Am 26. März findet in Berlin ein Volksentscheid statt, dessen Ergebnis sich nicht nur als verheerend für die Stadt herausstellen könnte. Auch das demokratische System der Bundesrepublik ist in Gefahr.

Die Demokratie hat Gegner und Feinde. Das hatte sie immer, das ist nichts Neues. Es gibt in der Wissenschaft auch eine halbwegs klare Vorstellung davon, welche Gefahren aktuell der Demokratie drohen, von wo diese Bedrohung kommt und was gegen sie getan werden muss. So gibt es zum Beispiel äußere Feinde, die mit Gewalt, gezielter Desinformation und Unterwanderung demokratische Länder zu destabilisieren oder zu erobern suchen. Die größte Gefahr aber kommt von innen, aus den Demokratien selbst, von extremistischen Gruppen, populistischen Parteien, gewählten Führern, die alle Hebel in Bewegung setzen, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schwächen und zu eigenen Gunsten zu verändern. Als letzter Akt werden demokratische Institutionen in unrechtsstaatliche Machtinstrumente umfunktioniert. (Das ist übrigens kein akademisches Räsonieren. Tatsächlich nimmt seit 2005 die Zahl der autoritären Staaten zu und der demokratischen ab.)

Wir konnten diese antidemokratischen Unternehmungen in den Jahren unter Trump in den USA genau beobachten – und Bolsonaro, Orban und Netanjahu haben sich in ihren Ländern als gelehrige Schüler bzw. Gleichgesinnte erwiesen. Aus den Erfahrungen mit Trump hat sich immerhin eine populäre Widerstandsliteratur entwickelt, die beweist, dass das Rettende mit der Bedrohung wachsen und ganz eigene Formate entwickeln kann. So veröffentlichte der Historiker Timothy Snyder vor einigen Jahren zwanzig kurze Lektionen für den Widerstand gegen die Tyrannei. Im zweiten Kapitel forderte er uns auf: Verteidigt Institutionen! „Institutionen helfen uns, den Anstand zu wahren. Sie brauchen aber auch unsere Hilfe. (…) Institutionen schützen sich nicht selbst. Sie stürzen eine nach der anderen, wenn nicht jede von ihnen von Anfang an verteidigt wird.“

Wie verletzlich Institutionen sein können, wurde deutlich beim Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol oder von Corona-Leugnern auf den Reichstag. In diesen Momenten fährt jedem Demokraten der Schreck in die Glieder. Andere Angriffe auf die parlamentarische Demokratie übersieht man hingegen gerne.

EINE „QUALIFIZIERTE MINDERHEIT“

Das von den US-Republikanern (und zum Teil von den US-Demokraten) praktizierte „Gerrymandering“, also die Verschiebung der Wahlkreisgrenzen zum eigenen Vorteil, ist solch ein Verfahren, das die Demokratie manipuliert (und auch in anderen Ländern mit Mehrheitswahlsystem angewandt wird). Es scheint paradox, aber so angewandt – eine Zahl kleinerer Wahlkreise erhält ein größeres Gewicht als Wahlkreise mit einer größeren Zahl von Wählern –, setzt das amerikanische Wahlsystem eine wichtige demokratische Grundregel außer Kraft: dass nämlich die Mehrheit zählt und ebenso „one man, one vote“, dass man also, um zu regieren, eigentlich eine Mehrheit der Wähler hinter sich vereinen muss, um überhaupt legitim Macht ausüben zu dürfen.

