„Der Spiegel“ verteidigt seine Enthüllungsstory über eine pro-israelische Lobby in Deutschland. Dabei verstrickt er sich tief in einen journalistischen Stil, den das Magazin meisterhaft beherrscht – und der höchst problematisch ist.

Soll noch mal einer sagen, in der Zeitungskrise werde nicht mehr in Recherche investiert. „Der Spiegel“ beschäftigte für seine jüngste Ausgabe gleich ein halbes Dutzend Mitarbeiter damit, eine deutsch-jüdische Lobby zu enttarnen, die eine „andere Nahostpolitik“ in Deutschland durchsetzen will. Das Ergebnis rechtfertigt den Aufwand allerdings nur bedingt. Der zentrale Vorwurf, der deutsch-jüdische Verein Werteinitiative und der pro-israelische Verein „Naffo“ (jeweils Zuordnungen des „Spiegel“) hätten den Anti-BDS-Antrag im Bundestag geschrieben oder mitgeschrieben, trifft nicht zu. Für die Behauptung, beide Vereine hätten „bemerkenswert großen Einfluss“ auf die deutsche Nahostpolitik gibt es keinen Beleg. Eigentlich war es das. Zu diesem Text ist schon genug gesagt worden, es lohnt nicht, ihn weiter zu zerpflücken. 

Inzwischen jedoch hat die Chefredaktion des „Spiegel“ eine Stellungnahme als Reaktion auf die vielfältige Kritik an dem Artikel veröffentlicht. Sie ist derart bemerkenswert, dass es dann doch lohnt, sich noch einmal damit zu beschäftigen. Denn die „Spiegel“-Chefs verwenden zu ihrer Verteidigung zwei ungewöhnliche Argumente. Eines lautet, man habe den Text ja eigentlich gar nicht schreiben wollen. Vielmehr macht die Chefredaktion klar, dass die Reporter erst von einigen  Bundestagsabgeordneten auf die Spur gesetzt wurden, die „kritische Anmerkungen“ zu den beiden Vereinen gemacht hätten. 

Diese nonchalanten Art, seine Quellen öffentlich in Mithaftung für einen journalistischen Text zu nehmen, birgt eine echte Enthüllung. Offenbar gibt es Abgeordnete im Deutschen Bundestag, die für sich zwar in Anspruch nehmen, besonders engagierte Freunde Israels zu sein – die aber, wenn sie von anderen besonders engagierten Freunden Israels um politische Unterstützung gebeten werden, deren Wünsche nicht etwa höflich zurückweisen, sondern sich bei „Spiegel“-Redakteuren über eine schockierende Einmischung ausweinen. Was hinter diesem Vorgang steckt, sollte „Psychologie heute“ eine Titelgeschichte wert sein.

Blättern Sie einfach um!

Abgesehen davon, dass man ihn eigentlich gar nicht schreiben wollte, ist das zweite wichtige Argument der „Spiegel“-Chefredaktion für den Artikel, dass man ihn eigentlich auch gar nicht lesen muss. Denn all die skandalösen Vorwürfe, die die Kritiker in dem Text gelesen haben wollen, stünden ja so gar nicht drin. Wenn der „Spiegel“ aber gar keine jüdisch/israelische Verschwörung herbeischreibt, bleibt offen, was an dem Text „Gezielte Kampagne“ so lesenswert sein soll, dass er sechs Mitarbeiter und drei Seiten rechtfertigt. Bitte blättern Sie um, es gibt hier nichts Neues?

Fairerweise sei gesagt: Grundsätzlich hat die „Spiegel“-Chefredaktion nicht ganz unrecht. Viele Menschen neigen dazu, in Texten Dinge zu lesen, die sie lesen wollen – auch, wenn diese Dinge so gar nicht geschrieben wurden. Es reicht oft, dass ein bestimmtes Signalwort auftaucht, um bei voreingenommenen Lesern eine heftige Reaktion und Debatten auszulösen, die sich schnell vom Ursprung, der Textaussage, entfernen. Jeder Redakteur kennt aus Leserbriefen dieses Phänomen, das durch die Erregungswellen bei social media weiter verstärkt wird. Nicht zuletzt diese Kolumne kann ein Lied davon singen.

