Das WDR-Wissenschaftsmagazin hat einen neuen „Informations“-Kurzfilm über die Gefahren der Atomkraft unters Volk gebracht. Wir haben ihn uns angesehen. Diagnose: 48 Sekunden visuelle Manipulation.

Die deutsche Anti-AKW-Bewegung ist sauer. Zu Hause hat sie nicht mehr so richtig was zu tun, seit der Atomausstieg beschlossen ist. Die Jugend demonstriert lieber gegen Kohle. Die noch laufenden deutschen AKWs verhalten sich unauffällig. Also verlegt man sich auf die Anlagen der Nachbarn, wo es ja noch was abzuschalten gibt. Im Fokus ist seit Jahren das belgische KKW Tihange-2 , das wegen Ultraschallbefunden mit Rissanzeigen im Reaktordruckbehälter in die Schlagzeilen geriet. Experten und Aufsichtsbehörden haben der Anlage nach langen Untersuchungen grünes Licht gegeben: die Materialfehler seien sozusagen von Geburt an dagewesen, zeigten kein Risswachstum und beeinträchtigten daher den sicheren Betrieb der Anlage nicht. Die Hintergründe dieses sehr komplexen Falles kann man hier nachlesen.

Atomkatastrophe dringend gesucht

Wie also weiter mobilisieren gegen Tihange? Dazu braucht man eine Katastrophe, zumindest eine imaginäre. Horror-Szenarien über einen Super-GAU in Tihange gehen daher immer gut. Besonders eingängig sind solche Szenarien, wenn man sie visualisiert. In Filmen kann man komplexe Dinge auf einfache Bildbotschaften und Sätze mit maximal fünf Wörtern herunterbrechen.

In jedem normalen Land müsste eine Anti-Atom-NGO nun eine Filmproduktionsfirma engagieren und teuer Spendengeld hinblättern, um so einen Atomschocker zu bekommen. Es sei denn, man lebt in einem nicht normalen Land. Dort übernehmen öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten freiwillig und unaufgefordert diese Aufgabe. Besonders gern macht das der Westdeutsche Rundfunk, der seit langem als mediale Speerspitze der Anti-Tihange-Mobilisierung agiert.

Der WDR und Tihange

Der WDR und Tihange, das ist eine lange Hassliebes-Geschichte, die schon viele Filme und Texte hervorgebracht hat. Der Sender hängt sich wirklich rein, und berichtet immer im Sinne der antinuklearen Aktivisten: er lässt so gut wie nie Experten der Gegenseite zu Worte kommen, sondern bezieht seine Informationen selektiv von denselben Quellen wie auch Greenpeace, „ausgestrahlt.de“ und die Grünen. Und er setzt alle visuellen Mittel ein, um auch den letzten Zweifel daran auszuräumen, dass Atomkraft eine mörderisch gefährliche Sache sei.

Diese Botschaft wird mal über das Politmagazin „Monitor“ verbreitet, mal von der Sendung „Quarks“, die ihrem teilchenphysikalischen Namen nach etwas mit exakten Wissenschaften zu tun haben soll.

Rheinische Atomfilmkultur

Wir beobachten dieses Treiben schon eine ganze Weile. „Quarks“ kam Ende 2016 mit einem Tihange-Film heraus, in dem gefragt wird „Wann knallt es?“ – die Frage, ob es überhaupt knallen kann oder muss, erscheint als bereits beantwortet, nämlich mit Ja. Der Film wurde mit einen sensationsheischenden Thumbnail beworben, auf dem explodierende Kühltürme (!) zu sehen waren.

Zuletzt gab es vom WDR ein Schurkenstück, in dem die deutsche Reaktorsicherheitskommission (RSK) aufs Korn genommen wurde, weil sie dem Feind Nummer eins, dem belgischen Reaktorblock Tihange Nummer Zwei, die Befähigung zum sicheren Betrieb zugesprochen hatte und in dieser Einschätzung der belgischen Atomaufsicht gefolgt war. Die eingesetzte Bildsprache legte nahe, es habe Hinterzimmerabsprachen und Drohungen gegeben, um das der Atommafia genehme Votum der RSK zu erzielen.

Das neueste Glanzstück in der WDR-Tihange-Cinegraphie produzierte das „Quarks“-Team vor einer Woche, anlässlich der kürzlich erfolgten Wiederinbetriebnahme von Tihange-2 nach längerem Stillstand: „Tihange: Was ein Super-GAU für Deutschland bedeutet“.

Unfall einmal in zehn Jahren?

Der Film ist nur 48 Sekunden lang und transportiert eine simple Botschaft, die über eindrückliche Bilder und knappe Bildunterschriften kommuniziert wird. Die Aussagen im einzelnen: Es gibt seit Jahren Störungen im AKW. Bei einer Explosion des Reaktors wäre auch Deutschland betroffen. Der Westwind transportiert die radioaktive Wolke zu uns. Die Region Aachen wird „verseucht und unbewohnbar“. Und, direkt an diese Ereigniskette anschließend:

Da erschaudert der Laie, und die Fachfrau wundert sich über das „dafür“. Wofür liegt die Wahrscheinlichkeit bei 10 Prozent? Für den Super-GAU und das unbewohnbare Aachen? Das suggeriert der Film mit seiner Text-Bild-Sequenz. Doch das würde bei bislang über dreißig Betriebsjahren von Tihange-2 bedeuten, dass es bereits dreimal dazu hätte kommen müssen.

