Die Thukydides-Falle
Wäre ein Welt ohne Atomwaffen besser? Unser Autor bespricht einen Roman, der eine alternative Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt und nie geschrieben wurde.
In seinem Essayband „Die absolute Leere“ hat Stanislaw Lem einst lauter Rezensionen von Werken zusammengetragen, die nicht existieren. Seinem großen Beispiel folgend, möchte ich hier die Besprechung eines Romans veröffentlichen, den es nicht gibt: Er heißt „Die Thukydides-Falle“ und erschien kürzlich in einem bekannten Berliner Verlagshaus.
Sein Autor, Alexander Niets, hat ein Werk vorgelegt, das der Science Fiction zugerechnet werden muss – genauer gesagt jener Untergattung der Science Fiction, die auf Englisch alternate history novel genannt wird. Sein Roman spielt in einem Paralleluniversum, in dem die Kernspaltung aus physikalischen Gründen, die uns hier nicht näher zu interessieren brauchen, unmöglich ist. Die Versuche von Lise Meitner und Otto Hahn haben also in einem Fiasko geendet; es hat nie einen Brief von Albert Einstein an Präsident Roosevelt, nie ein „Manhattan Project“ gegeben. Der Zweite Weltkrieg hat also nicht im Sommer 1945 geendet. Er zog sich noch zwei elende Jahre später hin. Die Amerikaner haben bei der Eroberung der japanischen Hauptinsel in der Operation „Ketsu Go“ und danach fünf Millionen Soldaten verloren, auf japanischer Seite sind elf Millionen krepiert: im Kampf gegen die Amerikaner, vor allem aber am Hunger. Als der Roman anfängt, wurde der Tenno abgesetzt, die Japaner leben unter harter amerikanischer Besatzung, hin und wieder kämpfen immer noch Selbstmordkommandos gegen die US-Army. All dies bleibt freilich im Hintergrund des Romans. Hauptsächlich spielt er in Europa, genauer gesagt, in Deutschland.
Krieg als Ausweg
Der Held des Romans ist Gregor Maurer, ein Hamburger Kommunist, der die Nazizeit in einem deutschen Konzentrationslager überlebt hat und der Partei auch während des Hitler-Stalin-Paktes die Treue gehalten hat. Doch nun hat er immer häufiger Zweifel an der „Sache“: Er sieht, wie Hunderttausende aus der DDR fliehen, er sieht, wie der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 von sowjetischen Panzern niedergemacht wird. Gleichzeitig sieht er, dass in Westdeutschland immer noch alte Nazis an der Macht beteiligt sind. Dann kommt jener Tag, an dem Soldaten der Nationalen Volksarmee die innerdeutsche Grenze überschreiten – es gibt ja keine atomare Abschreckung, und die Ostblockstaaten befinden sich in einer verzweifelten Lage: Bei ihnen gab es keinen Marshall-Plan, und ihre Volkswirtschaften sind furchtbar unproduktiv. Anders gesagt, die Ostblockländer befinden sich in einer ähnlichen Lage wie Sparta gegenüber Athen; und so sehen sie – Thukydides hat es in seinem großen Geschichtswerk beschrieben – keinen anderen Ausweg mehr als den Krieg.
Gregor Maurer muss sich jetzt entscheiden: Hält er zur Partei, der er beinahe nur noch pro forma angehört, und arbeitet er als Kundschafter für die Genossen hinter der Front? Oder bricht er mit der Partei? Er beschließt, weiter für die Partei zu arbeiten, obwohl er zur Bundeswehr eingezogen wird. Allerdings zweifelt er an seinem Entschluss, als seine Einheit an den rauchenden Ruinen des ersten westfälischen Dorfes vorbeizieht, das von Soldaten der NVA niedergebrannt wurde. (Wie konnten die Genossen den westdeutschen Arbeitern und Bauern nur so etwas tun?) In einem bitteren Kampf mit dem NKWD wird seine Einheit beinahe vollständig aufgerieben; die Überlebenden werden mit einer anderen Bundeswehreinheit zusammengelegt. Gregor Maurer erkennt den neuen Kommandeur: Es handelt sich um einen ehemaligen SS-Mann, der ihn einst im KZ besonders viehisch gequält hat. Jetzt wird er von den Amerikanern hofiert, die ihn mit bestem Kriegsgerät versorgen. Der alte Verbrecher zwinkert Gregor Maurer kumpelhaft zu. Die Einheit kämpft sich bis zur Oder-Neiße-Grenze vor; und dann beteiligt sich Gregor Maurer, der Kommunist, der nicht mehr an die große Sache glaubt, an einem Rachefeldzug der Bundeswehr in Polen, der so lange dauert, bis es den Verbänden des Ostblocks gelingt, die Truppen des Westens wieder bis zur ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zurückzudrängen.
Gemeinsame Sache mit den Bösen
Insgesamt dauert der Krieg zehn Jahre lang. Am Ende gleicht Europa einer Mondlandschaft. Der ganze Roman ist aus der Perspektive von Gregor Maurer erzählt, der am Ende als Pensionär im schottischen Hochmoor lebt und von dort aus auf seine verwickelte Biografie zurückblickt. Ähnlichkeiten mit dem „Simplicius Simplicissimus“ des Grimmelshausen sind weder gewollt noch Zufall, sondern unvermeidlich: Auch hier wird ein europäisches Gemetzel geschildert, das zugleich ein deutscher Bürgerkrieg ist; auch hier geht es um unbeschreibliche Greuel, um Folter, Vergewaltigung und Mord; und bei Gregor Maurer handelt es sich – wie weiland beim Simpel – um einen Tor mit einem einfältigen Herzen, der gern zu den Guten gehören möchte und doch manchmal mit den Bösen gemeinsame Sache macht. Und wie im „Simplicissimus“ ist die Lektion, dass man sich am besten aus der Weltgeschichte heraushält und fromm wird: Gregor findet als Greis zum Christenglauben seiner Kindheit zurück. Immerhin setzt der Romancier einen versöhnlichen Schlussakkord. Am Ende – wir schreiben das Jahr 1990, und der Eiserne Vorhang steht immer noch für die Ewigkeit – sieht der hochbetagte Gregor auf seinem hochmodernen Schwarzweißfernseher die Übertragung der ersten Nachkriegsolympiade.