Der größte Irrtum wesentlicher Teile der Umweltbewegung ist die Annahme, dass der Mensch möglichst naturnah leben sollte. Das Gegenteil ist richtig, wie unser Autor in diesem Longread darlegt.

I.

1975 erschien in Kalifornien ein Buch mit dem Titel „Ökotopia“. Der Autor: ein gewisser Ernest Callenbach. Er war zu jener Zeit völlig unbekannt, ein Niemand, der in Chicago englische Literatur studiert hatte; später beschäftigte er sich intensiv mit ökologischen Fragen. „Ökotopia“ erschien zunächst im Selbstverlag, dann wurde es zu einem Erfolg, und ein richtiger Verlag nahm sich des Buches an. Es wurde eine Million mal auf Englisch verkauft und in mehrere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. „Ökotopia“ wurde zu einem der wichtigsten Texte der Ökobewegung, die damals gerade im Entstehen begriffen war.

Ernest Callenbachs Utopie begeisterte Menschen, die über eine sanftere Alternative zur kapitalistischen Industriegesellschaft nachdachten. Übrigens stand diese Utopie in einer ganz und gar amerikanischen Tradition: 1845 zog Henry David Thoreau aus, um in den Wäldern von Massachusetts sein Glück zu suchen. Er wollte zurück zu einem naturverbundenen, einem einfachen Lebensstil. Seither ist der bärtige Waldschrat mit dem Schlapphut, der die moderne Technik und das Leben in der Großstadt in Grund und Boden kritisiert, ein amerikanischer Urtypus. Man kann ihn aus der amerikanischen Kulturgeschichte gar nicht mehr wegdenken.

Ernest Callenbachs Roman „Ökotopia“ aber ist heute beinahe vergessen. Und das ist schade, denn Callenbach versuchte in diesem Roman, der Weltuntergangsstimmung etwas Helles und Positives entgegenzusetzen. Diese Weltuntergangsstimmung war schon 1975 sehr verbreitet. Dabei wussten die meisten Leute damals noch nichts vom menschgemachten Klimawandel, nichts von schmelzenden Gletschern und Polen, nichts vom Ansteigen des Meeresspiegels.

Worum geht es in Callenbachs Roman? Es handelt sich um einen Reisebericht. Ein amerikanischer Journalist namens William Weston erhält anno 1999 die Erlaubnis, nach Ökotopia zu fahren. Ökotopia ist eine neue Nation, die sich durch Abspaltung an der Westküste der Vereinigten Staaten gebildet hat; sie besteht aus dem Norden von Kalifornien, aus Oregon und dem Bundesstaat Washington. William Westons Reise in die Zukunft beginnt sehr gemütlich. Nachdem er die Grenzformalitäten hinter sich gebracht hat, besteigt er in Lake Tahoe einen Zug. In der banalen Realität ist Lake Tahoe ein beliebtes Skigebiet auf den schneebedeckten Höhen der Sierra Nevada. In Callenbachs Roman aber beginnt dort das Territorium der Utopie.

Der Zug, den William Weston besteigt, ist hochmodern, aber es gibt drinnen weder Sitze noch Abteile: Die Reisenden sitzen auf einem großen Teppich und lassen den Joint herumgehen. So gerät William Weston nach San Francisco – und San Francisco ist die Hauptstadt von Ökotopia. Als erstes fällt ihm dort auf, wie still alles ist, es gibt nämlich kaum mehr Autos. Die großen Straßen wurden begrünt, die Leute gehen zu Fuß, fahren mit dem Rad oder bewegen sich mithilfe von Elektrobussen fort. In den Wolkenkratzern, wo einst Firmen ihre Büros hatten, wohnen jetzt Familien. Später erfährt er, dass viele Leute aus San Francisco aufs Land gezogen sind; die Ökotopianer sind in ihrer Mehrzahl keine Großstadtbewohner mehr.