In Deutschland ist man natürlich überrascht und entsetzt, dass so etwas in den USA überhaupt möglich ist – und übersieht, was hier passiert. Seit einigen Jahren versucht man nämlich auch in Deutschland, die Freiheit der Wahl (durch Paritätsgesetze) und die Legitimierung durch das Mehrheitsprinzip außer Kraft zu setzen. Minderheiten können, nein, sollen herrschen. Besonders deutlich wird das gerade beim Berliner Volksentscheid, mit dem am 26. März das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz geändert, genauer: verschärft werden soll. Der Berliner Volksentscheid ist so konstruiert, dass es nur jeder vierten Stimme der Wahlberechtigten (25 Prozent) bedarf, um die geplante Änderung des Gesetzes durchzubringen. Voraussetzung: 25 Prozent der Wahlberechtigten müssen auch an der Abstimmung teilnehmen. Das bedeutet also: Ein Gesetz – hier das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz –, das das Abgeordnetenhaus mit einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen hat, die aus einer Landtagswahl mit einer Wahlbeteiligung von über 60 Prozent hervorgegangen ist, kann mit einer Minderheit von 25 Prozent der Wählerstimmen abgeändert werden. – Ein Traum für alle kampagnenfähigen Aktivisten, die sich darauf verstehen, eine „qualifizierte Minderheit“ zu mobilisieren.

HERKULES IN BERLIN?

Was steht hier also auf dem Spiel? Viel – und noch sehr viel mehr! Zuvorderst geht es bei dem Berliner Volksentscheid um die Klimapolitik. Kurz gesagt: Die bisherigen Berliner Ambitionen sollen mehr Pfeffer bekommen, Klimaneutralität nicht bis 2045, wie im Bund vorgesehen, sondern bis 2030 erreicht werden – und zwar durch Verminderung der CO2-Emissionen bis 2025 (also in zwei Jahren) um 70 Prozent gegenüber 1990 und bis 2030 um 95 Prozent. Der bislang immer noch rot-grün-rote Berliner Senat spart sich große Erklärungen, warum das Ansinnen der Träger des Volksentscheids abzulehnen sei. Er setzt schlicht auf die Logik und die Vernunft, denn das Hauptargument gegen die Verschärfung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes ist sehr simpel und eigentlich für jeden zu begreifen. Es lautet: Die angestrebten Emissionsminderungen können in der kurzen Zeit gar nicht erreicht werden!

Denn es müssten innerhalb von sieben Jahren alle öffentlichen und privaten Gebäude saniert, mit erneuerbaren Energien beheizt, der Verkehr mit erneuerbarem Strom betrieben und neue Häuser und Wohnungen, die die Menschen in der Stadt dringend brauchen, CO2-frei gebaut werden. Und irgendwo müsste man die Quelle finden, aus der die notwendigen Handwerker, Bauarbeiter, Ingenieure und Klimaexperten sprudeln, die dieses herkuleische Werk vollbringen. Gut wäre es, wenn sie auch noch die vielen Milliarden Euro mitbringen würden, die das alles kostet. Es ist nun nicht so, dass dies alles nicht auch notwendig wäre. Berlin muss, wie ganz Deutschland, ganz Europa, ganz Asien, Ozeanien, Afrika und Amerika gewaltige Anstrengungen unternehmen, um dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen. Es ist aber auch nicht so, dass dies mit einer Berliner Turboillusion gelingen könnte.

Warum dann also das ganze Theater?

Weil es um Macht geht.

Und dieser Kampf um die Macht steht erst am Anfang.

EIN GEMEINWESEN VOR DEM KADI

Wie geht dieser Machtkampf vonstatten? Die Initiatoren des Volksentscheids haben ihre gesamten Änderungen um ein einziges Wort herum gebaut: Aus den bisherigen „Klimaschutzzielen“ sollen nämlich künftig „Klimaschutzverpflichtungen“ werden. Zitat: „Wir fordern eine rechtliche Haftbarkeit und Verantwortung des Landes Berlin sowohl für potentielles Nicht-Handeln oder Nichterfüllen der festgeschriebenen Verpflichtungen als auch für weitere daraus resultierende Konsequenzen.“

Unverfrorener ist einem Gemeinwesen und seinen Repräsentanten schon lange nicht mehr gedroht wurden. Und diese Forderung ist, nebenbei, in etwa so seriös, als würden sich der DFB und der Bundestrainer zum Ziel setzen, die Mannschaft ins Endspiel der nächsten Fußballweltmeisterschaft zu bringen, aber einem Viertel der 83 Millionen Bundestrainer ist das zu wenig, und es verpflichtet sie, ungeachtet der gegnerischen Kräfte, Einflüsse und Miseren, den Titel zu gewinnen. Und bei Versagen kommen alle Verantwortlichen vor den Kadi. Da dürfte es schwierig werden, demnächst noch eine Mannschaft zusammenzukriegen.  

