Zum Wesenskern einer rechtsstaatlichen Demokratie gehört es, dass Menschen die Freiheit und das Recht haben, zu glauben, was sie wollen. Für eine offene Zivilgesellschaft gilt: Der Bürger darf seinen Gott – oder mehrere Götter haben. Der Staat aber muss gottlos sein.

Im Mai vorigen Jahrs feierte Deutschland sich selbst. Das Grundgesetz wurde Siebzig. Der Bundespräsident, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, die üblichen Verdächtigen der politischen Klasse feierten unser Grundgesetz, im ZDF gab es ein öffentlich-rechtliches Lob vom  Chefredakteur – in kompakten 55 Sekunden.

Und tatsächlich durften wir diesen Geburtstag mit Freuden feiern. Wir wissen: die dort formulierten und garantierten Grundrechte wie Pressefreiheit,  Demonstrationsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auch Religionsfreiheit  –– alle diese und andere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Wir können uns glücklich schätzen – und sollten sie schützen. Doch bei einigen der Artikel braucht es Nachbesserungen. Dringend.

Beispielsweise: Endlich im Artikel 20 dem bislang nur implizit in der Verfassung verankerten Gebot der weltanschaulichen Neutralität durch eine explizite Erwähnung die angemessene Bedeutung zu verschaffen. Die Bundesrepublik ist ein demokratischer Rechtsstaat – kein christlicher Gottesstaat. Staatliche Reformen, Regelungen oder Absichten können gerne mit dem Sozialstaatsprinzip, mit Rechtsstaats-Garantien – aber nicht mit dem Christentum begründet werden! Wir begegnen diesem Irrtum immer wieder in der Politik, der Justiz und den Medien. 

Wir begegnen dieser Komplizenschaft – für alle sichtbar und hörbar – alle vier Jahre als Soundtrack zum Stapellauf der neuen Regierung. Zwölf Bundesministerinnen und -minister – beendeten ihren Amtseid mit der Formel »So wahr mir Gott helfe«. Drei der neuen Minister nutzten die Formel ohne religiöse Beteuerung. Bundesfinanzminister Scholz, die damalige Bundesjustizministerin Barley und Bundesumweltministerin Schulze (allesamt SPD). Sie beließen es bei einem: „Ich schwöre es!”.  

Wir erinnern uns: Schon Kanzler Schröder hatte einst auf das religiöse Beiwerk verzichtet, ebenso wie seine grünen Minister Fischer und Trittin.  Die moralischen Grundwerte des rot-grünen Abendlandes –– das dürfen wir festhalten – gerieten trotz leicht atheistischer Politik-Einfärbung nicht in ernsthafte Gefahr.   Immerhin.

Auch ohne Gottesschwur: Gott mischt kräftig mit in der deutschen Politik. In den Parlamenten, den Parteien, den Institutionen. Dabei wird so getan, als hätte er ein ganz natürliches Anrecht darauf, als gehörte er zur politischen Grundausstattung, zum politischen Personal der Bundesrepublik, zur »deutschen Demokratie«.

Dass unsere heutige Demokratie un-streitbar auch auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen.  Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden.  Das dürfen wir festhalten.

Nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue

Hierzulande herrscht Glaubensfreiheit. Ob ein Mensch Christ oder Muslim, Buddhist oder Jude ist, darf keine Rolle dabei spielen, ob er als Bürger dieses Landes willkommen ist. Das Ideal eines Staatsbürgers sieht so aus: er sollte die abendländische Trennungsgeschichte von Staat und Kirche akzeptieren, die Werte der Aufklärung respektieren und die Gesetze dieses Staates achten. Das reicht. 

Wer Beamter, Staatsanwalt oder Richter werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran. Deutschland ist ein Verfassungs- und kein Gottes-Staat, das ist die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue. 

Die Trennung von Kirche und Staat findet dennoch nicht statt: nicht in der Gesetzgebung, nicht in der der Fiskalpolitik, nicht in der Medienpolitik, schon gar nicht in den Hochämtern und Niederungen der Politik. Nach wie vor genießen die Kirchen eine Vielzahl von Privilegien, die eklatant gegen das  staatliche Neutralitätsgebot verstoßen.  