„Der Spiegel“ jedoch ist das falsche Medium, das vorsätzliche Missverstehen von Artikeln als Missstand anzuprangern. Denn er setzt seit Jahrzehnten ganz bewusst auf einen Schreibstil, der Leser dazu bringen soll, die Schlüsse der „Spiegel“-Autoren zu teilen, selbst wenn es voreilige oder sogar falsche Schlüsse sind. Dies gelingt, indem Dinge, die nichts oder nur wenig miteinander zu tun haben, so aneinandergereiht oder zusammengehängt werden, dass beim Leser der Eindruck entsteht, er würde Zeuge einer spektakulären Enthüllung. Indem eine Beobachtung oder Behauptung, die faktisch nicht belegt ist, mit weiteren Beobachtungen oder Behauptung zusammengebracht wird, wird im Gesamtkonstrukt letztlich ein Beleg suggeriert, den es gar nicht gibt. Ideal funktioniert diese Formulierkunst mit Hilfe einer Komplizenschaft zwischen Autor und Leser. Beide teilen eine offen oder auch nur unterschwellig angedeutete Haltung. Der Text hat die Aufgabe, die Haltung zu bestätigen. Affirmation statt Information. „Gezielte Kampagne“ ist voller Lehrbeispiele für diesen manipulativen Stil. Nahezu perfekt vorgeführt wird er in folgender Passage: 

Die israelische Regierung feierte den Bundestagsbeschluss dann auch wie eine Trophäe. »Bahnbrechend« und den »bisher bedeutsamsten Schritt« nannte ihn Gilad Erdan, der Minister für Strategische Angelegenheiten, bei einer Konferenz in Jerusalem.

Erdan steht im Mittelpunkt des israelischen Kampfs gegen die BDS-Bewegung und bedient sich dabei auch zweifelhafter Methoden. Jüngst musste er zugeben, eine Organisation gegründet zu haben, die verdeckt Kampagnen gegen die Boykott-Initiative unterstützen soll.

Umgerechnet rund 30 Millionen Euro hat das Ministerium dafür bereitgestellt, selbst der Geheimdienst Mossad soll laut Medienberichten involviert sein. Man habe vor allem in Europa und den USA Druck auf Banken ausgeübt, um die Konten von Gruppen zu schließen, die BDS unterstützen. Sogenannte Frontorganisationen in den Ländern sollen geholfen haben.

Der Verdacht liegt nahe, dass auch die »WerteInitiative« oder Naffo zu jenen »Frontorganisationen« gehören könnten.

Zwischen dem, was dieser Textabschnitt an Zusammenhängen zwischen Israels Regierung, dem Mossad und den beiden deutschen Vereinen suggeriert und dem, was er an Zusammenhängen belegt, liegen Welten. Er suggeriert fast alles und belegt so gut wie nichts. Das gibt die „Spiegel“-Chefredaktion in ihrer Stellungnahmen letztlich sogar zu. Darin heißt es zur Verteidigung des Artikels:

Dass der israelische Minister für Strategische Angelegenheiten, Gilad Erdan, eine Organisation gegründet hat, die verdeckt gegen Boykottinitativen gegen Israel vorgeht, hat die seriöse israelische Zeitung „Haaretz“ enthüllt. Der Minister selbst hat nach Berichterstattung israelischer Medien zugegeben, dass sein Ministerium mit dieser Organisation ein Kooperationsabkommen abgeschlossen hat, um diese Teile der „Agenda und Strategie“ des Ministeriums umsetzen zu lassen. Dass der Mossad an Erdans Kampagne beteiligt ist, berichten übereinstimmend seriöse Medien in Israel (etwa hier und hier). Wir behaupten aber an keiner Stelle, dass die beiden deutschen Vereine vom Mossad gesteuert würden.

