Wozu noch auf Fakten Rücksicht nehmen, wenn die eigene Phantasie noch viel schöner ist? Wie „Stern“-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges mit Verschwörungstheorien den Diskurs vergiftet.

In seiner neuesten Stern-Kolumne bietet Hans-Ulrich Jörges, Journalist und TV-Dauergast, der Welt folgende alternative Erklärung für den Giftgasanschlag auf den früheren russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julija an:

Cui bono – wem nützt es?, ist die erste Frage, die in solchen Fällen zu stellen ist. Hätte Putin den Befehl erteilt, wäre der ­Anschlag eine Selbstanzeige gewesen. Die verheerenden Folgen sprechen dagegen: neue Sanktionen aus den USA gegen russische Großinvestoren, Absturz des Rubel wie der russischen Börse und Turbulenzen bis in Schweizer Konzerne. Wer also könnte daran ein Interesse haben? Vielleicht – bitte, das ist reine Theorie! – der ukrainische Geheimdienst, der aus gemeinsamer sowjetischer Vergangenheit noch Zugriff auf Nowitschok hat. Der Anschlag fand jedenfalls zwei Opfer: Skripal und Putin. Genau das, mit Putin als eigentlichem Ziel, könnte der Plan gewesen sein.

Und wo Jörges schon mal seiner Phantasie freien Lauf lässt, zaubert er auch gleich noch eine alternative Erklärung für den jüngsten Giftgaseinsatz in Syrien aus dem Hut:

Cui bono zu fragen empfiehlt sich auch in Syrien. Am 30. März kündigt Trump überraschend den Abzug der US-Truppen an: „Um Syrien sollen sich nun andere Leute kümmern.“ Am 4. April treffen sich die Präsidenten Russlands, des Iran und der Türkei in Ankara, als neue Herren in ­Syrien. Der Russe und der Iraner sind mit Assad verbündet. Am 1. April stimmen die islamistischen Rebellen der Aufgabe der Stadt Duma zu – Assad befindet sich auf der Siegerstraße. Und dennoch lässt er dort am 7. April, über dem letzten faktisch schon ­eroberten Rebellennest in der einst heftig umkämpften Region Ost-Ghuta, Giftgas abwerfen? Zu welchem Zweck? Um Trump doch noch auf dem Kriegsschauplatz zu halten? Das ist widersinnig. Geradezu verrückt. Ein Interesse, die USA in Syrien zu halten, womöglich mit einer Inszenierung, hätten ganz andere. Israel. Oder Saudi-Arabien. Oder Islamisten, die aus diesem Kreis gegen Assad bewaffnet wurden.

Jörges dreht frei. Während die berühmt-berüchtigten Sudelseiten des Internets wie etwa Alex Jones‘ Infowars.com noch halbseidene Indizienketten aufbauen, um ihre Verschwörungstheorien zu unterfüttern, löst Jörges sich von jeder erfahrbaren Wirklichkeit und bietet allein den alten Taschenspielertrick des „Cui bono“ auf.

Mit derselben Berechtigung, mit der Jörges die Behauptung in die Welt setzt, der Giftgaseinsatz in Syrien könnte auch von Israel inszeniert sein, könnte man auch behaupten, dass der Mossad das deutsche Leitungswasser mit LSD versetzt. So könnte man immerhin das Zustandekommen von Jörges‘ jüngster Kolumne erklären. Allerdings tut der Mossad das nicht.

Seit Jahren wird in Deutschland darüber gestritten – Stichwort: Netzwerkdurchsetzungsgesetz – wie die sozialen Netzwerke am besten reguliert werden sollten, um Lügen, Hass und Wahn aus der öffentlichen Debatte zu bekommen. Dummerweise sind es aber manchmal auch die als Gatekeeper gepriesenen Medien, die den verschwörungstheoretischen Irrsinn in die Gesellschaft tragen. Und das mit einer Reichweite, von der 99,9 Prozent aller Facebook- und Twitter-Nutzer nur träumen können.

Wäre – bitte, das ist reine Theorie! – Hans-Ulrich Jörges Amerikaner, nicht Deutscher, seine Landsleute würden ihn als conspiracy nutjob bezeichnen.