken wird, ist kein Thema. Wie es in Essen-Altenessen oder Duisburg-Marxloh aussehen wird, wenn weitere Balkanstaaten in die Union aufgenommen werden und Menschen aus diesen Staaten zuwandern oder welche Folgen der Austritts Großbritanniens auf die hiesigen Finanzen haben könnte, ist ihnen kaum ein Wort wert. Stattdessen reden sie, angesichts der nach wie vor eher überschaubaren politischen Bedeutung des Europaparlaments arg übertrieben, von einer Schicksalswahl. Und natürlich sind da die Erasmusbabys von denen Barley schwärmt, die Kinder, die von studentischen Teilnehmern des akademischen Austauschprogramms Erasmus gezeugt wurden, die sich an Universitäten auf dem ganzen Kontinent kennen und lieben gelernt haben.

Nur die, die an den Bändern bei VW, Mercedes oder BMW arbeiten, haben keine Erasmusbabys. Sie begannen mit 16 eine Ausbildung und fingen an zu arbeiten. Sie finanzieren Programme wie Erasmus, sie nutzen sie nicht.

Für Barley und Bullmann spielen diese Menschen kaum noch eine Rolle. Und das ist kein Zufall. Der weitgehend wirkungslose Gute-Laune-Wahlkampf der SPD, der durch den geringen Bekanntheitsgrad der Spitzenkandidaten nicht schwungvoller wird, hat einen Verantwortlichen: Den Werber und Politikberater Frank Stauss. Und er hat eine Grundlage: Die Analyse der SPD nach der verlorenen Bundestagswahl 2017.

In der heißt es:

„ArbeiterInnen spielen quantitativ im Elektorat keine bedeutende Rolle mehr, dennoch  gelten sie noch immer als Gradmesser, wie es um die SPD steht. Während in den 50er-Jahren noch etwa jede/jeder zweite Erwerbstätige ArbeiterIn war, war es 2015 nicht mal mehr jede/jeder Vierte. Schon seit 2009 ist die Union unter den Arbeitern die stärkste Partei und nicht mehr die SPD, wie es bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 noch der Fall war.“

Gewerkschaften spielen demnach auch keine große Rolle mehr:

„Auch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist längst kein Garant mehr, die SPD  zu wählen. In den Jahren 1990 bis 2005 bekam die SPD von  gewerkschaftlich organisierten WählerInnen in Westdeutschland noch mehr als 50 Prozent der Stimmen. Seit 1998 bröckelte diese traditionelle Beziehung und unter Gewerkschaftsmitgliedern kam die SPD nur noch auf 36 Prozent (2009) und 39 Prozent  (2013). In beiden Jahren profitierten davon vor allem Linkspartei (14 Prozent 2009) und Union (32 Prozent 2013). Bei der Bundestagswahl 2017 kam die AfD unter westdeutschen Gewerkschafterinnen auf 14 Prozent. Die SPD holte nur noch 31 Prozent, gefolgt von der Union mit 24 Prozent. Auch unter gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen kam die SPD 2017 auf ihr bisher schlechtestes Ergebnis. Allerdings zeigen Studien auch, dass sozio-demografische Merkmale, besonders aber die berufliche Stellung politische Einstellungen weniger stark beeinflussen, als landläufig – und von vielen politischen Strategen – angenommen. Die meisten milieuorientierten Ansätze werden dieser Erkenntnis gerecht: Zuweilen zeigt sich, dass die/der Fließbandarbeitern der/dem verbeamteten Akademikerin politisch nähersteht als der/dem DachdeckerIn. Dass die junge Kassiererin politische Einstellungen mit dem Rentner teilt, aber nicht unbedingt mit der gleichaltrigen Erzieherin. Kurzum: Die Idee, es gäbe noch ein gemeinsames Verständnis der Arbeiterklasse, erscheint in diesem Licht schlicht veraltet.“

