Was muss noch alles passieren, bis Deutschland und Europa die autoritäre Bedrohung aus Osteuropa begreifen und handeln? Mafiasysteme breiten sich aus, wenn man ihnen keinen Widerstand entgegensetzt.

Die Luftpiraterie über Belarus führt ein weiteres Mal die Schwäche der Europäischen Union und Berlins im Umgang mit Lukaschenka und Putin drastisch vor Augen. Warum erlauben sich die postsowjetischen Autokraten solche Grenzüberschreitungen? Weil sie gelernt haben, dass sie in der Ära Merkel keinen signifikanten Gegendruck zu befürchten haben. Dies hat sich in den vergangenen Monaten nochmals deutlich gezeigt, als die Demütigung des Auswärtigen Repräsentanten der EU in Moskau hingenommen wurde, die Verurteilung Alexei Nawalnys in einem Schauprozess akzeptiert und als unsere tschechischen Verbündeten in ihrem diplomatischen Konflikt mit Moskau im Regen stehen gelassen wurden. Weiterhin verteidigen deutsche Politiker – an vorderster Front die ostdeutschen Ministerpräsidenten – eine deutsche Sonderbeziehung zu Moskau um beinahe jeden Preis. Diese Signale wurden in Minsk und Moskau gelesen und nun hat man dementsprechend gehandelt: ein rechtsfreier Raum in Osteuropa wird von unserer Politik geduldet. Wo nur das Faustrecht gilt, nimmt sich der Stärkere sein Recht. 

Das Schurkenstück am Himmel über Belarus ist deshalb von besonderer Bedeutung, da das Land seit Jahrzehnten als Laboratorium autoritärer Herrschaft dient. Viele Dinge, die heute in Moskau wieder selbstverständlich sind – vom Kult des starken Mannes bis zu gefälschten Referenden – wurden zuerst in Belarus erprobt. Als Reaktion auf die Proteste des vergangenen Jahres hat sich das Regime hier besonders schnell radikalisiert. Die neue Logik lautet: auf Repression folgt noch mehr Repression. Da die Legitimität Lukaschenkas aufgezehrt ist, stützt er seine Herrschaft nun allein auf Angst und Gewalt. Eine parallele Entwicklung erleben wir auch in Russland. Und nichts deutet darauf hin, dass sich die Verhältnisse in absehbarer Zeit entspannen werden. Es geht nicht mehr um Dialog mit dem Kreml, wie die Berliner Politik behauptet, sondern es geht längst um Konfliktmanagement, Abschreckung und Eindämmung. 

Längst ist nicht mehr nur die Ukraine das Schlachtfeld zwischen dem Westen und den Autokraten. Wie die gestrigen Ereignisse zeigen, ist dieser Konflikt auch keine innere Angelegenheit von Belarus und Russland. Ihre eigenen Gesellschaften haben die Autokraten längst – bis auf wenige Mutige – unterworfen. Nun sind die Rechte und die Sicherheit von EU-Bürgern bedroht, besonders im Osten der Union, aber längst nicht nur dort. Die Regierungen müssen endlich handeln, um unseren Schutz zu gewährleisten. 

Im Bundestagswahlkampf spielen Außen- und Sicherheitspolitik bisher keine große Rolle. Dabei sind es von Berlin bis nach Belarus keine 800 km. Reflexartig fordern die Grünen und die SPD – trotz der angespannten Lage im eurasischen Krisenbogen – weiterhin militärische Abrüstung und berufen sich dabei gern auf Willy Brandt. Diese populistische Forderung blendet sowohl die Realitäten der Vergangenheit als auch der Gegenwart aus. Willy Brandt saß in den 1970er Jahre auf einem Sack voller Waffen und hatte eine starke Verhandlungsposition gegenüber Moskau. Heute hingegen befinden sich Brüssel und Berlin in einer Position der Schwäche gegenüber dem Kreml und seinen Vasallen in Minsk. 

Doch gibt es überhaupt jemand in Berlin und Brüssel, der bereit ist, ernsthaft über die autokratische Herausforderung im Osten Europas nachzudenken? Bequemer ist es sicherlich, den Kurs der Beschwichtigung fortzusetzen. Doch eines sollten wir wissen: autokratische Systeme sind wie die Mafia: Sie breiten sich dort aus, wo sie auf wenig Widerstand stoßen. Zur Zeit sind das Deutschland und Europa.