Dabei war einst – mit dem Ende des Kaiserreiches – eine Trennung von Staat und Kirchen vereinbart worden. So ist in der Weimarer Verfassung von 1919 und im Grundgesetz ausdrücklich festgelegt, dass die historischen Staatsleistungen an die Kirchen abzulösen sind. Das ist bis heute nicht geschehen. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden aus allgemeinen Steuermitteln von allen – also auch konfessionslosen Bürgern – über 17 Milliarden Euro an die beiden Großkirchen überwiesen. Allein im Jahr (2018) waren es 538 Millionen Euro. Diese alljährlich gezahlten Mittel werden überwiegend zur Bezahlung von Gehältern und Pensionen für Seelsorgegeistliche, Bischöfe, Pfarrer, Generalvikare und Bischofssekretäre verwendet. Die Kirchen erhalten dieses Geld zusätzlich zu ihren Kirchensteuer-Einnahmen in Höhe von aktuell jährlich 12,5 Milliarden Euro (2018). Einige evangelische Landeskirchen erheben außerdem ein geringfügiges Kirchgeld von Gemeindemitgliedern, die nicht steuerpflichtig sind. Im ländlichen Raum werden vereinzelt Beiträge als Zuschlag zur Grundsteuer erhoben. Dieses Aufkommen betrug 2018 laut der EKG bundesweit rund 30,1 Millionen Euro. So viel zur finanziellen Grundversorgung. 

Stille Feiertage im Gottesstaat 

In Bayern ließ etwa Ministerpräsident Söder in Behörden und Schulen das Kruzifix anbringen. An »Allerheiligen«, einem katholischen Feiertag,  herrscht im Land Tanzverbot. Nach Artikel 3 des Bayerischen Feiertagsgesetz sind an sogenannten »stillen Feiertagen« öffentliche Tanzveranstaltungen verboten. Dazu zählen: der Volkstrauertag, der Buß- und Bettag, der Totensonntag, an Heiligabend, der Aschermittwoch, der Gründonnerstag, sowie Karfreitag und Karsamstag. Besonders restriktiv sind die Einschränkungen am Karfreitag, an dem die Behörden – nicht nur im  Alpenland – keinerlei Ausnahmen zulassen: 

„In den meisten Musiksparten gibt es eine Auswahl stiller, ruhiger Titel, die zum Charakter des Tages passen können”, lässt etwa die Stadt München auf ihrer Internetseite verlauten. Die Programm-Macher im öffentlich-rechtlichen Rundfunk halten sich  im vorauseilenden Gehorsam daran.  Sie zügeln Sound und Rhythmus. Die Vorgabe: »Jazz ja, Hardrock nein!

Wir wollen auch hier festhalten: Es sich handelt sich um keine evangelikale Bibel-Frequenz, sondern um  den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – der von uns allen, also auch von Konfessionslosen und Ungläubigen, finanziert wird.  

Und wir kennen alle das »Wort zum Sonntag« – eines der ältesten Fernseh-Formate des Deutschen Fernsehens. Die Sendung steht beinahe schon unter Denkmalschutz. Jeden Samstagabend, meist nach den Tagesthemen, gibt es für die christlich-abendländische TV-Nation vier Minuten geistige Durchlüftung. Immer im Wechsel, darf ein evangelischer Pfarrer mal über die Wohltaten Luthers referieren, mal ein katholischer Kollege die Jungfrau Maria loben. Andersgläubige und Atheisten haben keine Rederecht.

Das alles ist in unseren Rundfunkgesetzen geregelt. Diese verpflichten die Sender dazu, Gottesdienste, Morgenandachten und allerlei andere Glaubens-Botschaften auszustrahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren und finanzieren diese Sendungen selbst – also mit Geld aus Gebühren, die alle bezahlen, auch Konfessionslose und Ungläubige. 

Noch einmal: Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat.  Ob eine religiöse  Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen kann, darüber herrscht muntere Unstimmigkeit. Mitunter sogar heftiger gesellschaftlicher und politischer Streit.

