Die Universitätsstadt Marburg möchte in jeder Hinsicht vorbildlich
sein: grün, erneuerbar, fahrradfreundlich und neuerdings auch im Klimanotstand. Doch manchmal kommt das ziemlich autoritär daher. Eine Momentaufnahme aus der deutschen Provinz.

Die Universitätsstadt Marburg ist eine reiche und glückliche Stadt. Ihr größter Arbeitgeber ist die Universität, ihr zweitgrößter ein Unternehmen der Pharmaindustrie. Es gibt eine idyllische Innenstadt, drumherum grüne Wälder.

Nicht mehr atmen

Marburg war uni-bedingt auch immer schon eine Hochburg des  grün-alternativen Denkens. In der Weidenhausener Straße hängen immer noch die Anti-Atom-Fahnen der 1980er aus den Fenstern, und im Sommer wurde der „Klimanotstand“ ausgerufen.

„Bis zum Jahr 2030 soll es eine Reduzierung der CO2-Emissionen in der Stadt auf null geben“ meinte die Oberhessische Presse dazu in einem Anfall von erderhitzungs-bedingter Umnachtung – , denn das würde bedeuten, dass die Marburger ab 2030 nicht mehr atmen dürfen. Wahrscheinlich hatte das Blatt das Ziel der CO2-Neutralität im Sinn. Doch illustriert die Stilblüte, dass der Klimanotstand keinesfalls mit einem tieferen Verständnis der Materie unter denen einhergeht, die ihn propagieren. 

Was bedeutet „Klimanotstand“?

Im Einzelnen bedeutet ein Klimanotstand nichts anderes, als dass alle Stadtratsbeschlüsse und Verwaltungsakte, die nicht mit dem Ziel der CO2-Reduktion kompatibel sind, kassiert werden können. Ein „Klimabeirat“ soll darüber wachen. Das wirft Fragen über Zielkonflikte und die Zukunft der städtischen Demokratie auf, denn dieses Grenium wurde nicht von den Bürgern gewählt. Einige Vorhaben sind schon bekannt: Die Stadt will die Windkraft vor ihren Toren massiv ausbauen und auf jedes Dach Solarpanele setzen. Hauseigentümer und Unternehmen können sich also auf Eingriffsversuche in ihre energetische Haushaltung gefasst machen.

Reaktionäre Idylle

Visuell unters Volk gebracht wird diese Entscheidung seit letzter Woche mittels einer reaktionären Idylle, die großformatig in der Innenstadt plakatiert wurde. Wir sehen Stadtkrone, Hügel und glücklich müll-trennende Kinder. Alle Menschen zusammen tragen den klimatisch geläuterten Erdball, wie auf einer stalinistischen Wandmalerei. 

Eine erdverbundene sanfte Frau pflanzt kniend-dienend Blumen in den hessischen  Mutterboden, Seit an Seit mit einem bärtig-maskulinen Macher-Mann, der tatkräftig Windräder und PV-Anlagen montiert, als hätte diese Stadt noch nie was davon gehört, dass es sogar in Deutschland Ingenieurinnen gibt.

Die Fahrradstadt

Und natürlich ist das grüne Marburg auch eine Fahrradstadt. Doch mein Fahrradfahrerinnen-Dasein in Marburg ist nicht rosig. Es gibt Berge zuhauf und prinzipiell fahrrad- und fußgängerfeindliche Ampelphasen. Einmal kam ich von einem meiner langen Auslandseinsätze zurück. Ich hatte einen Sommer lang bei der Wartung eines ukrainischen Kernkraftwerks verbracht. Am Bahnhof meiner Zweitwohnsitzstadt musste ich feststellen, dass mein Fahrrad (Herren, grasgrün, Gebrauchtkauf, Antifa-Aufkleber, unkaputtbares Bügelschloss) geklaut worden war.

Aha – Profis! dachte ich und erinnerte mich an den Gebrauchtfahrradbasar in der Atomstadt Kuznecovsk, wo ich lauter ehemals deutsche Räder entdeckt hatte, teilweise noch mit dem Atomkraft-Nein-danke-Aufklebern hinten drauf.

