Weshalb der deutsche Diskurs zur Causa Handke weniger progressiv denn völkisch ist.

In der deutschen Debatte um Peter Handke – in den Spalten der Feuilletons und in den reflektionsgesättigeren Räumen der sogenannten sozialen Netzwerke – wird die Freude nicht verborgen: Schaut her, wir können also auch anders; differenzierter, toleranter, ambivalenz-bewusster. Solch ostentative Lockerheit – weit jenseits hetzerischer AfD-Rhetorik und einer eschatologisch aufgepeitschten Klimadebatte – soll vermutlich aufzeigen, dass jene oftmals mit Deutschland assoziierte manichäische Prinzipienreiterei zumindest innerhalb der gebildeten Stände inzwischen hoffnungslos demodé sei und auch hier gelte: Diversität über alles. Freilich besteht die vertrackte Ironie darin, dass man sich just die „Causa Handke“ für diese Exerzitien ausgesucht hat und nun – als wäre es dann doch wieder eine deutsche Endlosschleife – Stellung nehmen muss zu den ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien und zum Massaker von Srebrenica.

Selbstverständlich wird dieses nicht geleugnet und auch Peter Handkes damalige als „proserbisch“ beschriebene (Schreib-)Haltung nicht völlig zugunsten der jetzigen Nobelpreis-Ehrung kleingeredet. Gerade deshalb fällt auf, welche Vokabeln stattdessen im Schwange sind: „Widersprüchlich“ sei der Poet, „zeitweilig verrannt“ habe er sich und „missverständlich ausgedrückt“ in – so klöppelt es sich der preisgekrönte Autor Eugen Ruge zurecht – „Texten eines Zweifelnden, die mitunter auch zweifelhaft sind“. Auch der Schriftsteller Thomas Melle, ebenfalls ein Prominenter im deutscher Literaturbetrieb, verteidigt keineswegs Handkes unsägliche Verspottungen muslimisch-bosnischer Lagerhäftlinge oder dessen Rede bei der Beerdigung des Gewaltherrschers Milosevic, sondern gibt feinnervig zu Protokoll, hierbei handele es sich um eine „zu kritisierende und schon tausendmal kritisierte Gegenposition“, um „eine auch für mich befremdliche Perspektive, die aber vor allem mit Repräsentationskritik und der Transponierung von Wahrnehmung und Sprache zu tun hat“.

Salopp gefragt: Ist das noch Heidegger oder bereits trivialisierter Baudrillard, postmoderner Werte-Relativismus und gleichzeitig die neueste Camouflage für jene devote Zipfelmützigkeit, die ihren transponierenden „Dichterfürsten“ seit jeher alles durchgehen lässt, längst auch gern mit dem schein-emanzipatorischen Hinweis auf die „Autonomie des Kunstwerks“? Was vor allem bemerkenswert ist: Ein dezidiert linksliberal-pazifistisch gestimmtes Kulturmilieu, das ansonsten bei jeder Kritik islamistischer Alltagsinfiltration verlässlich „Islamophobie“ schreit, verrät in seinem fein abgewogenen Handke-Lob-und-Tadel nun noch einmal das einst unter westlichem Wegsehen von serbischen Scharfschützen und Artilleristen im Wortsinn zu Tode geschossene multi-ethnische Sarajewo. Vermeintliche „Differenzierung“ nämlich verwandelt sich in verbale Gewalt, sobald Menschen, Orte, historische Geschehnisse und unbestreitbare Tatsachen in einem unguten Sinne als „diskussionswürdig“ erklärt werden – als wäre Realität lediglich eine Option, über die sich völlig folgenlos schwadronieren ließe. („Alternative Fakten“, nannte dies, hochfahrend affirmativ, Donald Trumps einstige Beraterin Kellyanne Conway.)

Spätestens dann, wenn Eugen Ruge in Handkes skandalösen Auslassungen – die, wie man inzwischen weiß, keinesfalls mit Milosevic‘ Ableben geendet hatten – eine vermeintlich berechtigte Kritik am „Neoliberalismus“ und der „Anmaßung des Westens“ wahrnimmt, grüßen wieder verlässlich die ewig Untoten einer rechts-links anschlussfähigen Zivilisationskritik und eines Kulturpessimismus, den bereits vor Jahrzehnten der jüdische Antinazi-Emigrant Fritz Stern eindringlich als politische Gefahr und Einlasstor für Demokratieverachtung und Geschichtsrelativismus beschrieben hatte. Verblüffend, wie wenig neu der derart freihändige Umgang mit Fakten ist. Schon im Jahre 1949, bei ihrem ersten Deutschland-Besuch nach ihrer Flucht nach Frankreich und in die USA, kam die Philosophin Hannah Arendt zu einem Fazit, das inzwischen aktueller denn je ist: „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. Dies ist ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden (man schleppt ja normalerweise nicht immer Nachschlagewerke mit sich herum), sondern vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit, dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.“

Selbst das auch jetzt wieder eifrig kolportierte Missverständnis, Peter Handkes damalige Positionierung sei „proserbisch“ gewesen, schöpft unbewusst aus einem Fundus, in dem nicht etwa das Individuum zählt, sondern die Chimäre eines homogenen „Volkskörpers“. Was aber ist dann mit jenen Tausenden junger Serben, die sich seinerzeit durch Flucht ins westliche Ausland dem mörderischen Kriegsdienst entzogen  hatten, was mit jenen Hunderttausenden, die schließlich im Oktober 2000 in Belgrad auf die Straße gegangen waren, um das Milosevic-Regime hinweg zu demonstrieren? All diese Menschen – ganz zu schweigen von serbischen Schriftstellern und unbestechlichen Zeitzeugen wie etwa Bora Cosic, David Albahari oder Ivan Ivanji – kommen sowohl bei Handke wie auch bei dessen Schönrednern noch nicht einmal in Nebensätzen vor. Höchste Zeit, eine deutsche „Perspektive“, die sich mit beträchtlicher Selbstgerechtigkeit als progressive Diskurs-Meisterin geriert, auf ihre unreflektierten völkischen Wurzeln anzusprechen.

Marko Martin, Schriftsteller in Berlin, veröffentlichte Ende 2018 das literarische Tagebuch  „Das Haus in Habana. Ein Rapport“ (Wehrhahn  Verlag) und im Oktober 2019 den Essayband „Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ (Die Andere Bibliothek).

Der vorliegende Text erschien zuerst am 29.10.2019 in der NZZ – Neue Zürcher Zeitung.