Erinnert sei etwa an die hitzige Debatte, ob eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder aber eine schmerzhafte Körperverletzung ist? Auslöser: Ein Gerichtsurteil, dass eine muslimische Beschneidung als „einfache Körperverletzung“ wertete. Es waren Vertreter der Religionsgemeinschaften, die das Urteil als eklatanten Angriff auf die Glaubensfreiheit werteten. Der Deutsche Bundestag verabschiedete vor ziemlich genau sieben Jahren – im Rekordtempo – ein »Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes« und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Dieses parlamentarische Schnellverfahren und das Abnicken des Ethikrates nannte der Strafrechtler Reinhard Merkel »einen Sündenfall des Rechtsstaats«…

Das Grundgesetz sollte gottlos sein

Es geht hier nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das  Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsgelder. Es muss Schluss damit sein, dass Bischofsgehälter aus dem allgemeinen Steuertopf bezahlt werden, dass die Kirchen das Arbeitsrecht aushebeln können, dass schwerstkranken Menschen das Recht verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben.

Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser  Grundgesetz sollte gottlos sein. Es ist an der Zeit ist, die „Kirchenrepublik Deutschland“ hinter uns zu lassen und dafür zu sorgen, dass aus einem Verfassungstext endlich eine Verfassungswirklichkeit wird.

Welche Rolle also soll Religion heute spielen? So wenig wie möglich. Nach wie vor lehren sie vor allem das Fürchten, stehen für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet. Der Irrsinn himmlischer Bodengruppen ist grenzenlos. Man fragt sich: Woher aber kommt die Sehnsucht nach einem Gott, einer Religion, die stets etwas huldigt,  das oberhalb und jenseits des irdischen Daseins steht? Woher der Glaube an eine heilige Jungfrau Maria, der »Unbefleckten«; woher der blinde Gehorsam gegenüber einem Gott, der den Menschen so sehr misstraut, dass er ihnen die Vernunft verbietet? Warum wird überall auf der Welt so andauernd und inbrünstig zu einem Gott gebetet, in dessen Namen gemordet und gemetzelt wird; einem Gott, der die Sünde erfindet, damit er die Vergebung versprechen kann; einem Gott, der niemanden neben sich duldet und schon gar nicht den Menschen? Ist es diese „Phantasma-Orgie aus Angst, Schuld und Himmelsglocken” seit Jahrtausenden verkündet in Kirchen, Moscheen und Synagogen? Ist es dieses immerwährende Glücksversprechen, flankiert von einer monströsen Angstmaschine, die den Menschen zum Gläubigen machen? Wohl beides. 

Der gemeinsame Nenner der größten Welt-Religionen ist blinder und absoluter Gehorsam, die Ausschaltung von Skepsis und Wissen, der Glaube an das Übernatürliche an das Versprechen der Glückseligkeit im Jenseits – im Kindesalter wird es durch allerlei Märchen, Sagen und Gebete in die jungen Gehirne eingeflößt. Mit Kreuzzügen, Folterungen und Völkermord wurden Menschen an die richtige Religion herangeführt – zumindest bei denen, die diese Tortur überlebten. Bis heute durchdringen Religionen Gesellschaften bis in alle Lebensbereiche als Konstruktion der Wirklichkeit – und besteht wenig Hoffnung, dass sich dies ändert. 

Wir mögen im westlichen Europa eine zunehmende Säkularisierung wahrnehmen – der  globale Blick aber zeigt:  Religion blüht und gedeiht. Alte und neue christliche Strömungen in Osteuropa, Lateinamerika oder Afrika – das Anwachsen fundamentalistischer Hardcore-Christen in den USA, orthodoxe Staats-Religion  in Russland – schließlich der Islam, der vor allem in Afrika expandiert. Die Religion als anthropologisches Kulturphänomen oder angstvolles Machtgefüge – es hat Bestand. Tatsache ist: der Einfluss bei uns schwindet. Bis 2060 könnte sich der Anteil der Kirchenmitglieder halbieren. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie von Freiburger Finanzwissenschaftlern im vergangenen Jahr. Die große Austrittswelle bereits begonnen: 2019 haben Deutschland Kirchen eine Großstadt verloren. Aus der katholischen Kirche traten insgesamt 272.771 Menschen aus. Die evangelische Kirche verzeichnete deutlich mehr Kirchenaustritte:  270.000 Menschen traten nach Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus und damit 22 Prozent mehr als im Jahr davor. Damit gehören insgesamt noch 52,1 Prozent der Deutschen einer dieser beiden christlichen Konfessionen an. 

Halten wir fest: Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft. „Die Religion vergiftet alles”, sagt  Christopher Hitchens

Helmut Ortner
EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen
Eine Abrechnung
Nomen Verlag, Frankfurt
360 Seiten, 24 Euro