Die Zitate stammen alle aus der Analyse der verlorenen Bundestagswahl 2017 und die wurde von einer SPD-Arbeitsgruppe, die aus Jana Faus, Horand Knaup, Michael Rüter, Yvonne Schroth und Frank Stauss bestand, erarbeitet. Jana Faus ist Geschäftsführerin der Politikberatung Pollytix, Horand Knaup berichtete für das „Spiegel“-Hauptstadtbüro über die SPD, Michael Rüter ist Sozialwissenschaftler, war für die SPD in verschiedenen Parteifunktionen aktiv und arbeitete schließlich für das rot-grün regierte Land Niedersachsen und wurde 2017 von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) kurz vor der vorgezogenen Landtagswahl wegen einer Vergabe-Affäre entlassen. Yvonne Schroth ist Mitglied der Forschungsgruppe Wahlen, einem Verein, der ausschließlich aus Mitteln des ZDF finanziert wird und die ausgelagerte Umfrageeinheit der Anstalt ist. Und Frank Stauss ist Mitinhaber der der Agentur Richel, Stauss. Bevor er sich selbständig machte, bestritt er als Werber für die Agentur Butter zahlreiche Wahlkämpfe für die SPD – seine neue Agentur arbeitet ebenfalls für die Sozialdemokraten und betreute beispielsweise die SPD-Wahlkämpfe in Nordrhein-Westfalen 2017 und in Hessen 2018.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Stauss durch sein Buch „Der Höllenritt“ bekannt, in dem er den letzten Wahlkampf des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder beschrieb. Anfangs weit abgeschlagen gelang Schröder, wohlgemerkt mehrere Jahre nach den HartzIV-Reformen, eine fulminante Aufholjagd: Am Wahlabend lag er und die SPD mit 34,22 Prozent auf Augenhöhe mit der CDU, die mit ihrer Spitzenkandidatin Angela Merkel 35,2 Prozent holte. Durch sein arrogantes Auftreten während der Elefantenrunde von ARD und ZDF schaffte es Schröder allerdings, die mühsam erkämpften Sympathien innerhalb weniger Minuten wieder zu verspielen.

Gabriel ist schuld

Am Ende wurde Merkel zur Kanzlerin einer großen Koalition von CDU und SPD, die ihren Namen auch noch verdiente: Beide Parteien verfügten zusammen über deutlich mehr Stimmen im Bundestag, als für eine Zwei-Dritte-Mehrheit erforderlich wären. In Nordrhein-Westfalen war Stauss 2017, damals noch bei Butter, für den Wahlkampf von Hannelore Kraft verantwortlich, der ebenfalls, wenn sicher nicht vor allem wegen der Werbung, in einem Desaster endete: Die SPD verlor NRW an die CDU, Hannelore Kraft wurde abgewählt und die Union stellte mit Armin Laschet den neuen Ministerpräsidenten – womit die Vorentscheidung der vier Monate später stattfindenden Bundestagswahl gefallen war.

Spätestens nach der NRW-Wahl 2017 glaubte niemand mehr an einen Wahlsieg der SPD, es ging nur noch darum das Ausmaß der Katastrophe in Grenzen zu halten, was SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz auch gelang: Mit 20,5 Prozent waren die Sozialdemokraten wenigstens nicht unter die 20-Prozent-Marke gefallen. Was damals ein Desaster war, wäre heute ein Erfolg für die Sozialdemokraten, die im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale in Berlin, fröhlich die Sektkorken knallen lassen würden.

Stauss war im Vorfeld gefragt worden, ob er für den damaligen SPD-Vorsitzenden und wahrscheinlichen Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel den Wahlkampf machen wollte, aber weil die Chemie zwischen beiden nicht stimmte, kam das Geschäft zwischen der SPD und Stauss´ damaliger Agentur Butter nicht zustande.

Und so kommt es, dass die Analyse zur Niederlage bei der Wahl nicht nur zu dem Ergebnis kommt, dass Arbeiter und kleine Angestellte für die SPD keine Rolle mehr spielen, sondern dass der Hauptgrund für die Niederlage 2017 Sigmar Gabriel gewesen sei. Er habe immer wieder den Wahlkampf gestört. Klar, einer wie Gabriel, der bei seinem Antritt gesagt hatte „wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“ steht für eine andere SPD, als es der Truppe um Stauss vorschwebt.

Stauss setzt auch heute, in einer Zeit, in der die SPD in allen Umfragen deutlich unter 20 Prozent liegt, auf das, was er am besten kann: Einen inhaltsleeren Wahlkampf, der an den Sorgen der meisten Menschen, die einmal SPD gewählt haben, vorbei geht. Seine SPD ist eine der Szenequartiere, der Akademiker, derjenigen, denen es gut geht. Es ist eine SPD für Menschen, die keine SPD brauchen.

Natürlich kann man so einen Wahlkampf machen. Aber dann darf man sich nicht wundern, wenn man am Abend des 26. Mai im Willy-Brandt-Haus in Berlin traurig in die Kameras schaut.