Ernest Callenbachs Roman besteht aus den Zeitungsartikeln, die William Weston nach Hause schickt. Ergänzt werden sie durch eine Serie von sehr privaten Tagebuchnotizen. In seinen Zeitungsartikeln schreibt William Weston ganz objektiv und kritisch über das Regierungssystem von Ökotopia, über die Wirtschaft des neuen Landes, über Fernsehen und Massenmedien, über den Umgang mit Plastik. Die Tagebuchnotizen handeln hauptsächlich von der handfesten Liebesgeschichte, die sich zwischen dem Journalisten und einer Ökotopianerin namens Marissa entspinnt.

Wie sich eigentlich von selbst versteht, ist in Ökotopia alles viel natürlicher als in den Vereinigten Staaten. Auch in den persönlichen Beziehungen: Es geht sehr direkt und ungekünstelt zu. Ehekräche werden offen auf der Straße ausgetragen. Fremde umarmen einander. Die Wirtschaft beruht auf Nullwachstum. Die Bevölkerung von Ökotopia wird mittels Geburtenkontrolle planmäßig verringert. Häuser werden hauptsächlich aus Holz gebaut. Es gilt als schweres Verbrechen, Ressourcen nicht zu schonen. Zum Abbau der Aggressionen werden regelmäßig ritualisierte Kriegsspiele veranstaltet. Frauen haben die Macht. Nachdem William Weston seinen Schock und sein Entsetzen über die exotischen Gebräuche in Ökotopia überwunden hat, fängt er an, sich in das Land zu verlieben. Am Ende beschließt er dazubleiben: Er hat eine neue Heimat gefunden.

II.

Es ist sehr leicht, die schwachen Punkte in Callenbachs Roman „Ecotopia“ aufzuspüren. Ein linker britischer Journalist schrieb: Ernest Callenbach präsentiere uns in seinem Roman „eine schlampige Mischung aus schwedischer Sozialdemokratie, schweizerischer Neutralität und jugoslawischen Kooperativen“. Auch ein gewisser Zug ins Autoritäre lasse sich nicht verleugnen. 

Das ist ohne Zweifel richtig. In Ökotopia gibt es laut Ernest Callenbach zwei politische Parteien: die „Survivalist Party“ und die „Progressive Party“. Die erste ist die grüne Partei, also die Partei jener Leute, die für das Überleben der Menschheit kämpfen. Die „Fortschrittspartei“ dagegen will eine Rückkehr zu den alten kapitalistischen Verhältnissen. Die „Survivalist Party“ ist in Ökotopia ständig an der Regierung; die „Progressive Party“ ist zu einem ewigen Dasein in der Opposition verdammt. Ein Machtwechsel, wie er in einer Demokratie üblich wäre, ist keineswegs vorgesehen. Die Präsidentin von Ökotopia heißt Vera Allwen. Sie wird als starke Persönlichkeit beschrieben, und sie erinnert den Journalisten William Weston – so steht es ausdrücklich im Text – an Mao Tsetung und Ho Chi Minh. An zwei Diktatoren also, die Millionen Menschen auf dem Gewissen haben.

Aber es soll hier gar nicht darum gehen, Ernest Callenbachs Roman zu verreißen. Bei all seinen Schwächen hat er nämlich doch ein großes Verdienst. An seinem Beispiel kann man den kardinalen Denkfehler der amerikanischen Ökobewegung aufzeigen – und nicht nur der amerikanischen Ökobewegung. Hier sind drei Textpassagen, die uns geradezu mit der Nase auf jenen kardinalen Denkfehler stoßen. 

