Die Diskussion über die Verlegung von Erdkabeln zeigt, dass das Vorsorgeprinzip häufig nur dann herangezogen wird, wenn es sich gegen unliebsame Innovationen in Stellung bringen lässt.

Umweltverbände und umweltschutzbewegte Politiker verweisen gern auf das Vorsorgeprinzip. Das besagt, dass Schäden für Mensch und Umwelt im Voraus vermieden werden sollen. Bei mangelnder Gewissheit über die Folgen müsse deshalb gegen neue Technologien entschieden werden.

Mit Verweis auf dieses Prinzip wird die Grüne Gentechnik abgelehnt, obwohl Jahrzehnte der Sicherheitsforschung keine Risiken entdecken konnten. Auf Fracking soll verzichtet werden, obwohl die Risiken der Technik nach Einschätzung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften „acatech“ beherrschbar sind. Das Pflanzenschutzmittel Glyphosat soll verboten werden, obwohl sämtliche Zulassungsbehörden bei richtiger Anwendung keine Krebsgefahr sehen.

Keine Vorsorge bei Wolf, Biogas oder Windenergie

Doch wenn es um die eigenen Lieblingsthemen geht, spielt das Vorsorgeprinzip für Umweltschützer und grüne Politiker plötzlich keine Rolle mehr. Der Wolf wird herzlich willkommen geheißen – ohne echtes Wissen über mögliche Auswirkungen seiner Ausbreitung in Deutschland. Dabei legen Erfahrungen aus der Wiederansiedlung von Wölfen im Yellowstone-Nationalpark in den USA durchaus eine gewisse Vorsicht nahe. Dort haben sich die Wölfe wegen des reichhaltigen Nahrungsangebots schnell vermehrt – auf Kosten der Wapiti-Hirsche, deren Population in kurzer Zeit von rund 19.000 Individuen auf etwa 4.000 dezimiert wurde. „Die Wolfspopulation wird allein durch das Nahrungsangebot begrenzt“, sagt Dr. L. David Mech, der maßgeblich an der Wiederansiedlung der Raubtiere im Nationalpark beteiligt war.

Im Yellowstone seien die Wolfsrudel zwischenzeitlich auf eine Größe von 37 erwachsenen Tieren gewachsen, berichtete Mech vor anderthalb Jahren auf der Nabu-Wolfskonferenz in Wolfsburg. Auch in deutschen Landen sind Wölfe mit Wild mehr als reichlich versorgt. Die Leiterin der Abteilung Naturschutz im Bundesumweltministerium, Elsa Nickel, kommentierte Mechs Mahnung zu einem robusten Management der Wolfspopulation lapidar mit „die Natur macht das alles von selber, und sie macht das ganz wunderbar.“ Man stelle sich vor, ein solches „Argument“ würde bezüglich der Ausbreitung gentechnisch veränderter Maispollen vorgebracht.

Ein weiteres Beispiel selektiver Vorsorge-Blindheit: Biogasanlagen wurden erst einmal üppig gefördert, bevor die ökologischen Folgen der Vermaisung der Landschaft offenbar wurden. Dieselben Politiker, die sich damals für die EEG-Förderung von Biogas einsetzten, kritisieren nun die Folgen von großflächigen Mais-Reinkulturen. Das ist dann wohl das ökologische Nachsorgeprinzip.

Ähnliche Nachsorgen dürfte der Ausbau-Boom der Windenergie produzieren. Auch hier wurde das Vorsorgeprinzip buchstäblich in den Wind geschlagen. Nun hört man langsam von giftigen und radioaktiven Abfällen als Folge der Förderung seltener Erden, die für Permanentmagnete in den Generatoren der Windräder benötigt werden. Die Anlagen fressen Unmengen hochwertiger Baumaterialien wie Stahl und Zement, die in ihrer Herstellung sehr energieaufwändig sind. Und am Ende ihrer manchmal gar nicht so langen Lebenszeit lassen sich die Rotorblätter der Windmühlen nicht einmal recyceln.