Das stimmt. Wenn jedoch der „Spiegel“ dies nicht behauptet und nicht behaupten will: Warum führt er die Mossad-Story an dieser Stelle des Textes auf? Zudem wehrt die Chefredaktion nur den härtesten aller möglichen Vorwürfe gegen diese Passage ab. Dass der „Spiegel“ eine direkte Steuerung der beiden Vereine durch den Mossad behauptet habe, werfen ihm viele Kritiker so ja gar nicht vor. Es reicht schließlich schon, dass der „Spiegel“ überhaupt eine fragwürdige Kooperation zwischen Israels Regierung und den beiden Vereinen in den Raum stellt, ohne sie belegen zu können. Diese Kritik unterschlägt die „Spiegel“-Chefredaktion jedoch geschickt. 

Methode Weglassen

Auch dieses gezielte Weglassen hat Methode und macht die Suggestion erst möglich, die in der von der Redaktion so vehement verteidigten Geschichte erzeugt wird. Neben der Anti-BDS-Resolution im Bundestag wird darin auf ein zweites Fallbeispiel ausführlicher verwiesen, das den „bemerkenswerten Einfluss“ der beiden kritisierten Vereine belegen soll. Im Juni 2017 strahlte der WDR eine Antisemitismus-Dokumentation dann doch aus, die ursprünglich still und heimlich wegen angeblich handwerklicher Mängel verklappt werden sollte. Um den Schluss nahezulegen, schon damals hätten die Werteinitiative und Naffo ihre Finger im Spiel gehabt, zitiert der „Spiegel“ eine Handvoll Tweets von Politikern, die ebenfalls im Juni 2017 bei einem Essen mit Elio Adler, dem Gründer der Werteinitiative, dabei waren. Sie hätten „in auffallend ähnlichem Wortlaut“ für eine Ausstrahlung des Films Druck gemacht, so der „Spiegel“. Das Spendendinner zeige, „wie subtil die Einflussnahme wirken kann“. 

Was der „Spiegel“ in diesem Zusammenhang jedoch komplett unterschlägt, ist, dass im Juni 2017 nicht nur fünf Abgeordnete zum Thema Antisemitismus-Doku getwittert haben. Stattdessen herrschte eine wochenlange Debatte quer durch die gesamte deutsche Medienlandschaft, WDR und Arte verstrickten sich tief in einer widersprüchlichen Kommunikationsstrategie, BILD sendete den umstrittenen Film am 13. Juni auf eigene Faust auf ihrer Webseite. Schließlich, am 16. Juni, kündigte der WDR an, den Film in einer kommentierten Fassung doch auszustrahlen. Warum bleiben sechs „Spiegel“-Mitarbeitern vom wohl größten deutschen Medienskandal des Jahres 2017 nur ein paar Tweets ausgerechnet von fünf SPD- und CDU-Politikern in Erinnerung, die von einem Israel-Freund zum Essen eingeladen worden waren? Vielleicht ja aus demselben Grund, aus dem die Autoren in ihrem Text das genaue Datum des Spendendinners weglassen. Das Essen fand erst am 19. Juni statt – also drei Tage, nachdem der WDR sich umentschieden und die Ausstrahlung des Films angekündigt hatte. Verfügen die pro-israelischen Lobbyisten etwa über eine Zeitmaschine, um Eingeladene nach dem Dessert rückwirkend gezielte Twitter-Kampagnen starten zu lassen?

Statt einen solch ungeheuerlichen Verdacht in die Welt zu setzen, lässt der „Spiegel“ das exakte Datum des Essens lieber weg, spricht lediglich zurückhaltend von einer „subtilen Einflussnahme“ und hält selbstbewusst sowohl an seiner Recherche als auch an seinem Stil fest, in dem der Mossad immer genau dann auftaucht, wenn er gebraucht wird.

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