Textpassage Nummer eins:

„Am frühen Abend sah ich eine Gruppe von Jägern mit extravaganten Bögen und Pfeilen, die von einem Minibus sprangen, auf den sie ein frisch erlegtes Reh geladen hatten. Zwei von ihnen hoben es auf; es hing von einem langen Stock, den sie auf ihren Schultern trugen, und sie marschierten die Straße hinunter … Eine Menge von Zuschauern versammelte sich, kleine Jungen drückten sich aufgeregt herum. In meiner Nähe gönnten sich die Jäger eine Pause – ich vermute auch, dass sie den Leuten eine Chance geben wollten, ihre Beute zu bewundern. Einer von ihnen fiel mir auf und muss die Abscheu in meinen Augen gesehen haben. Er rieb seine Hand über der Wunde des Tieres, die noch nass war vom Blut, dann ließ er mir den Finger über die Wange gleiten, als wolle er mich in die Jagd einbeziehen.“ 

Diese Szene spielt, wohlgemerkt, in den Straßen von San Francisco, nicht irgendwo weit draußen in der Wildnis. Was ist – ganz nüchtern kalkuliert – der Denkfehler daran?

Textpassage Nummer zwei:

„Die Sieger begannen nun einen Siegestanz. Ihre Anhänger kamen vom Hügel herunter, um sich zu ihnen zu gesellen. Musikanten spielten auf, und ein Tanz begann. Die Krieger teilten ihren Kessel mit allen, in einer Atmosphäre des exaltierten Jubels. Auf der Seite der Sieger verschwanden ein paar führende Krieger mit Frauen in den Büschen. Auf der Verliererseite schien es viel Lamentieren, Weinen und Herumwälzen zu geben. Nach einer Weile wurden die Feuer wieder geschürt, Essen wurde herausgebracht, und ein Festmahl nahm Gestalt an.“

Ernest Callenbach beschreibt hier eine Szene, die sich nach einem der Kriegsspiele von Ökotopia abspielt. Es soll hier gar nicht darum gehen, ob solche Kriegsspiele zur Aggressionsabfuhr ethisch vertretbar sind. Es geht ganz allein um die Ökologie: Was wäre – aus grüner Perspektive – an solchen Veranstaltungen wenig ratsam?

Textpassage Nummer drei ist eine Tagebuchnotiz von William Weston:

„Bin herausgefahren, um Marissa im Waldlager zu besuchen. Fand sie tief im Wald, wo sie Bäume zum Fällen aussuchte. Sie ließ mich unter der Voraussetzung mitkommen dass ich nicht redete. Sie geht langsam durch die Bäume, schaut sie alle sehr sorgfältig an. Dann sitzt oder steht sie eine Zeitlang in einer meditativen Haltung. Am Ende geht sie zu diesem oder jenem Baum, befestigt an ihm eine rote Schleife, die seinen Untergang bedeutet, und murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ihr Gesichtsausdruck in diesem Moment ist kummervoll, aber entschlossen. Dann entspannt sie sich und geht zu einem anderen Teil des Waldes. Dies ist ein großer Teil ihrer Arbeit, aber es könnte sich auch um irgendein Ritual handeln; es steckt viel Heiligkeit darin.“ 

Warum offenbart diese Passage, dass ganz Ökotopia auf einer falschen Prämisse aufgebaut ist?

Hier die Antwort. Ernest Callenbach – und mit ihm die gesamte Ökobewegung der Siebzigerjahre – machte einen kardinalen Denkfehler: Die Grünen jener Jahre glaubten, dass es gut für die Natur sei, wenn möglichst viele Menschen möglichst naturnah leben. Aber das ist überhaupt nicht der Fall. Das glatte Gegenteil trifft zu. Für die Umwelt ist es gut, wenn möglichst viele Menschen möglichst naturfern leben. Ein Beispiel: Wenn große Fläche für die Landwirtschaft verbraucht werden, so ist das sehr, sehr schlecht für die Umwelt. Jeder umbrochene Acker, jede gemähte Wiese bedeutet, dass es weniger Wildtiere, weniger Wälder, weniger Käfer und Schmetterlinge gibt. Es gilt also die Faustregel: Je weniger Landwirtschaft, desto besser. Ein anderes Beispiel: Das beste Parfüm ist – aus ökologischer Perspektive – ein Parfüm, das von Anfang bis Ende im Chemielabor zusammengebraut wurde. Denn für ein Parfüm, das aus natürlichen Zutaten besteht, wurde womöglich der letzte Sandelholzwald in Indonesien gerodet.

