Gesetzliche Krankenkassen empfehlen Versicherten in ihren Mitgliedsmagazinen allerhand obskure Heilmethoden und schrecken auch vor unfundierten Ernährungstrends nicht zurück. Kranken wird so vermittelt, selbst schuld an der eigenen Misere zu sein. Aus liberaler Sicht ein Skandal.

Jüngst kam es zu einem Skandälchen rund um die „AOK on“, eines der zahlreichen Magazine, mit denen die gesetzlichen Krankenkassen unsere Papiertonnen füllen. Der „Münchner Merkur“ berichtete, das Blatt habe bereits im Mai in der üblichen kleinbürgerlichen Zeigefingermanier gewarnt, dass Netflix uns zu „autistischen Zombies“ machen würde.

Dass das nicht besonders sensibel ist, versteht sich von selbst, umso mehr von einer Krankenkasse – einer Einrichtung also, auf die viele Menschen mit autistischen Krankheitsbildern laufend angewiesen sind. Vollkommen zurecht bekam die AOK daraufhin von verärgerten Lesern in den sozialen Medien den Marsch geblasen. Bis heute hat sie sich jedoch geweigert, ihr Image im hauseigenen Fischeinwickler durch eine öffentliche Entschuldigung zu beflecken.

Homöopatischer Journalismus

Diese Kritik kratzt aber nur an der Oberfläche. Dass die AOK Menschen mit Autismus stigmatisiert, ist natürlich ein Skandal. Aber das könnte gar nicht passieren, würden die Krankenkassen es nicht für ihre Aufgabe halten, Publikationen zur Volkserziehung herauszugeben, deren Themenspektrum weit über den Rahmen medizinischer Informationen hinausgeht. Man mag sich gar nicht überlegen, was das alles kostet. So ein Heft, beispielsweise das „fit“-Magazin der DAK, enthält neben wichtigen Hinweisen, beispielsweise zur Grippeimpfung, auch Berichte über PR-Gags wie den „FITWOCH“ mit einem allem Anschein nach prominenten Bewegungscoach oder die Aktion „Bunt statt Blau“ – beruhigen Sie sich, es geht nicht gegen die AfD, sondern gegen Komasaufen.

Wer glaubt, solche Kalauer seien sicher eine absichtliche Doppeldeutigkeit, der überschätzt die Professionalität der zuständigen Redakteure erheblich. Artikel über „autistische Zombies“ passieren vor allem, weil sich die Textproduktion der Krankenkassenmagazine fast vollständig in dilettantisch hingerotzten Gemeinplätzen erschöpft. Im Sommerheft 2018 der DAK etwa ging es heuer um das Thema „gesunder Rücken“, das unter anderem mit einem fiktiven Chatgespräch zwischen einem gesunden und einem kranken Rücken abgehandelt wurde. Hier eine Kostprobe: „Ich melde mich ständig. Hilfeschrei. Aber dann werde ich mit Schmerzmitteln stillgelegt. Ich bin ihr einfach nicht wichtig. HEUL. Nur noch lästig.“ HEUL in der Tat! „Ehrlich, manchmal verstehe ich die Menschen nicht. Aktiv sein macht auch den Kopf frei. Führt zum Glücklichsein, alles geht besser von der Hand. Bester Ausgleich gegen Stress, egal ob privat oder beruflich.“

Zur Auflockerung der Mahnungen meines gestrengen Buckels gibt es auf der nächsten Seite einen „Witz“: „Treffen sich ein Läufer und Walker. Sagt der Läufer: ‚Und wie läuft’s?‘ Darauf der Walker: ‚Es geht!‘“. Schenkelklopfer. Vor allem wenn man währenddessen über die Höhe der Krankenkassenbeiträge nachdenkt.

Natürlich darf auch ein Artikel zu richtiger Ernährung in keinem Krankenkassenkäseblatt fehlen. Im DAK-Magazin empfiehlt ein Ernährungsberater, der nebenbei schamlos sein Buch promotet, „frische und ausgewogene Ernährung“ für den Rücken. Und ich hab die ganze Zeit mit BigMacs gegen meine Nackenschmerzen angekämpft!

Doch auch vor den ganz dicken Brettern scheut das „fit“-Magazin nicht zurück. Die krönende Frechheit ist ein Artikel über „Resilienz“: Eingeleitet mit den Schülern aus Parkland, schaltet er im Mittelteil zu Binsen hoch („Turbo-Gang, Digitalisierung, immerwährende Erreichbarkeit“), und bietet zum Schluss eine ganz besondere Erkenntnis an: „[D]ass wir sie haben können, diese Kraft, dass wir in der Lage sind, sie zu aktivieren, belegte […] der israelische Soziologe Aaron Antonovsky, der weibliche Überlebende des Holocaust untersuchte: Trotz aller erlittenen Demütigungen […] zeigte sich knapp ein Drittel seelisch stabil. Die gute Nachricht für uns ist also: Resilienz ist erlernbar.“

Na, wenigstens irgendjemand kann aus dem Holocaust lernen! KZ-Häftlinge, die nicht dem Druck ständiger Erreichbarkeit ausgesetzt waren, sind heute viel glücklicher!

Gesetzliche Gesundenkassen

Wohlfeilster, oberflächlicher Mist wird somit episch breitgetreten, während der Leser relevante Gesundheitsinformationen, etwa Kokolores wie neue, billige Behandlungsmethoden für HIV, mit der Lupe suchen muss. Ganz besonders wenig findet er ausgerechnet zum Thema Krankenkassenleistungen vor – für die wird stets auf die Webseite verwiesen. Schließlich ist das Krankenkassenmagazin kaum der richtige Ort, um über die Krankenkasse zu informieren.

