Die Forderung, das Expertentum habe in Politik und öffentlicher Meinung vor allen anderen zu sein, machte in letzter Zeit hartnäckig die Runde. Dem soll hier, ohne besondere Expertise, widersprochen werden.

Die sogenannte „öffentliche Meinung“ ist immer voller Missverständnisse. Sie lebt geradezu davon, dass der eine etwas behauptet und die andere das richtigstellt und dass beide falsch liegen. Missverständnisse halten die Kommunikation, die Medien, die sozialen Netzwerke am Laufen. Es wäre eigentlich an der Zeit, dem Missverständnis eine Doktorarbeit zu widmen, quasi einen „Versuch über eine Theorie der Missverständnisse“. Na gut, ein, zwei Kolumnen tun es auch.

Natürlich müssen unter diesen belebenden Umständen nicht alle Missverständnisse aufgeklärt werden. Wenn ich hier trotzdem etwas richtigstellen will, dann liegt es daran, dass zwei Missverständnisse in der öffentlichen Meinung zuletzt überhand nahmen und keine Anstalten machten, sich auf dialektischem Umweg selbst zu berichtigen. Es geht um die wiederkehrenden Behauptungen, an der Spitze von Ministerien müssten ausgewiesene Fachleute stehen und öffentliche Diskussionen in erster Linie von Experten geführt und bestimmt werden.

ERSTES MISSVERSTÄNDNIS

Bei der Ablösung von Christine Lambrecht als Verteidigungsministerin konnten sich viele bestätigt fühlen, die schon bei ihrer Vereidigung vor mehr als einem Jahr feststellten, dass sie zu fachfremd sei, um das Verteidigungsministerium zu leiten. Es stimmte: Sie war fachfremd, denn sie war zuvor nicht als Verteidigungsexpertin aufgefallen oder gar „Teil der Truppe“ gewesen, wie es im Bundeswehrjargon heißt. Aber das Missverständnis liegt hier in der Annahme, dass man als Minister so etwas wie ein Geschäftsführer, Manager, CEO eines großen Betriebs und dafür entsprechend ausgebildet sein müsse. Das muss man nicht, denn wir haben es hier mit einem politischen Amt zu tun. Dafür gibt es keine adäquate Ausbildung. Oder gibt es irgendwo einen Studiengang „Kanzlerwissenschaft“, kann man bei irgendwem in die Lehre gehen und seinen „Meister in Verkehrsminister“ machen (um dann nichts mehr in diesem Amt zu machen), gibt es neuerdings Handbücher „Wie werde ich Fraktionsvorsitzender“? 

Über die Jahre sieht man ja die tollsten Dinge, aber man ist dann doch etwas überrascht, wenn Fachleute gefordert werden von Kommentatoren, die sich zuvor vehement für zusammengeloste, unlegitimierte und von jeder Verantwortung befreite Bürgerräte einsetzen, die mal eben die deutsche Außen- oder die Klimapolitik entwerfen sollen.

Eigentlich ist alles ganz einfach: Die Qualifikation für ein politisches Amt liegt in einer Präposition. Der Soziologe Max Weber hat in seinem „Politik als Beruf“ zwei Arten genannt, aus der Politik einen Beruf zu machen: Entweder man lebt für oder von der Politik. Die Präposition „für“ ist die entscheidende. Man kann von  der Politik leben, aber dann wird man in der Regel nie positiv auffallen und nur den Eindruck vermitteln, da habe einer seinen Beruf verfehlt, weil er keine echte Berufung hatte (Beispiel Lambrecht). Wer für die Politik lebt, der betreibt sie mit Leidenschaft – nicht zu verwechseln mit Aufgeregtheit! – im Sinne von Sachlichkeit, sprich: leidenschaftlicher Hingabe an eine Sache, dem Hineinfuchsen in die Herausforderungen und Themen, um sich in Sachen Kompetenz von niemandem schlagen zu lassen (der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist da sicher ein gutes Beispiel). Hinzukommen sollten Verantwortungsgefühl und – als Notbremse vor zu viel Leidenschaft – Augenmaß (dazu gehört auch eine gewisse Distanz zu den Dingen und sich selbst, was vor Eitelkeit, nach Weber eine der schlimmsten Sünden von Politikern, schützt). 