III.

Schauen wir uns die drei Textpassagen aus Ernest Callenbachs Roman „Ecotopia“ noch einmal darauf hin an! In der ersten Passage beweisen Jäger aus San Francisco ihre Naturnähe, indem sie gleich vor den Toren der Stadt ein Reh erlegen. In Wahrheit wäre es aber selbstverständlich ein Desaster, wenn jeder Stadtbewohner loszöge, um mit Pfeil und Bogen für sein Abendessen zu sorgen. Darum ist die Jagd in allen zivilisierten Staaten streng geregelt: Nicht jeder darf jagen. Für alle Arten von Wild gibt es Zeiten der Hege und Zeiten des Abschusses. Und gerade die so naturnahe Jagd mit Pfeil und Bogen gilt unter Tierfreunden mit Recht als hochproblematisch. Beim Blattschuss mit dem hochmodernen Schießgewehr ist das Reh immerhin ziemlich schnell tot; wenn das arme Tier einen Pfeil zwischen die Rippen bekommt, dauert seine Todesqual womöglich Stunden.

Die gute Nachricht für Umweltfreunde stammt dann auch nicht aus Ernest Callenbachs Roman. Sie kommt von zwei israelischen Firmen. Der ersten ist es gelungen, aus Hühnerzellen im Labor Fleisch zu züchten. Die zweite Firma stellt künstliches Fleisch mithilfe von Fruchtfliegenlarven her. Professionelle Köche bescheinigen den Produkten, sie seien äußerst wohlschmeckend; Rabbiner versichern sogar, dass das auf diese Weise produzierte Fleisch koscher sei. Aus ökologischer Sicht ist nichts zukunftsweisender als künstlich erzeugtes Fleisch. Denn Viehherden tragen erheblich zur Erwärmung des Planeten bei. Je schneller wir anfangen, Fleisch aus dem Labor zu essen, desto besser. Tierfreunde können sich außerdem freuen, dass Schlachthäuser bald Ruinen sein werden, die von einer entsetzlichen Vergangenheit zeugen.

Die zweite Textpassage in Callenbachs Roman handelt von den rituellen Kriegsspielen, die in Ökotopia ausgetragen werden. Nehmen wir nun an, dass es 25 Millionen Ökotopianer gibt. Das ist eine äußerst konservative Schätzung – wahrscheinlich hätte eine Nation, die sich aus Nordkalifornien, Oregon und dem Staat Washington zusammensetzt, sehr viel mehr Einwohner. Aber bleiben wir bei 25 Millionen: Wenn jedes Jahr Kriegsspiele samt anschließendem Gelage veranstaltet werden, müssten ganze Nationalparks als Kriegs- und Festgelände herhalten, wahrscheinlich müssten Sequoia-Wälder gefällt werden. Es wäre ein ökologisches Desaster. Die umweltschonende Alternative freilich gab es zu Ernest Callenbachs Zeit noch gar nicht: Videospiele. Jedes noch so dumme Ballerspiel hat aus ökologischer Sicht den Vorteil, dass es in der virtuellen Realität stattfindet. Es verbraucht keine Flächen, sondern nur Strom. Ob dabei tatsächlich Aggressionen abgebaut werden, ist eine andere Frage.

Die dritte Textpassage handelt davon, dass in Ökotopia gewisse religiöse Rituale stattfinden, bevor Bäume gefällt werden. Und Bäume müssen in diesem Öko-Utopia leider gefällt werden, weil seine Bewohner so schrecklich gern naturnah in Holzhäusern wohnen. Den Bäumen ist es aber egal, ob sie um Verzeihung gebeten werden, bevor jemand die Axt an sie legt. Aus ökologischer Sicht sollten Menschen gerade nicht ermutigt werden, in Häusern aus Holz zu wohnen. Jeder Wolkenkratzer aus Stahlbeton hat immerhin den Vorteil, dass keine Bäume sterben mussten, um ihn zu errichten.

