Wir müssen reden!
Die öffentliche Debatte wurde zwischen gutmeinenden Zensoren und menschenfeindlichen Klartextern zerrieben. Die Lösung kann nur in der offenen Diskussion liegen, sagt unser Gastautor Simon Tischer.
Neulich in Social-Media-Deutschland: Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“, twittert an Heiligabend „Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“ Die Reaktionen der sich sogleich formierenden Lager sind so empört wie vorhersehbar: Nur noch linkes Politisieren in den Kirchen, besonders den protestantischen, meinen die einen. Die anderen begrüßen, dass sich die Kirche für das Gute, Menschliche, etc. einmischt. Die Predigt, um die es geht, kennt freilich keiner.
Supergeschenk für @ulfposh https://t.co/TRX75Iiq0j
— Jürgen Trittin (@JTrittin) 26. Dezember 2017
Der Grüne Jürgen Trittin schaltet sich ein. Er empfiehlt eine „AFD-Krippe“, deren Foto gerade auf Twitter zirkuliert, als Geschenk für Poschardt. Der Witz der leeren Krippe: „Ohne Juden, ohne Araber, ohne Afrikaner, ohne Flüchtlinge! Sensationell!“ That escalated quickly! Poschardt beschwert sich über politische Predigten in der Christmette und Trittin schmeißt die Assoziationsmaschine an: Weihnachten –> Predigt über Politik –> bestimmt was mit Flüchtlingen –> Kritiker der Flüchtlingspolitik sind Rassisten. Dann erscheint die AFD-Krippe im Feed und die passt doch prima. Juden eigentlich nicht, nehmen wir da aber mal mit, weil’s lustig ist und knallt.
Alle sind sich einig
Ein anderer Fall: Der Deutschlandfunk interviewt am 29.12. den Politologen Volker Perthes zum veränderten Charakter von Krisen: Statt isolierter Einzelkrisen hätten wir es heute mit „zusammenhängende Krisenlandschaften“ zu tun, so die These des Wissenschaftlers. Die größte Schwierigkeit, mit diesen neuen Krisen umzugehen, sieht Perthes im neuen Nationalismus und insbesondere in Donald Trump. Ab diesem Punkt im Gespräch unterhalten sich Moderator Stefan Heinlein und Volker Perthes darüber, ob Trump nicht versteht, dass das so nicht geht, oder, ob er aus bewusstem Kalkül seinem Land und der Welt schadet. Ein journalistisches Experteninterview über die steigende Komplexität der Welt verkommt zur unterkomplexen Anklage gegen einen einzelnen Politiker. Interviewer und Experte sind sich dabei offenbar von vornherein einig, dass sämtliche Entscheidungen Trumps falsch und destruktiv sind.
Kein Gesprächsbedarf
Was beide Beispiele aus den letzten Tagen gemein haben: Es ist offenbar nicht mehr nötig, uns über unterschiedliche Standpunkte auszutauschen – entweder, weil wir glauben, bereits zu wissen, was der andersdenkende andere meint und ihn dafür verachten. Oder aber wir sind uns sowieso schon immer mit denen einig, die auf der richtigen Seite stehen. Hier Freund, dort Feind. Alles ist klar, kein Gesprächsbedarf.
Einen nicht-mehrheitsfähigen politischen Standpunkt zu vertreten führt in der Folge immer häufiger nicht zu Widerspruch in der Sache, sondern zu Unverständnis. Als Präsident Trump das Thema, in welcher israelischen Stadt die USA ihre Botschaft betreiben möchten, auf die Tagesordnung setzte, wurde ich gefragt, wie ich denn nichts dagegen haben könne. Es seien sich doch alle einig, dass das falsch ist. Und außerdem: Trump! Statt über unterschiedliche Standpunkte zu sprechen, kennen alle den richtigen Standpunkt bereits. Und wer anderer Meinung ist, bleibt lieber still, um nicht zu den Spinnern oder Menschenfeinden gezählt zu werden, die sich ja tatsächlich formieren.
Ein technokratischer – und antiliberaler – Glaube an die eine richtige Lösung hat die politische Diskussion ersetzt. Im Wahlkampf mussten wir dies in seiner ganzen Eintönigkeit beobachten: Die Parteien versuchten sich durch Kleinstprojekte voneinander zu differenzieren – weil sie es verlernt haben, unterschiedlich zu sein. Man stelle sich den Streit um Willy Brandts Ostpolitik heute vor: Würde sich die CDU noch in dieser Vehemenz gegen sympathische politische Ziele wie Entspannung und Völkerverständigung stellen?
Wer diskutiert gehört dazu
Na und? Brandts Ostpolitik war ja im Nachhinein gesehen richtig und gut! Die öffentliche Diskussion ist dennoch unverzichtbar und es braucht jemanden, der es wagt, den Gegenstandpunkt zu übernehmen. Denn, da hat Jürgen Habermas nun einmal recht, die Debatte besitzt einen Eigenwert. Im günstigsten Fall kommt es der schlussendlichen Entscheidung zugute, wenn unterschiedliche Standpunkte zuvor gegeneinander angetreten sind. Mindestens genauso wichtig aber: Die Debatte integriert, denn wer mitdiskutiert, ist (gefühlter) Teil des Prozesses und der Entscheidung. Selbst wer überstimmt wurde, gehört dazu. Bei Habermas mündet das in der Forderung, dass möglichst alle immer mitreden können sollten.
Die Verengung des politischen Diskurses ist gut gemeint, doch von Grund auf falsch. Sie soll dazu führen, dass falsche Standpunkte nicht mehr legitim vertreten werden können und verschwinden. Die Menschen in liberalen Demokratien scheinen jedoch einen inneren Widerstand dagegen zu hegen. Und dieser Widerstand äußert sich häufig nicht in der vernünftigen Forderung, auch mit einem Minderheitenstandpunkt angehört zu werden, sondern im infantilen und feigen Rückzug in Filterblasen, reaktionäre Grüppchen und Gemeinschaften. Die wachsende Anziehungskraft autoritärer Klartexter und menschenfeindlicher Demagogen hat sicher auch damit zu tun: Der kathartische Grusel des gebrochenen Tabus geht bei vielen als Gewinn an Freiheit durch.
Es gibt nur ein Rezept gegen Polarisierung, Lagerbildung, dumpfes Einverstandensein und das Erstarken der Menschenfeinde: Wir müssen reden! Und zwar über Grundsätzliches und mit offenem Visier.
Unser Gastautor schreibt über Startups, davor PR. Er sagt Ja zur modernen Welt. Mag Europa, USA und Israel und vieles andere auch. Soziologe im Herzen und auf dem Papier. In München.