Eine Obdachlose inmitten vom reichen Beverly Hills erzählt aus ihrem Leben.

Eine dezent geschminkte Frau sitzt am Wilshire Boulevard in Beverly Hills. Vor ihr steht ein Einkaufswagen, übervoll, mit einer Plane abgedeckt, daran hängt eine rote Handtasche. Die Frau sitzt auf einer öffentlichen Eisenbank an der viel befahrenen Straße und liest im Neuen Testament.

Gerade liest sie die Geschichte im Buch Lukas vom Fischer Simon. Der fängt im See Genezareth mit Gottes Hilfe nach einer schlimmen Fangflaute so viele Fische, dass sein Boot sinkt. Das gibt der Frau Hoffnung.

Sie heiße Christine und sei 46 Jahre alt, sagt sie. Sie trägt eine dunkelblaue Polyester-Strickmütze und eine Lesebrille, über die sie manchmal eine Sonnenbrille stülpt, von der ein Bügel abgefallen ist. Bis auf die kaputte Sonnenbrille könnte sie so auch in einem Büro arbeiten gehen. Ihre Zähne sind weiß und gut.

„Manchmal sehe ich aber wirklich schlimm aus“, sagt sie. „Man lernt, sich mit sehr wenig Wasser zu waschen.“

Sie schläft unter freiem Himmel und unter Brücken. Immer woanders, wo es gerade geht. Einen festen Ort hat sie nicht.


Keinen Kilometer weiter stehen die Villen der Superreichen von Beverly Hills, einem der wohlhabendsten Viertel des Verwaltungsbezirks Los Angeles und somit wohl einem der wohlhabendsten Viertel der Welt. Vor ihr fahren Teslas vorbei, Christine hat Hunger. Gestern wurde ihr ihre Essenskarte geklaut.

„Weißt Du“, sagt sie, „wenn man mehrere Tage nicht geschlafen hat, ist man so müde, dass man gar nichts mehr merkt. Mir wurden in letzter Zeit auch fünf Telefone geklaut.“
Dann redet sie weiter mit ihrer ruhigen, netten Stimme: „Im Alten Testament heißt es, dass der Hungertod der Schlimmste ist. Ich habe oft Hunger. Das Essen ist teuer hier. Meine Essenskarte ist meistens alle, ein, zwei Wochen, bevor der Monat zu Ende ist.“ Es stimmt, das Essen ist teuer. Im günstigen Supermarkt „Target“ kostet eine Kartoffel einen Dollar.
Trotzdem ist Christine dankbar. „Die Essenskarte ist ein Segen“, sagt sie. Und auch reiche Menschen wären nicht unbedingt glücklich. Sie sieht ihre Obdachlosigkeit als eine Prüfung an, die sie bestehen müsse.

Raubtiere, die Schwache ausnutzen

Christine sagt, es seien sehr viele Obdachlose nach Los Angeles gekommen. Da hat sie recht, schätzungsweise sind es um die 44.000. Das Wetter ist auch im Winter erträglich, so kommen die Armen aus dem Norden. Ein sanftes Sozialsystem wie in Deutschland gibt es in den USA nicht. „Viele Frauen prostituieren sich. Ich mache das nicht, deshalb lebe ich noch auf der Straße“, sagt Christine.

Es gebe viele „Raubtiere“, die „schwache Menschen“ auf der Straße suchen, um sie auszunutzen. Menschen, die jemandem wie ihr vielleicht etwas zu Essen kaufen, aber dann auch etwas dafür haben wollen.

Die Bibel gäbe ihr Kraft, jeden Morgen liest sie darin. „Wenn Gott will, werde ich Hilfe bekommen“, sagt sie.

Teilweise sind Christines Geschichten wirr und höchstwahrscheinlich unwahr. Ob ihr das bewusst ist, weiß ich nicht. „Ich bin mit 14 alleine nach Hollywood gekommen. Meine Eltern waren Schauspieler, sie sind verstorben. Deshalb habe ich einen Vormund, der sich um meinen Treuhänderfonds kümmert“, sagt sie.

Hohe Arztrechnungen

Ihr Vater sei Schauspiel-Legende Lee Strasberg gewesen (starb 1982, in seiner Schule lernten Steve Buscemi, Julia Roberts und, okay, Peer Kusmagk). Ihre Mutter die Kostüm- und Juwelendesignerin Edith Head (starb 1981, achtfache Oscar-Gewinnerin). Wenn das stimmen sollte und Christines eigenes Alter auch, müsste Head sie im biblischen Alter von 72 Jahren geboren haben. Aber sie sagt wie selbstverständlich: „Meine Eltern waren sehr bescheidene Menschen, Ruhm ist gefährlich.“

Andere Geschichten sind plausibler: „Vor 14 Jahren hatte ich Krebs, man sagte mir, ich hätte noch sechs Monate zu leben. Ich überlebte, aber habe dann alles verloren, mein Geschäft, alles.“ Die Arztrechnungen seien sehr teuer gewesen, sie habe nicht mehr arbeiten können. „Dann wurde ich nach und nach obdachlos. Erst lebte ich noch in einem Auto, dann verlor ich das Auto.“

Sie sagt, ihre Vormünder würden sie vernachlässigen. Deshalb bekomme sie keine Wohnung. Und sowieso: „Wenn man als Frau keine Kinder hat, muss man sich ganz hinten anstellen. Dann ist man die Letzte, die eine Wohnung bekommt.“

Jesus

Die Obdachlosigkeit sei ein täglicher Kampf. Manche würden ihr sagen, sie sei stark, dass sie das durchstehe. „Aber ich bin nicht stark, Gott hilft mir. Mit ihm schaffe ich es.“ Sie zitiert am liebsten solche Verse aus dem Neuen Testament: „ER ist ein Anker für meine Seele, ER ist immer bei mir.“

Es sei Gott, der ihr helfe „nicht auseinander zu fallen“ und der „Herr Jesus Christus“ sei ihr „Erlöser“. Jesus habe sie gefunden, nachdem sie alle anderen Religionen auch studierte. Drei Viertel aller Amerikaner bezeichnen sich als gläubig. Sie ist eine davon.


Christine trägt zwei Ohrringe, „echte Diamanten von meiner Mutter, der Juwelendesignerin“, sagt sie. Die will sie verkaufen, aber die Juwelenhändler würden ihr nicht glauben, dass es ihre sind, da sie auf der Straße lebe.

Jemand wie Christine würde in Deutschland nicht auf der Straße sein. Sie ist gepflegt, riecht nicht, kann sich hervorragend ausdrücken. Sie würde entweder vom Jobcenter eine Wohnung bekommen oder ein Zimmer in einem Heim für psychisch kranke Menschen. Es ist ein Allgemeinplatz, aber tatsächlich, das Leben in Amerika ist viel härter als in Deutschland, wenn man aus welchen Gründen auch immer abrutscht.

Am Ende ziehe ich einen 20-Dollar-Schein aus der Tasche und will ihn ihr geben. Sie lehnt zunächst vehement ab. Vielleicht denkt sie, ich sei auch ein „Raubtier“, das etwas dafür will. Ich sage ihr, dass sie dieses Geld nun sicherlich nötiger hätte als ich. Schließlich nimmt sie den Schein doch. „Gott segne Dich“, sagt sie und wendet sich wieder ihrer dicken, schwarzen Bibel zu.

 

Lesen Sie hier weitere Teile der L.A. Chronicles:

L.A. Chronicles I: „Living the Dream“ – Schießen an der Westküste

L.A. Chronocles II: Teherangeles

L.A. Chronicles III: Auf den Spuren von Meister Bukowski