IV.

Es gibt in den Vereinigten Staaten – wie in Deutschland, wie in Frankreich, wie in beinahe allen westlichen Industrieländern – eine grüne Partei. Die „Green Party of the United States“ ist allerdings ziemlich genau auf dem Stand der Siebzigerjahre stehengeblieben: In ihrem Parteiprogramm bekennt sie sich immer noch zu einer menschlichen Gesellschaft, die „Teil der Natur, und nicht getrennt von der Natur“ sein soll. Sie ist dafür, das  politische System der Vereinigten Staaten durch eine Rätedemokratie zu ersetzen. Sie will den Kapitalismus abschaffen. Besonders bizarr und lächerlich wird es, wenn wir auf die Außenpolitik blicken: Die „Green Party“ unterstützt Nicolás Maduro, den diktatorischen Präsidenten von Venezuela. Margaret Flowers, eine der Vorsitzenden der „Green Party“, besuchte Maduro vor Kurzem in Caracas mit einer Delegation und versicherte in ihrer Solidarität. Amerikas Grüne stellen sich außerdem offen an die Seite von Putins Regime. Am Ende des Jahres 2015 nahm Jill Stein, die Chefin der „Green Party“, an einer Gala teil, die der staatseigene Fernsehsender „Russia Today“ veranstaltet hatte. Dabei saß sie mit Wladimir Putin an einem Tisch.

Sprechen wir es offen aus: Bei der „Green Party of the United States“ handelt es sich um eine politische Sekte. Denn anders als die Grünen in Deutschland ist diese Partei nie an die Macht gekommen. Es hat noch nie einen grünen Senator oder ein grünes Mitglied des Repräsentantenhauses in Washington gegeben. Auch keinen grünen Gouverneur. Auch in keinem der fünfzig Bundesstaaten musste je ein amerikanischer Grüner politische Verantwortung übernommen. Das heißt, dass die „Green Party“ in Amerika fundamentalistisch bleiben konnte: Sie musste sich nie pragmatisch weiterentwickeln, sie hatte nie die Pflicht, eine Koalition mit politisch Andersdenkenden einzugehen. Sie musste also nie den Weg beschreiten, den die Grünen in Deutschland mit so viel Erfolg gegangen sind. Den deutschen Grünen sind ihre Cousins in Amerika darum heute einigermaßen peinlich. Das Tragische dabei: Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2020 könnte die fundamentalistische „Green Party“ – gegen ihren eigenen Willen – Donald Trump die Wiederwahl bescheren.

Wenn die „Green Party“ eine politische Sekte ist – heißt das dann, dass ökologisches Gedankengut in Amerika politisch heimatlos ist? Zum Glück nicht. Die Demokratische Partei hat sich viel grüne Programmatik zu eigen gemacht. Das zeigt sich nicht nur am umstrittenen „Green New Deal“, den linke Kongressabgeordnete um Alexandria Ocasio-Cortez in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht haben. Viele amerikanische Kommunen werden längst quasi von Grünen regiert; das zeigte sich zuletzt, als die Regierung Trump sich im Sommer 2017 aus dem Pariser Abkommen zum Klimaschutz ausstieg. In diesem Abkommen verpflichten sich 197 Nationen, dass sie die menschgemachte globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad unter dem vorindustriellen Niveau absenken wollen. Als Trump seinen Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen verkündete, sagten 406 amerikanische Bürgermeister: ohne uns! Sie fühlen sich weiterhin an das Klimaabkommen gebunden. Unter den Unterzeichnern befinden sich Bill de Blasio, der Bürgermeister von New York, und Erik Garcetti, der Bürgermeister von Los Angeles. Diese Bürgermeister repräsentieren zusammengenommen immerhin 70 Millionen Amerikaner; und unter den Unterzeichnern befinden sich auch die Bürgermeister der Autostadt Detroit, der Stahlmetropole Pittsburgh,  der High-Tech-Stadt San Francisco.

