Trotz dramatischer Umbrüche beschränkt sich die Rede über Außenpolitik auf Empörungsrituale.

In den Jahren 2014 und 2016 brachen die jahrzehntealten Grundpfeiler bundesdeutscher Außenpolitik weg: zuerst die Ostpolitik, dann die Westbindung. Im Laufe des Jahres 2014 zeigte sich, dass die privilegierte Beziehung zu Moskau, die von sämtlichen Kanzlern seit Brandt gepflegt wurde und zum genetischen Code des Auswärtigen Amtes gehört, die russische Führung nicht davon abhielt, die Krim zu annektieren und anschließend – lieblos getarnt – in die Ukraine einzumarschieren. Die Wahl des bekennenden NATO-Kritikers und Russlandverehrers Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im November 2016 erschütterte dann die Gewissheit, dass Deutschland unter dem Sicherheitsschirm der USA wie in den Jahrzehnten zuvor ungestört seinen Wohlstand mehren kann. Trotz dieses Doppelschlags gegen das außenpolitische Selbstverständnis Berlins scheuen die Bundesregierung und die Parteien fundierte Antworten auf diese Problematik. Dabei ist eine Auseinandersetzung über Deutschlands Rolle in Europa und der Welt ebenso unausweichlich wie Debatten über den Terror, die Probleme des Euros, die Energiewende oder Migration, die ebenfalls als Themen im Wahlkampf kaum präsent sind. Doch bleiben wir für heute bei der Außenpolitik.

Nach der Wahl Donald Trumps wurde die Bundeskanzlerin von den internationalen Medien – mangels anderer Kandidaten – zur Führung der freien Welt aufgerufen. Das ist wenig verwunderlich, da der Hitzkopf im Weißen Haus sie als Ikone der Seriosität und Abgeklärtheit strahlen lässt. Tatsächlich fällt die Bilanz Merkelscher Außenpolitik in den bewegten Jahren seit 2014 bestenfalls gemischt aus. Zwar hat sie der russischen Seite in zwei Runden Minsker Verhandlungen einen brüchigen Waffenstillstand abgerungen und die europäischen Sanktionen gegen den Kreml verteidigt – doch seitdem verwaltet sie die Krise im Osten Europas möglichst geräuschlos und vermeidet öffentliche Statements zur Russlandpolitik – das könnte ja die Öffentlichkeit beunruhigen und darauf hinweisen, wie fragil die Dinge im Osten Europas sind. Stattdessen hält auch das Bundeskanzleramt gegen den Widerstand Brüssels und unserer osteuropäischen Verbündeten an Nord Stream 2 fest, einer Pipeline von der nur der Kreml und einige deutsche Energieunternehmen profitieren. Dem deutschen Verbraucher wird hier die Rolle zugedacht, die außenpolitischen Aggressionen Russlands zukünftig noch großzügiger über seine Gasrechnung zu subventionieren. Erst wenn das letzte Rohr in der Ostsee versenkt ist, werden sich vermutlich diejenigen zu Wort melden, die eigentlich Bedenken gegen diese energiepolitische Selbstaufgabe hatten äußern wollen. Schwerer wiegt aber,  dass es die Bundeskanzlerin in den drei Jahren seit Beginn des Krieges in der Ukraine versäumt hat, grundsätzliche Positionen oder eine ostpolitische Strategie zu formulieren. Dies gilt auch für den Umbruch in den Beziehungen zu den USA. Ihre Politik bleibt reaktiv – die Initiative überlässt sie anderen. Streit über Außenpolitik stört das harmonische Gepräge des spätmerkelschen Biedermeier.

