Bevor sich der Gesetzgeber in mein Essen mischt, soll er sich um Probleme kümmern, die ich allein nicht lösen kann. Ein Vorschlag zur Güte

Wer heute von „Sünde“ spricht, meint in aller Regel das Essen. „Ich habe am Wochenende gesündigt“, heißt es in der Kantinenrunde. Dann weiß jeder: Jetzt folgt die Selbstgeißelung des kalorienbewussten modernen Menschen. Keine Details über ein ausschweifendes Sexualleben. Keine Geständnisse, die einen Priester oder den Staatsanwalt interessieren würden . Der Unterhaltungswert dieser Beichten geht gegen Null.

Seit Sex nicht mehr auf dem Index steht, vermiest man uns die Nahrungsaufnahme. Kein zweites menschliches Grundbedürfnis wird derart verteufelt. Der Gesetzgeber mischt nach Kräften mit. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte. Ein Beispiel ist die Lebensmittelampel, die zwar vor einigen Jahren in Brüssel einen verdienten Tod starb. In ihren Spielarten und Schwundstufen ist sie damit aber nicht aus der Welt. Immer wieder rufen Lobbygruppen danach, Großbritannien wendet sie bis heute an. Man hat nicht gehört, dass sich die Briten deshalb besser ernähren.

Apokalyptische Reiter

Die Lebensmittelampel zeigt in den Farben Rot (Schlimm!) Gelb (Achtung!) und Grün (OK) an, in welchem Ausmaß die drei apokalyptischen Reiter Fett, Salz und Zucker in einem Lebensmittel vorhanden sind. Dazu kommen, als viertes Ampellicht, die gesättigten Fette.

Wie irreführend dieses System ist, lässt sich an ein paar als besonders gesund geltenden Lebensmitteln zeigen. Matjesheringe etwa bekämen ihres Fettes und ihres Salzgehalts wegen zweimal rot, Nüsse einmal, gesalzene Nüsse zweimal. Getrocknete Datteln haben einen Zuckergehalt von 60 Prozent. Ein Hartkäse versteckt leicht 40 Prozent Fett. Bananen stecken voller Zucker, Oliven in Salzlake sind extrem salzig. Die Lebensmittelchemiker von Nestlé, Mars und Maggi trifft keine Schuld, schon eher muss man die Natur fragen, was sie sich eigentlich gedacht hat bei der Erfindung der Dattelpalme.

Unvernunft gehört zum Leben

Die Einteilung von Nahrungsmitteln in Gut und Böse ist Unfug. Makrele und Avocado sind trotz ihres hohen Fettgehalts wertvoll, eine Tüte Kartoffelchips ist es erst mal weniger. Trösten die Chips gelegentlich über einen Kummer hinweg, kann auch das gesund sein: Normal essende Menschen mit einem wenig rigiden Selbstbild leiden seltener unter hohem Blutdruck, als normal essende Perfektionisten mit hohem Selbstanspruch. Ein gewisses Maß an Unvernunft gehört zum guten Leben, das wusste schon Seneca. Frömmler und Asketen mögen den Gegenbeweis antreten.

Schlechte Ernährung ist selten auf einen Mangel an Informationen zurückzuführen. „Oh, wenn ich gewusst hätte, dass Zuckerwatte aus Zucker besteht, hätte ich meinem Sohn auf der Kirmes einen Apfel gekauft!“ Auch Kinder, die Schokoriegel mit Fanta frühstücken und des Abends zum Pommes-Amerikaner pilgern, brauchen keine Lebensmittelampel, sondern verantwortungsvollere Eltern. Auch deren Verhalten beruht in der Regel nicht auf fehlendem Wissen, sondern auf Unachtsamkeit und Überforderung.

Wer über Topf und Herd verfügt und mit Grundzutaten kocht, erreicht eine Produkttransparenz, die in unserer Konsumgesellschaft ihresgleichen sucht. Warum machen immer weniger Verbraucher von dieser Option Gebrauch? Stattdessen rufen sie nach mehr Regularien. Das Scheitern der Lebensmittelampel ist in ihren Augen ein Schurkenstück, ein Zusammenspiel gewissenloser Lobbyisten und käuflicher Politiker. Organisationen wie „Foodwatch“ nähren dieses Ohnmachtsgefühl nach Kräften. Als ob Menschen von der Industrie gezwungen würden, Spraykäse, Marshmellow-Brotaufstrich und Currywurst in der Dose zu kaufen.

Wer hat den längsten Löffel?

Ich kann prima ohne Lebensmittelampel leben. Als essendes und trinkendes Individuum komme ich zurecht. Ganz anders meine unfreiwillige Rolle als Bankkundin. Mit der Hausbank über einen Anschlusskredit für ein Hypothekendarlehen zu verhandeln, ist so amüsant, wie in der Hölle um 42 oder 43,5 Grad Zimmertemperatur zu feilschen. Dabei kann man sich noch so gut informieren: Am Ende haben die Bank und der Teufel garantiert den längeren Löffel.

Mich würde brennend interessieren, wie stabil mein Geldinstitut im Falle einer erneuten Bankenkrise wäre. Nach allgemeinem Dafürhalten war unzureichendes Eigenkapital einer der Hauptgründe für den großen Crash. Weil die kapitalschwachen Banken ihre Verluste nicht selbst auffangen konnten, wurden staatliche Bankenrettungen nötig. Gut 2,4 Billionen Euro haben die Bankenrettungen und der gesamtwirtschaftliche Abschwung den europäischen Steuerzahler gekostet, schätzt das „Citizens‘ Dashbord of Finance“. Macht 11.000 Euro pro Haushalt.

Warum keine Eigenkapitalampel?

Hat man aus der Krise gelernt und Konsequenzen gezogen? Die meisten Bank-Insider, weit davon entfernt, das System als solches infrage zu stellen, sagen: Nein. Man liest, dass die neue Regelung, Basel III genannt, so löchrig sei wie ein Schweizer Käse. Dass getrickst werden könne bei der Frage, wie viel eigenes Geld eine Bank in Bezug auf welche Bilanzposten hat. Kann man das nicht eindeutiger regeln und Gütesiegel vergeben? Mit einer Ampel auf dem Kontoauszug? Rot für „schlimm!“, Gelb für „Achtung!“, Grün für „OK“.

„Je unfähiger die staatliche Politik geworden ist, sich der großen Herausforderungen der Gesellschaft anzunehmen, desto stärker neigt sie dazu, stattdessen das Verhalten der Einzelnen zu manipulieren“, schreibt Frank Furedi über das Konzept des „Nudging“, des Anstoßens oder Gängelns der Menschen mit dem Ziel, sie zu einer vermeintlich gesünderen, umweltbewussteren oder einfach nur modischeren Lebensweise zu bewegen. Als Gurus dieser Anschubs-Bewegung gelten die amerikanischen Wissenschaftler Cass Sunstein und Richard Thaler. Ihr Buch „Nudge“ veröffentlichten sie 2008, im Jahr der Lehmann-Pleite.

 

[hr gap=“3″]

In ihrer Kolumne „Essen mit Ellen“ setzt sich Ellen Daniel mit kulinarischen Spezialitäten auseinander – und den kulturellen Hintergründen. Sämtliche bisher erschienene „Essen mit Ellen“-Beiträge finden sich hier.