Ins offene Messer
Ein russischer Manipulationsversuch der Bundestagswahl ist wahrscheinlich. Doch die Öffentlichkeit wird nicht drauf vorbereitet. Das ist fahrlässig.
Zu den Dingen, die den Deutschen besonders heilig sind, gehört das Vorsorgeprinzip. „Danach sollen die denkbaren Belastungen bzw. Schäden für die Umwelt bzw. die menschliche Gesundheit im Voraus (trotz unvollständiger Wissensbasis) vermieden oder weitestgehend verringert werden“, heißt es bei Wikipedia. Dummerweise kennen wir das Vorsorgeprinzip jedoch nur in der Umwelt- und Gesundheitspolitik und dort in einer derart hysterisierten Interpretation, dass etwa die Gentechnik keine Chance in Deutschland hat.
In der Außenpolitik ist uns das Vorsorgeprinzip hingegen fremd. Ansonsten hätten wir bereits vor Monaten (trotz unvollständiger Wissensbasis) einen öffentlichen Diskurs darüber geführt, wie wir mit einem russischen Angriff auf die Bundestagswahlen umgehen.
Denn wir wissen, dass im Sommer 2015 der Bundestag erfolgreich von Hackern angegriffen wurde. Gewaltige 16 Gigabyte an Daten flossen aus dem Parlamentsnetzwerk ab. Sehr viele Indizien deuten daraufhin, dass hinter der Attacke russische Hacker stecken. Die Bundesregierung, so schrieb „Die Zeit“, sei „überzeugt, dass die Eindringlinge aus Russland stammen“. Auch einzelne Abgeordnete waren Ziel solcher Angriffe. Das Büro von Marieluise Beck, Außenpolitikerin der Grünen und eine der entschiedensten Kritikerinnen des Kremls und seiner aggressiven Politik nach innen wie außen, wurde bereits 2014 digital überfallen.
Verheerende Wirkung
Putin hat eine russische Beteiligung an den Cyberattacken neulich auf seine Art und Weise bestätigt. Es könne schon sein, dass es Hacker in seinem Land gebe, die „patriotisch eingestellt“ seien und womöglich ihren Beitrag im Kampf gegen antirussische Kräfte auf der Welt leisten wollten, sagte der Präsident und stritt zugleich ab, dass seine Regierung damit etwas zu tun habe. Eine ähnliche Linie fuhren der Kreml, die angeblichen „Separatisten“ und russische Staatsmedien als es 2014 um die Beteiligung russischer Soldaten an den Kämpfen in der Ostukraine ging: Da war dann von „Freiwilligen“ die Rede oder von „russischen Soldaten im Urlaub“.
Welch verheerende Wirkung geleakte Dokumente, Mails und Vermerke haben können, hat die Welt gesehen, als das kriminell erbeutete Material via Wikileaks im amerikanischen Wahlkampf so eingesetzt wurde, dass die demokratische Präsidentschaftskandidatin und Favoritin Hillary Clinton den größtmöglichen Schaden erlitt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es dieselbe digitale Angriffsarmee, die den Bundestag anzapfte, die auch den Mailaccount von Clintons Wahlkampfmanager John Podesta knackte.
Wann kommt der Startschuss?
Was keiner weiß, ist, welches Material genau den Bundestag in Richtung Russland verlassen hat. Wir wissen auch nicht, wann und wie der Kreml das Material ausspielen lässt. Vielleicht haben die russischen Taktiker die Bundestagswahl angesicht erdrückender Umfragewerte für Angela Merkel und ihre CDU bereits verloren gegeben. Doch es könnte auch nach der Devise verfahren werden, dass jede Schwächung der Kanzlerin dem Kreml nutzt. Sie gilt als die europäische Schlüsselfigur, die dafür sorgt, dass die – durchaus wirksamen – Sanktionen gegen Russland aufrecht erhalten werden.
Es wäre also fahrlässig, die drohende Gefahr einfach zu beschweigen. Und doch tun wir genau das, obwohl es genug Grund gibt, einen Manipulationsversuch zu befürchten, ja sogar für wahrscheinlich zu halten. Soll hinterher keiner sagen, man habe nichts gewusst. Für ein Fair-Play-Abkommen zwischen den Parteien wäre es noch nicht zu spät.
Und auch Redaktionen sollten sich grundsätzlich mit der Frage befassen, wie man mit Material umgeht, das von fremden Mächten lanciert wird, um demokratische Staaten zu destabilisieren.