Es gibt einen Mann, der beispielhaft vorführt, wie ökologische Politik in Amerika heute in der Praxis funktioniert: Michael Bloomberg, der ehemalige Bürgermeister von New York. Bloomberg, ein Multimilliardär, der zu den reichsten Menschen der Welt gehört, regierte New York elf Jahre lang – von 2002 bis 2013. Er war anfangs Demokrat, dann Republikaner, am Ende parteilos. Und unter seiner Verwaltung wurde New York zu einer grünen Stadt. Bloomberg ließ neue Fahrradwege bauen – mittlerweile kann man die Insel Manhattan zu drei Vierteln mit dem Rad umrunden. Er sorgte dafür, dass am East River neue Parks entstanden – man kann heute in Brooklyn in Gegenden spazieren gehen, wo es früher hässliche Industrieanlagen gab. Er verwandelte den berühmten Times Square in eine verkehrsberuhigte Zone: Weite Abschnitte der Seventh Avenue und des Broadway sind dort jetzt für den Autoverkehr gesperrt. Viele Gebäude wurden unter Michael Bloomberg nach ökologischen Gesichtspunkten renoviert. Das berühmteste Beispiel ist das Empire State Building: Für 20 Millionen Dollar wurden vor zehn Jahren dessen Fenster isoliert und Sonnenkollektoren installiert. So gelang es, den Energieverbrauch des Empire State Building um 38 Prozent zu senken. Heute entlässt das Riesengebäude mit seinen 102 Stockwerken um die 105.000 Tonnen weniger CO2 pro Jahr in die Luft als vor der Renovierung.

Aber seine Verdienste um New York sind noch nicht einmal das Wichtigste an Michael Bloomberg. Der Multimilliardär und Philanthrop unterstützt mit mindestens 80 Millionen Dollar eine Initiative, die sich „Beyond Coal“ nennt. „Beyond Coal“ wurde vom Sierra Club ins Leben gerufen, einer sehr alten Vereinigung für Umweltschutz. „Beyond Coal“ hat ein sehr ehrgeiziges Ziel: Bis 2020 soll mindestens ein Drittel der 500 amerikanischen Kohlekraftwerke geschlossen werden. Damit stellt sich „Beyond Coal“ wie eine Sperre einem Vorhaben der Regierung Trump entgegen: Trump möchte die amerikanische Kohleindustrie nämlich mit staatlichen Geldern künstlich am Leben erhalten. Die Chancen für „Beyond Coal“ stehen gar nicht schlecht. Denn Bloombergs Initiative hat den Wind der Marktwirtschaft in seinem Rücken: Die Kohleindustrie rentiert sich in Amerika einfach nicht mehr. Allen Versuchen von Donald Trump zum Trotz – die Kohleförderung bricht in den Vereinigten Staaten seit 2008 drastisch ein; in der gesamten amerikanischen Kohleindustrie arbeiten heute gerade einmal 50.000 Menschen.

Bloomberg verkörpert eine neue Art von Ökologie: pragmatisch, fortschrittlich, urban. Aber welches Denken, welche Philosophie steckt dahinter? Es ist klar, dass sie nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir in Ernest Callenbachs Roman „Ökotopia“ gefunden haben. Das neue grüne Denken in Amerika ist nicht romantisch, nicht rückwärtsgewandt und kein bisschen autoritär. Leute wie Michael Bloomberg träumen nicht mehr von einem naturverbundenen Ökotopia, in dem eine grüne Partei ewig an der Macht ist. Vielleicht kann man ihr Denken auf folgende Formel bringen: Nicht zurück zur Natur – sondern vorwärts in eine ökologische Moderne.