So ist es tatsächlich auch hier in Berlin vorgesehen: Wenn jemand wie hier Verpflichtungen eingehen muss, dann wird er, wenn er die Verpflichtungen nicht halten kann, vor Gericht geschleppt. Unbekannt ist das weder für Behörden noch für Unternehmen. Für Gemeinwesen schon. Denn machen wir uns nichts vor: Es ist egal, welcher Senat gerade regiert. Der Zwang soll hier ganz Berlin betreffen, alle 3,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger sollen verpflichtet werden. Und dafür fordert man zusätzlich einen Sanktionsmechanismus, um die Vollstreckung des neuen Klimaschutz- und Energiewendegesetzes und eventuelle Verstöße einklagen zu können. Ob alle wissen, dass sie ihr Kreuz für ein politisch-moralisches Flagellantentum setzen sollen, also für Selbstgeißelung zum Zweck der Buße? 

Selbst wenn der betroffene Senat versuchen wird, mit einem neuen Gesetz dieses Aktivistenansinnen zu umgehen – das alles wird bei einem Erfolg des Volksentscheids vor den Gerichten landen. Im ungünstigsten Fall wird der Senat gezwungen, die Verpflichtungen einzuhalten. Das wird dann, weil Justitia ja auch noch Anderes zu tun hat, zwar bis über das Jahr 2030 hinausgehen. Aber wer das Unmögliche nicht fertig gebracht hat, der wird dann in der Öffentlichkeit kleingemacht und zu Konzessionen und Einschränkungen gepresst. Das wird interessant und unschön anzusehen sein. Wahrscheinlich kommt sogar eine politische Krise dabei raus – ohne dass sich am Klimawandel ohnehin auch nur ein Quäntchen ändert.

DAS KLEINGEDRUCKTE LESEN!

Und dann gibt es noch das Kleingedruckte. Das ist so etwas wie der Code, der die Kampagnen und die Aktionen wie den Volksentscheid antreibt. Schauen wir uns dieses Kleingedruckte an; es steht in dem 48-seitigen Heftchen „Amtliche Mitteilung zum Volksentscheid“ und ist zu fast zwei Drittel die Begründung der Aktivisten für die Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes. Natürlich geht es auf den ersten Blick um die Klimanotlage, die zu beseitigen die Mittel heiligen soll. Beim Kampf gegen den Klimawandel ist es wie mit dem Frieden – wir sind alle dafür. Aber beides lässt sonst kluge Menschen kopflos werden. Wenn alles so schlimm ist, sagen sie, dann macht es auch nichts, etwas Verrücktes zu tun und ein Zeichen zu setzen, am besten ein radikales. Es ist wirklich verwirrend: Manche glauben, der Klimawandel hätte nichts mit ihnen zu tun, das würde sie nicht tangieren; andere wiederum glauben, ihre kurzsichtige politische Radikalität hätte nicht wirklich was mit ihnen zu tun, ihre Folgen würde sie nicht tangieren. Vielleicht hülfe es, wenn alle zunächst das Kleingedruckte lesen, diese amtliche Mitteilung. Denn – oh Wunder! –, da geht es kaum um die Klimakrise.