Mit diesen Qualifikationen ausgestattet – und man sollte ein wenig Erfahrung, Durchsetzungskraft und Nervenstärke ruhig noch hinzurechnen – ist man für ein Amt, das politische Leitlinien, gut begründete Entscheidungen, Vorausschau, Strategien und mithin Führung braucht, gut gewappnet. Für die besondere Expertise, das administrative Kleinklein, die politische Umsetzung hat der Minister oder die Ministerin ja Staatssekretäre und einen „Apparat“: ein gut ausgestattetes Ministerium, eine manchmal gewaltige, kompetente Institution für das gute Regieren. Doch ein Problem bleibt: die „Erfahrungsleere“, die vollständige gesellschaftliche Isolation durch Sitzungen, Aktenlektüre, Gesetzesvorlagen, Reden, Termine und noch mehr Termine. Hans Magnus Enzensberger konstatierte einmal: „Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuss des Todes.“ Viele Politiker wissen um das Problem, sie versuchen es mit Bataillonen aus Beratern, Experten, Spin-Doktoren, Coaches, persönlichen Referenten, Think Tanks mehr oder weniger zu kompensieren. 

Beim Verteidigungsministerium konnte dies alles nichts fruchten, es scheint ein Sonderfall zu sein, ein chronischer Patient, an dem sich jetzt schon etliche Politiker die Zähne ausgebissen haben. Das Verteidigungsministerium erfüllt seine Funktion nur bedingt, aber das ist in erster Linie politisch gewollt – und das schon seit langem. (Wie lautete 2017 ein Wahlslogan der SPD: „Bildung statt Rüstung“?) Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann war die Benennung von Christine Lambrecht dieser Beweis für eine geplante Dysfunktionalität. Von Anfang an war klar – und sie machte sich zu keinem Zeitpunkt die ernsthafte Mühe, diesem Eindruck entgegenzuwirken – dass sie kein Interesse an diesem Amt hatte und dass es ihr allein wegen Quote und Proporz zugefallen war. (Wobei die Quote zunächst den Pool der Prätendenten erweitert, ihn aber gleichzeitig – vor allem in Verbindung mit Proporz – auch verengt. Lösung dieses Problems: sich um die Realisierung der Quote bemühen, aber niemals versprechen!)

Vor dem Desinteresse der Ministerin am Amt stand aber vor allem das Desinteresse des Kanzlers an einem funktionierenden Verteidigungsministerium mit einem starken Amtsträger an der Spitze und einer zeitgemäßen, ernsthaften Verteidigungspolitik. Das Kanzleramt wächst nicht zufällig zu einem pharaonischen Bau heran – es geht hier um eine ungute Verlagerung von Macht in dieses Amt am Spreebogen. Das macht jeden Minister von vorneherein kleiner, als er und sie sein sollten. Oder sagen wir es mal so: Scholz will wie der amerikanische Präsident sein: Oberbefehlshaber und gewählter Monarch. Man darf gespannt sein, wann der Bundestag hier einschreitet.

ZWEITES MISSVERSTÄNDNIS

Vor fünfzig Jahren war alles viel einfacher. Es gab noch kein Twitter und nur zwei Talkshows: den „Internationalen Frühshoppen“ und Dietmar Schönherrs „Je später der Abend“. Dort wurde geraucht, geflucht, gesoffen. Und man wusste, wen man einlud, wenn es um Politik ging: Politiker, Journalisten und Intellektuelle. Letztere konnten Wissenschaftler sein, aber auch Künstler, vor allem aber olympische Schriftsteller wir Böll, Grass, Frisch. Größer war der Kreis im Wesentlichen nicht. Heute, im Zeitalter der Sozialen Medien, der Spartenkanäle und unzähligen Gesprächsrunden, in denen Wasser gepredigt und Wasser getrunken wird, hat sich der Kreis verändert und zugleich erweitert: Zu den Politikern und Journalisten sind Aktivisten, Promis, Betroffene und Experten gestoßen. Intellektuelle, also Vertreter eines universellen und nicht selten auch universalistischen Denkens, gibt es auch noch und werden gelegentlich zur Deutung welt- oder kulturpolitischer Vorgänge geladen, sie sind aber im obigen Sinne so selten geworden wie Ovomaltine-Trinker und wurden ersetzt von selbstbezüglichen, wehleidigen Nationalintellektuellen, die sich auch als Opfer von irgendwem oder irgendwas sehen wollen. Aktivisten – das wollen heute alle sein: also eher handeln statt denken. Wobei das Handeln eher aus Recycling alter Ideen aus den 1970er- und 1980er-Jahren besteht.