Aber was heißt das genau? Wie soll diese ökologische Moderne aussehen? Können wir sie uns ausmalen? Gibt es heute noch eine grüne Utopie, an die wir uns angesichts des drohenden Weltuntergangs klammern können? Parks voller Windkrafträder? Wüsten voller Sonnenkollektoren? Flugverbote für Urlauber? Fleischfreie Montage? Eine Regierung, die abends pünktlich um 18 Uhr das Licht ausdreht?

V.

Vielleicht ist der Mann, den wir über das Programm des neuen grünen Denkens in Amerika befragen müssen, ein achtzigjähriger Kalifornier namens Stewart Brand. Brand studierte Biologie an der Universität von Stanford und hatte viel mit der kalifornischen Gegenkultur der Sechzigerjahre zu tun: Er experimentierte mit LSD und organisierte Rockfestivals. Vor allem aber gab er den „Whole Earth Catalogue“ heraus, ein Handbuch für Aussteiger, das für die Ökobewegung zu einer Art Bibel wurde. Stewart Brand hat seinen alten Idealen nie Lebewohl gesagt – er versteht sich immer noch als Grüner. Aber er hat seine Meinung in ein paar Punkten radikal geändert und vertritt jetzt vier ökologische Häresien.

Die erste Häresie ist, dass Stewart Brand heute erklärt: Städte sind grün. Seine Logik ist nicht schwer zu verstehen. Die Landflucht gehört zu den größten Trends des 20. und 21. Jahrhunderts: Immer mehr Leute – vor allem in den Entwicklungsländern – verlassen ihre Dörfer und ziehen in die Städte. In Metropolen wie Tokyo, Mumbai, Lagos, Karatschi wohnen mittlerweile jeweils mehr als 20 Millionen Menschen. In der Mitte des 21. Jahrhunderts werden vermutlich achtzig Prozent der Menschheit in Städten wohnen. Und aus ökologischer Sicht könnte gar nichts Besseres passieren. Denn je mehr Menschen sich in urbanen Gebieten zusammenballen, desto mehr Flächen unseres geschundenen Planeten können wieder Wildnis werden.

Stewart Brands zweite Häresie: Atomkraft ist grün. Hier werden viele Leute – vor allem in Deutschland – erschreckt zusammenzucken, aber es lohnt sich, Brand ein bisschen länger zuzuhören. Die Riesenmetropolen, in denen die Menschen leben und känftig leben werden, brauchen Strom. Zurzeit wird dieser Strom vor allem erzeugt, indem Kohle verfeuert wird. Das ist ökologisch verheerend. Das Kohlendioxid, das dabei ausgestoßen wird, heizt den Planeten unbarmherzig immer weiter auf; außerdem sterben jedes Jahr weltweit Millionen Menschen am Kohlestaub. Nun würden viele Menschen gern die mörderische Kohlekraft durch sanfte Wind- und Solarenergie ersetzen. Leider ist das eine Illusion. Windräder und Solarzellen sind großartig – aber sie erzeugen nicht genug Elektrizität für eine Stadt wie Mumbai oder Schanghai.

Die einzig realistische Alternative ist Atomenergie. Atomkraftwerke stoßen kein Kohlendioxid aus; sie verschmutzen nicht die Luft. Und der Atommüll? Erstens gibt es nur sehr wenig davon – der gesamte Atommüll, den ein Mensch in seinem Leben produziert, hätte in einer Cola-Dose Platz. Zweitens ist es mittlerweile möglich, Atomkraftwerke zu bauen, die just diesen Atommüll als Brennstoff verwenden. Und die Möglichkeit einer Havarie? Eine Studie in dem britischen Magazin „Lancet“ hat ausgerechnet, wie viele Menschenleben geopfert werden müssen, um eine Terawattstunde Strom zu produzieren. Das Ergebnis: Am meisten Menschenleben verbraucht die Stromerzeugung durch Kohle. Staudämme sind ebenfalls hochgefährlich, weil sie brechen können. Erdgas führt immer wieder zu Explosionen. Atomkraft dagegen verbraucht beinahe keine Menschenleben. Dabei sind die Katastrophe von Tschernobyl und der Zwischenfall in Fukushima selbstverständlich in die Bilanz eingepreist. An dem Atomunfall in Fukushima starb – wie vielleicht nicht jeder weiß – kein einziger Mensch.