Da geht es vielmehr um sozial gerechten Ausgleich und gegen den Kapitalismus, um Pandemieschutz und neue Stellen, verstärkte Partizipationsmöglichkeiten „bisher benachteiligter Gruppen“ und daher vor allem um eine „partizipative Wende“. Aus diesem Grunde soll auch ein „Klimabürger:innenrat“ eingerichtet werden, denn die „Forderung nach einem Klimabürger:innenrat ist ein Baustein in einer historischen Umbruchphase, in dem die Strukturen der Demokratie neu verhandelt werden müssen“ (sic). Wer so etwas schreibt, für den ist die parlamentarische Demokratie längst Geschichte. Der sieht eine Räterepublik am Horizont und folglich die „Konsultative als 4. Gewalt im System der demokratischen Gewaltenteilung“ vor. Das ist auch wieder so ein paradoxer Widerspruch, den keiner bemerken soll, damit im Samtpfotenstil die Demokratie aus den Angeln gehoben werden kann. Also einerseits nur „Konsultative“, sprich: Beratung, aber andererseits potente machtbegrenzende und machtausübende „4. Gewalt“, sprich: gleichberechtigt neben Legislative, Judikative, Exekutive. Nur wäre damit ja noch nicht das Passende und Wahre im Sinne der Aktivisten erreicht: Man muss ja darauf achten, dass die Richtigen das Richtige entscheiden. Daher müsse der Rat zwar per Losverfahren, aber auch „nach sozialen Merkmalen repräsentativ zusammengestellt“ werden, damit „künftig Entscheidungen zustande kommen, die den Bedürfnissen der Bürger:innen gerecht werden“. Man weiß da also schon vorher Genaues über die Bedürfnisse der Menschen und die gebotenen Beschlüsse. Eindeutig, hier waltet das Motto: Und bist Du nicht willig, so brauche ich strukturelle Gewalt.

EIN POLITISCHER TREND

Es würde nicht überraschen, wenn diese Kaste der Erleuchteten sehr selbstbewusst auch wüsste, was wir in Deutschland zur Rettung des Klimas zu tun hätten: zum Beispiel auf keinen Fall eine Wasserstoffwirtschaft entwickeln (sollen das doch die arabischen Staaten, China und die USA tun) und auch auf keinen Fall die CO2-Speicherung (Carbon Capture and Storage) voranbringen, auch wenn der UN-Klimarat (IPCC) das ganz anders sieht. Dafür würde man aber sicherlich gerne unsere Wirtschaftsleistung auf den Stand vom 20. Mai 1976 zurückschrauben, was im „Reallabor Berlin“ doch ganz leicht sein müsste. Solch eine Kaste sieht natürlich generell auch keinen Sinn mehr in Diskussionen, in Kompromissfindungen, in Mehrheitsentscheidungen. Da sind Minderheitsbeschlüsse in Volksentscheiden („Trick 25“) und 4.-Gewalt-Räte viel praktischer.

Bisherige Erfahrungen mit Räten und dem Losverfahren zeigen übrigens, dass sich aus den Gelosten ganz bestimmte Gruppen herausschälen – und zwar aus dem einfachen Grund, weil viele Menschen nicht an den Konsultationen der Räte teilnehmen wollen, weil sie sich einfach nicht für Politik interessieren, keine Zeit haben und bzw. oder sich in der deutschen parlamentarischen Demokratie gut aufgehoben fühlen. So sitzen meist annähernd Gleichgesinnte zusammen, die mit Gegenargumenten kaum behelligt werden.

Solche Vorhaben wie diese entscheidungsbefugten Klimaräte ergänzen einen politischen Trend, in dem das Partikulare über dem Pluralen steht und die Wenigen über die Vielen herrschen wollen: Der Demos hat sich einer „Weisheit“ der Wenigen unterzuordnen. Denn der Demos habe seine Rechte verwirkt, weil er in einer Ansammlung egoistischer „Partikularinteressen“ Ressourcen rücksichtslos verbraucht und emittiert hat. Aus berechtigter ökologischer Kritik glauben nun Aktivisten das Recht ziehen zu können, ohne angemessene demokratische Legitimation, nämlich aus Minderheitsvolksentscheiden und wie auch immer genannten „Räten“ und Aktionen, eine sogenannte „fortschrittliche“ Politik zu installieren, die unser Fundament aus Verfassung inklusive Grundsätzen, Werten und geschützten Freiheiten unterminiert. Dabei braucht die Rettung eigentlich Handlungsspielraum und Freiheit. Aber eine Minderheit hat sich anders entschieden: Progressiv will repressiv werden.