Folgen von Erdkabeln für den Boden sind ungewiss

Und nun sollen Höchstspannungsleitungen unter der Erde verlegt werden. Nach langem und hartnäckigem Widerstand von Bürgerinitiativen und manchen Politikern wie dem besonders lauten  Horst Seehofer wurden die Planungen der Südlink-Trasse als Gleichstrom-Freileitungen (für die keinerlei Gesundheitsgefahren belegt sind) in die Tonne geworfen. Stattdessen sollen die Kabel nun in die Erde – ohne dass auch nur ansatzweise geklärt wäre, welche Konsequenzen das für den Boden hat.

Was passiert mit den Mikroorganismen? Was mit dem Wasserhaushalt? Was mit den Beikräutern auf dem Acker? Man weiß es nicht, will sich aber nicht beirren lassen. Vom Vorsorgeprinzip ist mal wieder keine Spur, zumindest nicht bei der von den Bürgerinitiativen bevorzugten Technologie. Gegenüber den seit Jahrzehnten etablierten Freileitungen hingegen wird gern auf dubiose Anzeichen möglicher Gesundheitsgefahren verwiesen.

Dabei gibt es durchaus einige mögliche Probleme: Der Trassenbau erfordert es, den Boden auf einer Breite von ca. 15 Metern aufzureißen. Durch den Aushub wird das von Regenwürmern und Pflanzenwurzeln erzeugte Mikroporensystem zerstört. Auch die über Jahrtausende entstandene Bodenstruktur lässt sich beim Verfüllen der Gruben kaum vollständig rekonstruieren. Sulfidreiche Böden reagieren extrem empfindlich auf Durchlüftung. Sie können versauern und werden dadurch zu unfruchtbarem Bio-Müll.

Die Landwirtschaftskammer Niedersachsen (LWK) hat noch jede Menge weitere Befürchtungen: Der grobkörnige Sand, auf dem die Kabel gebettet werden, könnte als Ablaufrinne für Niederschlagswasser fungieren und dadurch zur Vernässung von Senken und Austrocknung höherliegender Äcker führen. Die Erwärmung des Bodens könnte eine Schneedecke über der Trasse schneller schmelzen und dadurch Saatgut früher austreiben lassen. Bei Spätfrost sind solche Ackerflächen dann besonders gefährdet. Auch die Durchwurzelung des Bodens ist ein Problem. Wald kann über den Trassen nicht wachsen. Und selbst manche Ackerpflanzen wie Zuckerrüben entwickeln auf Lössböden Wurzeln, die bis zu zwei Meter tief reichen. Die Kabel liegen aber in 1,30 Metern Tiefe.

Das sind nur einige ausgewählte Beispiele, die das Heranziehen des Vorsorgeprinzips legitimieren würden. „Solche grundsätzlichen Fragen sollten eigentlich im Vorfeld geklärt werden“, moniert Jörg Fortmann, zuständig für Wasser- und Bodenschutz bei der LWK-Bezirksstelle Bremervörde. Stattdessen werde der Südlink zu einem riesigen Erdkabel-Experiment. Entsprechend fordert die LWK, das ganze Projekt langfristig bodenkundlich zu begleiten, mit regelmäßigen Messungen von Temperatur, Wasser, Pflanzenphysiologie, Artenspektrum, Mikrobiologie etc. an repräsentativen Standorten. Folgenforschung im laufenden Betrieb – auch das könnte man ja mal für den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen vorschlagen.

Immerhin, eine Folge der Erdverkabelung ist bereits eindeutig bekannt: Es wird richtig teuer – um ein Vielfaches teurer als ungefährliche Überlandleitungen. Das Wirtschaftsministerium rechnet mit Kosten von bis zu acht Milliarden Euro. Zahlen werden das die Stromkunden über das Netzentgelt.

Dieses selektive Berufen auf mögliche Gefahren zeigt: Das Vorsorgeprinzip dient vielen Umweltschützern und Politikern nicht für ihren Kampf für Umwelt- und Verbraucherschutz, sondern vor allem als Waffe gegen unliebsame Innovationen.