Nach einer angemessenen Trauerzeit ging ich ins Fahrradgeschäft, um mir einen neuen gebrauchten Gefährten zuzulegen. Dort sagte man mir: „Hast du schon mal beim Ordnungsamt gefragt? Die haben neulich die Fahrradständer am Bahnhof abgeräumt“. Dafür ist die Universitäts- und Fahrradstadt nämlich berüchtigt: sie räumt und säubert gern dort, wo viele Radler parken müssen, aber nicht genug Fahrradständer vorfinden, und sie macht das gerne während der Semesterferien, wenn garantiert wenige Fernpendler ihre Räder rechtzeitig abholen können, weil sie ja die Ankündigungs-Zettel der Stadt nicht gelesen haben.

Also erkundigte ich mich, und tatsächlich – ich durfte beim Stadtbüro, wo auch das Amt für Straßenverkehr untergebracht ist, meinen Grünen wieder in Empfang nehmen. Dafür, dass die Stadt mein 50-Euro-Bügelschloss professionell aufgeflext hatte, durfte ich 20 Euro Gebühr zahlen, – oder war das nur die Parkgebühr für den Aufbewahrungshof, in dem, wie  mir der freundliche Mitarbeiter erklärte, nach Standorten der Abräumung geordnet („…sonst findet man hier ja nie was wieder“), hunderte von Rädern unterschiedlicher Nachzerfallsstufen auf ihre BesitzerInnen warteten, die alle womöglich erst per Zufall erfuhren, wo ihr Liebling sich eigentlich befand – nicht in Polen, wie es das Vorurteil will, und auch nicht in Kuznecovsk, Westukraine, sondern beim Stadtbüro, Frauenbergstraße.

Voll erneuerbar

Gegenüber dem Fahrrad-Aufbewahrungsplatz steht ein stadteigenes Solarkraftwerk, das momentan, im trüben November, meistens null kW Leistung ins öffentliche Netz einspeist. Ich denke wehmütig an den überdachten Fahhradständer vorm AKW Rivne in Kuznecovsk, wo die Fahrradfahrer unter den Reaktorfahrern ihren Drahtesel abstellen und nach Schichtende auch immer wieder vorfinden, während neben dem Fahrradaufbewahrungsplatz 2800 Megawatt low-carbon-Strom ins Netz gehauen werden. Seufz! Manchmal bekomme ich Heimweh nach Block drei und meiner Heimatplatte im Mikrorayon der Bauarbeiter Nr. 21, mitten in den Sümpfen Polesiens.

Doch so ist sie, die grüne Provinz: fahrradfreundlich, im Klimanotstand, und erneuerbar elektrifiziert. Zu gerne würde ich Marburg fragen, ob ihm an symbolischen oder an wirksamen Klima-Maßnahmen gelegen ist. Denn wenn man einen Notstand ausruft, muss doch schnell was geschehen?

Ein AKW für Marburg

Ich schlage daher vor, dass wir uns mit anderen Klimanotstands-Städten zusammentun, um ein AKW zu retten. Zum Beispiel das Marburg nächstgelegene AKW, Grohnde. Ich könnte die Patenschaft einfädeln. Das Schöne an Grohnde ist, dass es sowohl im November, als auch im Juli Strom produziert. Es heißt „Gemeinschafts-Kernkraftwerk“, was bedeutet, dass sich Stadtwerke gern an ihm beteiligen dürfen. 

Nur darf es leider wegen Atomausstiegs nur noch bis 2021 laufen, und wieder sind dann 1400 MW CO2-armer Strom futsch, obwohl wir doch im Notstand jede Hand brauchen könnten. Das wäre günstiger, als irgendwann ein neues AKW zu bauen. Doch selbst das würde in der hierzulande immer bevorzugten teuerstmöglichen Ausführung nur ein Drittel des Geldes kosten, das wir jährlich für die Förderung von Sonnen- und Windkraft ausgeben.

Das Klima würde Danke sagen.