Auch sonst bleibt der Zweck der Veröffentlichung jedoch im Dunkeln. Ahnen die Verfasser womöglich, dass ihr Werk als Auslegeware in Vogelkäfigen endet? Dass die kurzsichtige Versichertenschar ihr Geschreibsel eh nicht lesen kann, weil die Brille nicht erstattet wird? Glauben sie tatsächlich, dass der Leser noch nicht weiß, dass er eigentlich Sport treiben und gesund essen müsste?  Denken sie, dass irgendwem das immer gleiche Wort zum Sonntag wirklich weiterhilft?

Wohl kaum. Denn das Ziel dieser Zeitschriften wie auch der Krankenkasse an sich sind schon lange nicht mehr kranke Menschen, sondern gesunde.

Das AOK-Magazin richtet sich nicht an den Vater, der seit drei Wochen dafür kämpft, dass die Krankenkassen seinem autistischen Sohn eine weitere Runde Logopädie erstatten, es richtet sich an den Vater, der Bestätigung dafür sucht, dass sein Sohn zu viel fernsieht. Es richtet sich nicht an eine schwer traumatisierte Überlebende häuslicher Gewalt, die glaubt, es gehe ihr nicht schlecht genug für Therapie, sondern an die kaufmännische Angestellte mit zu vielen Überstunden, die sich gegen ihren Stress Bachblüten verschreiben lässt. Krankenkassen widmen sich lieber den eigentlich Gesunden; deren Lebensgefühl und Einstellung zur Gesundheit spiegeln sich dann auch in den Druckerzeugnissen wider. Frei nach Torberg: Sie sollen es lesen wollen. Sie könnten es zur Not auch selber schreiben.

Deshalb werben Krankenkassen auch weniger mit ihren Leistungen für Kranke, sondern lieber mit trendigen Sport- und Ernährungskursen oder mit Globuli und Kinesiotape anstatt beispielsweise mit besonderen Zusatzleistungen für Parkinsonkranke. Im Fokus stehen heute die Versicherten, die Gesundheit als Lebensstil ansehen und nicht als Existenzfrage.

Doktor Eisenbart an der Arbeit

Wir sehen hier eine unheilige Allianz wirtschaftlicher Interessen – Gesunde kosten weniger und zahlen mehr ein – und der Anbetung des Heiligen Präventius in der medizinischen Philosophie unserer Zeit. Natürlich sollten Menschen sich bewegen und ausgewogen ernähren – dazu gibt es genügend Studien – doch es ist größenwahnsinnig zu glauben, dass das kleinkarierte Herumgespieße der Krankenkassen (im Verbund mit zugehörigen öffentlich-rechtlichen Fernsehformaten) irgendwen von einem gesünderen Lebensstil überzeugt. Abgesehen von der fragwürdigen strategischen Ausrichtung ist das Vorgehen auch pädagogisch verheerend, vermittelt es doch die grundlegend falsche Idee, dass nur krank wird, wem es an Disziplin mangelt. Wie muss sich jemand fühlen, der beispielsweise an Multipler Sklerose leidet, wenn er sich gebetsmühlenartig den Vortrag „viel gesundes Essen und Bewegung an der frischen Luft, machen Sie hier den Kurs mit Rosi Mittermaier“ anhören darf und die Krankenkasse ihn zugleich bei jeder Anfrage wie einen Bittsteller behandelt?  Wer dem Einzelnen weitreichende Verantwortung für seinen Gesundheitszustand zuspricht, der nimmt billigend im Kauf, dass Menschen sich schuldig fühlen, wenn sie dann doch krank werden oder dass Ärzte Menschen mit ungesundem Lebensstil, beispielsweise übergewichtige Patienten, nicht richtig untersuchen oder behandeln. Das kann lebensbedrohlich werden – auch dazu gibt es Studien.

Ursprünglich war es einmal die Funktion der Krankenkasse, uns vor dem sozialen und finanziellen Absturz zu bewahren, wenn Körper oder Geist uns im Stich lassen und nicht, uns eine wie auch immer geartete Lebensphilosophie anzuerziehen. Eine Lebensphilosophie zumal, die längst zum Selbstläufer geworden ist und nur noch minimal evidenzbasiert. Wäre sie das, dann wären die Krankenkassen wesentlich vorsichtiger damit, naturgemäß unfundierte Ernährungstrends anzupreisen und überflüssige alternative Heilmittel unters Volk zu bringen.

Als Liberale bin ich dabei hin- und hergerissen. Einerseits begrüße ich es, wenn die Krankenkassen gezwungen sind, nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu arbeiten, weil sie dadurch effizienter sind und die Leistungen durch den Wettbewerb billiger werden. Andererseits gruselt mir, wenn eine mit staatlichem Geld ausgestattete Einrichtung versucht, mir reinzuquatschen wenn es darum geht, wie ich mein Leben zu führen habe, was ich essen soll, wie ich mich fühlen soll, was ich in meiner Freizeit zu tun habe.

Würden sie sich stattdessen wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, dann könnten dabei eigentlich alle nur gewinnen, auch diejenigen, die im Moment noch glauben, ihrem Bandscheibenvorfall mit Leinsamen vorbeugen zu können. Die werden nämlich auch irgendwann alt und kosten dann Geld, das die Krankenkasse schon für’s Philosophieren verpulvert hat.