Damit scheint die Stunde der Experten angebrochen zu sein. Von Experten kann man ja auch viel lernen. Sie sind in ihrem Fach ausgebildet worden, haben vielleicht sogar entsprechende Forschung betrieben, neue Erkenntnisse gewonnen, Bücher geschrieben und sich mit anderen Experten auf Kongressen ausgetauscht. Ihr Wissen ist in der Regel profund. Und doch gibt es keine wissenschaftliche Einheitlichkeit oder Einheit (ganz unabhängig davon, dass es eine Wahrheit gibt, was manche Philosophen und  Sozialwissenschaftler fälschlicherweise bestreiten). Während der Corona-Pandemie beispielsweise gab es von renommierten Experten unterschiedliche Bewertungen, wie gefährlich das Virus und was zu tun sei. Die Gründe für die Unterschiede sind nicht alle erkennbar: Renommiersucht und verschiedene Risikoeinschätzungen dürften dabei sein. Tatsache ist, dass der genaue Verlauf der Pandemie nicht vorhersehbar war und die Politik international auch zu unterschiedlichen Bewertungen in ihrem Handeln kam. 

Ein anderer Fall: In Sachen Klimawandel gibt es kaum noch seriöse Wissenschaftler, die die anthropogenen Ursachen für den Treibhauseffekt bezweifeln. Sehr große Unterschiede gibt es aber bei der Bewertung, was daraus zu folgen hat. Namhafte Experten insistieren darauf, den Ausbau der Atomenergie (als CO2-arme Energiequelle) voranzutreiben; andere, vor allem in Deutschland, lehnen das strikt ab. Warum? Während sie sich bei der Bewertung und Prognose der Klimakrise auf Fakten berufen können, können sie das bei der Lösung des Problems nicht; außerdem kommen da häufig politische Vorlieben ins Spiel. An der Stelle beginnt dann der Wandel vom Wissenschaftler zum Aktivisten. Da ist zunächst nichts gegen einzuwenden, das gehört zur Meinungsfreiheit. Es müsste aber wie bei Kommentaren und Berichten in Medien eine Kennzeichnung geben, was oder wen man gerade vor sich hat: einen Diener wissenschaftlicher Fakten oder einen politischen Kampagnero. Das ist nicht immer leicht zu trennen. Aber warum sollte man dann unhinterfragt #followthescience ernstnehmen? Man kann, aber eben nicht in jedem Punkt.

In Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine gibt es nicht wenige, die wegen Geschichtsklitterungen, Lügen und Tatsachenverdrehungen beim Kampf um die Öffentliche Meinung für Aufsehen sorgen. Als Mittel gegen diese meist politisch intendierten Wortmeldungen wird immer wieder die Seriosität und Kompetenz von Experten ins Feld geführt (häufig von diesen selbst) und dass sie wegen ihrer Expertise allein gehört werden sollten – ein Plädoyer für eine mediale Expertokratie also. Aber dass die vielfältigen Redaktionen nicht darauf eingehen, hat gute Gründe: Wenn man nicht Gefahr laufen will, in all den vielen Sendungen und Zeitungsseiten immer die gleichen Namen einer Handvoll –  wenn auch exquisiter – Experten zu präsentieren, dann muss man den Kreis erheblich vergrößern. Das muss nicht immer von Nachteil sein, auch wenn sehr oft dreiste Faktenerfinder, professionelle Quotenclowns, getriebene Publicity-Junkies und diabolische Provokationsprofis in die Gesprächsrunden und auf die Zeitungsseiten eingeladen werden. Diese docken bewusst an die Ängste, die Risiken, auf das immer Unabwägbare in der Zukunft, das Menschen beunruhigt, an. Trotzdem hilft es der Ukraine, der Wahrheit, dem Frieden nicht, Tatsachenverdrehern, die sehr oft bereits existierende Ressentiments und sorgsam gepflegte Irrtümer und Sorgen in der Bevölkerung bedienen, den Zugang zur Öffentlichkeit in Talkshows oder Zeitungen zu versperren. Vielmehr müssen sie, um auf diesem Umweg die irrende Bevölkerung zu erreichen, in den Medien gestellt, entlarvt, zurechtgestutzt werden mittels Argumenten, Tatsachen, Fakten – den Waffen der aufklärerischen Vernunft. Dafür gibt es exzellente Wissenschaftler (beispielsweise hier), aber nicht nur. Es gibt auch Politiker, Künstler, Kolumnisten, Journalisten usw., die das können. Man kommt nicht umhin, diese Auseinandersetzungen, das Ringen um die richtigen Entscheidungen und den besten Weg in die Zukunft jederzeit und überall mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu führen – gleich, wo man gerade ist: ob in einem Studio, im Büro, auf Twitter oder im Familienkreis.

Man muss es immer wieder tun. Immer wieder. Und immer wieder.

Und man muss dafür wirklich kein Experte sein.