Wer jetzt immer noch zuhört, möge sich auf Stewart Brands dritte Häresie gefasst machen: Gentechnik ist grün. Als Biologe betrachtet Brand den Widerstand gegen genetisch modifiziertes Saatgut wie den berühmten goldenen Reis als unwissenschaftlich und gefährlich. Nicht der geringste gesundheitsschädliche Effekt von genmanipulierten Lebensmitteln konnte je nachgewiesen werden. Und die Studien laufen mittlerweile seit Jahrzehnten. Es handelt sich hier um einen Aberglauben. Interessanterweise hängen diesem Aberglauben viel mehr Menschen in den industrialisierten als in den Entwicklungsländern an. Stewart Brand ist froh darüber, dass die Bauern in Afrika sich von europäischen Organisationen wie „Greenpeace“ nicht mehr daran hindern lassen, genmanipuliertes Saatgut auszubringen. Aus ökologischer Sicht ist genmanipuliertes Getreide deswegen so gut, weil es die sogenannte Direktsaat ermöglicht. Das heißt: Die Saat erfolgt ohne Pflügen oder Eggen direkt nach der Ernte oder in das unbearbeitete Brachland. Die Biomasse der Vorkultur verbleibt als Mulch auf der Oberfläche des Ackers. Dadurch dringt weniger Kohlendioxid aus dem Ackerland in die Atmosphäre. Es ist möglich, weniger Pestizide einzusetzen. Und man kann die landwirtschaftlichen Flächen klein halten.

Stewart Brands vierte Häresie: Wir werden in den kommenden Jahren viele verzweifelte Nachrichten wegen des menschgemachten Klimawandels hören. Tote wegen Hitzewellen in Europa; Wirbelstürme vor Bangladesch; Kriege um das verbleibende Trinkwasser. Und deshalb werden wir irgendwann über künstliche Möglichkeiten nachdenken, unseren Planeten abzukühlen. Das notwendige Know-how ist längst vorhanden, es würde nur Geld kosten. Wir könnten etwa einen Vulkanausbruch simulieren, indem wir per Flugzeug Schwefeldioxid versprühen; oder wird könnten über den Ozeanen viel Wasserdampf in die Luft pumpen, damit mehr Sonnenlicht in den Weltraum zurückgestrahlt wird.

VI.

Längst sind wir Menschen zu einer geologischen Kraft geworden. Wir leben – ob wir das nun wollen oder nicht – in einem neuen geologischen Zeitalter: dem Anthropozän. Wir gestalten die Erde um und müssen lernen, den Schaden, den wir dabei anrichten, möglichst gering zu halten. Stewart Brand sagt: „Wir sind wie Götter und müssen lernen, gut darin zu werden.“ Wir sind aber keine guten Götter, wenn wir in einen geträumten Naturzustand zurückkehren. Ernest Callenbachs Roman „Ökotopia“ weist einen Irrweg: Naturnäher ist nicht besser, wir würden dem Planeten nicht weniger zur Last fallen, wenn wir uns wieder in Jäger und Sammler verwandeln oder die Städte verlassen, um in idyllischen Holzhäusern zu wohnen. Wir würden ihm nicht weniger zur Last fallen, wenn wir wieder Landwirtschaft betrieben wie vor zweihundert Jahren und größere Ackerflächen verbrauchen. Teile der amerikanischen Ökobewegung haben das mittlerweile verstanden, und sie lassen sich keine Denkverbote mehr auferlegen.

Seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts haben wir Menschen in der Natur gestanden wie in einem Feindesland. Wir waren eine harte und grausame Besatzungsmacht. Wird es nicht höchste Zeit, dass wir uns endlich aus der Natur zurückziehen?