Die SPD sucht derweil ihr Heil in der Vergangenheit. Anstatt sich den Problemen der europäischen Gegenwart zu stellen, hat das Team um Martin Schulz den beherzten Griff in die sozialdemokratische Mottenkiste gewagt und hofft wohl beim Wähler mit Altbekanntem zu punkten. Der Kanzlerkandidat fordert so emphatisch „abrüsten!“ als schrieben wir das Jahr 1982. Irgendwie muss ihm in seinen Brüsseler Jahren durchgerutscht sein, dass Deutschland (und seine westeuropäischen Verbündeten) seit Ende des Kalten Krieges massiv ihre Streitkräfte verringert haben. Ist eine weitere Verkleinerung des militärischen Potentials in Europa wirklich die richtige Antwort auf die Herausforderungen durch Putins Russland und die erratische Politik der USA? Wäre es für Deutschland nicht an der Zeit, gemeinsam mit Präsident Macron mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu schultern (ja, auch wenn das Geld kostet)? Diese Fragen können offenbar in einer Partei nicht diskutiert werden, die nicht in der Lage ist, sich aus der babylonischen Gefangenschaft zu lösen, in die ein früherer Vorsitzender sie geführt hat. Selbst die aufgeklärten außenpolitischen Köpfe der SPD halten sich in diesen Tagen der Rosneft-Debatte an das informelle Schweigegebot zum Thema Russland. Dabei wäre es spätestens jetzt an der Zeit, entschieden zu intervenieren und für sozialdemokratische Werte einzutreten. Doch dann müsste die SPD liebgewonnene Wahrheiten überdenken und womöglich eine unbequeme Debatte über die außenpolitische Orientierung in der Post-Schröder-Zeit führen und diesen Streit verschiebt man offenbar gern in eine ferne Zukunft. Dann lieber mit Schröder für Frieden und Abrüstung und den Krieg in Osteuropa ausblenden. So gilt bis auf weiteres: Irgendwann verstehen sie dort hoffentlich auch, dass man mit Waffen keine Probleme löst! Wir in Deutschland wissen das schon.

Grundsätzliche Herausforderungen

Spätestens jetzt mag mancher aufgeklärte Leser intervenieren und rufen: „Halt! Das stimmt doch gar nicht!“ Unsere Politiker haben doch in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder „klare Kante“ (wie besonders schlichte Positionierungen im Politsprech heißen) gezeigt. Einhellig haben sie die diktatorischen Ambitionen des türkischen Machthabers Erdogan gegeißelt und sogar das Auswärtige Amt – ein Hort des Dialogs coûte que coûte – hat festgestellt, dass die neue harte Linie gegenüber Ankara Wirkung zeigt. Die Bundeskanzlerin hat die Verantwortungslosigkeit der Trump-Administration vor gut gefülltem Bierzelt verurteilt und der SPD-Kandidat liefert sich auf Twitter mit dem amerikanischen Präsidenten leidenschaftliche Wortgefechte. Doch diese ad-hominem-Attacken auf die mehr oder weniger problematischen Figuren dieser Welt sind nicht nur ungleich verteilt (was ist eigentlich mit Assad oder Putin?), sie tragen auch nichts zur Lösung außen- und sicherheitspolitischer Probleme Deutschlands und Europas bei. Es handelt sich um vorhersehbare Empörungsrituale, von denen die politische Klasse offenbar glaubt, dass die Öffentlichkeit sie erwartet und goutiert. Und ein Bierzeltspruch oder ein Tweet formuliert sich ja auch schneller als eine Grundsatzrede.

Die Tatsache, dass die außenpolitischen Gewissheiten, die über Jahrzehnte Frieden und Wohlstand in Europa gewährleisteten, weggebrochen oder gefährdet sind, spielt in diesem Wahlkampf keine Rolle. Wenn das Gros der Politik sich dieser Debatte verweigert, dann sollte sie umso leidenschaftlicher von Journalisten, Wissenschaftlern und anderen Bürgerinnen und Bürgern geführt werden. Denn die politischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, weisen weit über die Personen hinaus, die die alte Ordnung zerstören.  Es sind grundsätzliche Fragen, vor denen wir stehen: Was sind in diesem Umbruch unsere Interessen? Wer sichert Deutschland und Europa? Wie gehen wir mit autoritären Mächten um? Wie schützen wir unsere liberale Ordnung gegen innere und äußere Feinde?

Kein Weg zurück

Deutschland muss sich im Zeitalter der autoritären Revolutionen neu positionieren. Dazu bedürfte es strategischer Überlegungen und mutiger Entscheidungen. Wir hätten die Möglichkeit, dass deutsch-französische Tandem zu einem Anker sicherheitspolitischer Stabilität auszubauen. Denn die Herausforderungen an die liberale Moderne verschwinden nicht. Ihre Gegner werden ihre aggressive Politik fortführen: Sie wissen, was sie wollen. Auch wenn die Politik das zu hoffen scheint: es wird kein Zurück in eine Welt vor Trump, Putin und Erdogan geben, in der Deutschland für viele Jahrzehnte zu seinem eigenen Glück und oft auch zu dem seiner Nachbarn außenpolitisch untergetaucht war. Diese Welt ist passé.