In Wirklichkeit – aber das gab der WDR nur auf Nachfrage kritischer Bürger auf Facebook zu – bezieht sich die Aussage im Film auf eine Studie der Wiener Universität für Bodenkunde, deren Forschungsgruppe zur nuklearen Sicherheit häufig als Gutachter für Grüne und Anti-Atom-Initiativen aktiv ist.

Die Autoren dieser Studie wiederum betonen schon in ihrer Einleitung, dass sie keine Aussagen über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls in Tihange machen können. Sie versuchten vielmehr zu ermitteln, was denn geschähe, würde ein Unfall mit katastrophaler Freisetzung in Tihange passieren und würde dann auch eine Wetterlage herrschen, die zu einer Verfrachtung der kontaminierten Luftmassen nach Aachen führte.

Das bedeutet also: in dem von „Quarks“ popularisierten Szenario wird ein schwerer Unfall bereits als gegeben vorausgesetzt. Die „10 Prozent“ Eintrittswahrscheinlichkeit beziehen sich nur auf die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass zusätzlich noch der Wind von Tihange nach Aachen weht. Im weiteren berechnet die Studie dann die zu erwartenden Belastungen der Aachener für diesen Fall.

Dieses Kleingedruckte enthält der Film seinen Zuschauern jedoch vor, und erzielt damit genau die beabsichtigte Wirkung: Angst und Schrecken. Der WDR hält so etwas für kritische Berichterstattung. Doch die Quarks-Botschaft ist falsch.

Wie wahrscheinlich ist der große Unfall?

Schauen wir uns also die Fakten an. Um die Wahrscheinlichkeit des Evakuierungs-Szenarios für Aachen zu ermitteln, muss man drei Dinge wissen:

  1. Wie wahrscheinlich ist ein Unfall mit Reaktorkernschaden in Tihange-2?
  2. Wie wahrscheinlich ist eine Freisetzung? Denn aus 1 folgt keinesfalls automatisch 2, wenn die Barrieren (Containment und Filteranlagen) funktionieren. Erst unter…
  3. … kann man fragen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit Freisetzung UND einer gleichzeitigen Verfrachtung der Tihange-Unfall-Luftmassen nach Aachen? Abschließend muss man dann die Strahlendosen ermitteln, die die Menschen in der Unfallzone aufnehmen würden, und daraus Gesundheitsrisiken ableiten. Auch die letztgenannte Operation ist ein permanentes Kampffeld zwischen grünen Alarmisten und kerntechnischen Profis.

Die Kernschadens-Wahrscheinlichkeit (Core Damage Frequency, CDF) ist ein probabilistischer Wert, der im Sicherheitsbericht jedes KKW, einem Dokument, das der Betreiber der Genehmigungsbehörde vorlegt, individuell berechnet wird. Er gibt die erwartbare Häufigkeit eines Ereignisses mit Beschädigung von Brennelementen durch Überhitzung an. Sie wird mit einem Wert „x mal 10 hoch minus n Reaktorbetriebsjahre“ angegeben, zu lesen als „x mal binnen 10 hoch n Reaktorbetriebsjahren“. Wird eine CDF zum Beispiel als „1 x 10 hoch -5“ angegeben, heißt das: ein Kernschaden ist einmal binnen 100.000 Reaktorbetriebsjahren dieses Anlagentyps zu befürchten.

Hier kommt eine Grafik der CDFs gängiger Reaktortypen im Verhältnis zu unterschiedlichen Anforderungen; dazu ist zu sagen, dass sich diese Werte auf den Zeitpunkt der Genehmigung beziehen und dass sie folglich z.B. im Fall der deutschen Konvoi-Anlagen (aufgrund vielfältiger Aufrüstungen auf den „Stand der Technik“) noch deutlich geringer anzusetzen sind als in der historischen Dokumentation niedergelegt:

Zum Reaktor Tihange-2 haben wir leider keinen publizierten Wert (der dürfte unter Zugrundelegung der Reaktorgeneration dieser Westinghouse-Anlagen zwischen 1*10E-5 und 1*10E-6 liegen), aber wir haben folgende Aussage der Bundesregierung:

„Ein Wert für die Kernschadenswahrscheinlichkeit der Anlage Tihange-2 ist der Bundesregierung nicht bekannt. Die Wahrscheinlichkeit der Risserweiterung im Reaktordruckbehälter (RDB) von Tihange-2, die in den meisten Fällen noch nicht zum Versagen des RDB führt, wird vom Betreiber Electrabel in seinem „Safety Case Report“ vom 5. Dezember 2012 mit 1,4 × 10-8 pro Jahr angegeben und liegt damit weit unter dem international als akzeptabel angesehenen Wert von 10-6 pro Jahr für die Kernschadenswahrscheinlichkeit“.

Das ist also die Zahl, mit der wir operieren müssten: ein Risswachstum, das zum  Versagen des Reaktordruckbehälters von Tihange-2 und zum gefürchteten Super-GAU führen könnte (aber nicht muss), geschieht nicht, wie vom Quarks-Film durch eine schlampige Text-Bild-Beziehung suggeriert wird, einmal in zehn Jahren – sondern zwischen einem und zwei Malen in hundert Millionen Jahren. Der Wert für ein RDB-Versagen liegt noch darunter, aber seien wir mal ultrakonservativ und  unterstellen, dass ein Risswachstum immer zum Behälterversagen führt.

Ein Zusammentreffen von RDB-Versagen und unglücklicher Wetterlage für Aachen liegt dann, die oben genannten zehn Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Wetterlage zugrundegelegt, bei ein bis zwei Male binnen einer Milliarde Betriebsjahren, was angesichts der vierjährigen Restlaufzeit von Tihange-2 doch recht unwahrscheinlich erscheint. In Prozentzahlen ausgedrückt sprechen wir hier nicht von einer 10prozentigen Wahrscheinlichkeit, dass Aachen wegen eines Tihange-Unfalls evakuiert werden muss –

– das suggeriert der Film – sondern von einer Wahrscheinlichkeit von 0,00000014 Prozent. Da, wie oben dargelegt, das Risswachstum nicht automatisch zum Unfall führt, muss man sogar sagen: wir sprechen von einer Wahrscheinlichkeit kleiner als 0,00000014 Prozent.

Die Ausreden des WDR

Auf Facebook zur Rede gestellt behauptet das Social-Media-Team von „Quarks“ dasselbe, was auch Politiker behaupten, wenn sie bei Sprachmanipulationen ertappt werden: man sei missverstanden worden und hätte das keinesfalls so gemeint, man habe nur eine „Wissenschaftliche Studie“ zitiert.

Sprich: das dumme Volk ist selber schuld, wenn es uns falsch versteht. An der Aufmachung des Films änderte man nichts. Genauso war es auch 2016 nach Kritik an dem Kühlturm-Explosions-Thumbnail: „Ein kleiner Disclaimer: Dass Feuer aus den Kühltürmen von Tihange kommt, wie in unserem Thumbnail zu sehen, ist natürlich eine Montage und Quatsch und dient nur der thematischen Illustration eines potentiell gefährlichen Kraftwerks. Im Video siehst Du, wie ein Gau in Tihange vermutlich wirklich aussähe.“

In dieser Aussage entlarven die Quarks-Macher ihren manipulativen Umgang mit Visualisierungen selbst: Ist zwar falsch, dient aber einer guten Sache, und darf deshalb weiter verbreitet werden. Wenn uns jemand auf die Schliche kommt, bezeichnen wir es als Quatsch, kicherkicher!, aber es bleibt trotzdem stehen.

Audiovisuelle Manipulation ist, neben der suggestiven Zahlenspielerei, auch der rote Faden im Rest des aktuellen Tihange-Films. Das fängt bei der irisierenden grünlichen Farbgebung an, die wohl die Assoziation „Strahlung“ und „Luftverschmutzung“ erzeugen soll, geht mit den Schattenrissen finsterer Reaktorgebäude und mit flakscheinwerfer-artig über eine Deutschlandkarte fingernden leuchtenden Strahlenwolken weiter, und endet bei den Radionuklid-Flocken, die wie Flugasche über Aachen niederrieseln. Dieser ganze Nukleo-Zinnober wird von dräuender Musik unterlegt.

Angesprochen auf diese hochproblematische Art der visuellen „Wissens“vermittlung legten die Quarks noch eins drauf und empfahlen den Kritikern die Tschernobyl-Serie auf Sky, wohlgemerkt keine Doku, sondern Fiction, die es mit der visuellen Wahrheit auch nicht besonders genau nahm und ebenfalls Radionuklide als Flugasche-Flöckchen und Lichteffekte darstellte; man gewinnt fast den Eindruck, die Serie hätte beim Quarks-Film Pate gestanden. Quarks dazu: „Unsere Filme sind noch besser“. Dieser Kommentar wurde später aus dem Thread wieder entfernt, zumindest habe ich ihn nicht mehr gefunden.

Zweifelsohne, liebe Quarks, sind eure Filme „gut“ und werden immer „besser“‘, wenn es um ihre Bewertung auf der nach oben offenen Propaganda-Wirkkraftskala geht. Wie so ein Produkt zustande kommt – ob aus explizitem Willen zur Manipulation, ob aufgrund schlechter naturwissenschaftlich-technischer Vorkenntnisse der Verantwortlichen, oder aufgrund einer prinzipiellen Naivität und Unprofessionalität im Umgang mit Texten, Bildsignalen und Text-Bild-Beziehungen: keiner der möglichen Gründe gereicht dem WDR zur Ehre. Mit seriösem Wissenschaftsjournalismus hat dieser Film jedenfalls exakt so viel zu tun wie ein Quark aus einem Teilchenbeschleuniger mit einem Quarkteilchen aus der Bäckerei Merzenich am Wallrafplatz, gegenüber vom WDR-Funkhaus.