In Berlin untergraben Nager ganze Müllanlagen. Ein Gedicht Heines ist erschreckend aktuell.

Wo Menschen leben, florieren Ratten. Eine Studie der Berliner Wasserbetriebe von 2015 schätzt ihre Zahl in der Hauptstadt auf 2,4 Millionen. Und in letzter Zeit scheinen die Nager sich noch weiter vermehrt zu haben. Gab es in den Jahren zuvor um die 7000 Einsätze von Schädlingsbekämpfern pro Jahr, waren es 2017 über 10 000.

Aus Reinickendorf und Mitte meldeten sich Bewohner und Bezirkspolitiker – ausgeprägte Höhlensysteme der Tiere führten in einigen Fällen schon dazu, dass Gehwege einstürzen.

Eine Hochhaussiedlung beim Tegeler See ist von Ratten befallen und es scheint kaum ein Mittel dagegen zu geben. Die Ratten an der Neheimer Straße haben den Müllkäfig vor einem Hochhaus so extrem untergraben, dass der Steinboden schon absackte und erneuert werden musste.

In ihrer Verzweiflung haben Anwohner abgebrochene Glasflaschen Rattenlöcher gesteckt. Aber die findigen Säugetiere buddelten daneben einfach neue Löcher. Rattengift-Container scheinen nur wenig zu bringen.

CDU-Mann Felix Schönbeck (28) vom Reinickendorfer Gesundheitsausschuss schlägt Alarm, schließlich gebe es Seuchengefahr: „Man muss wohl die Systeme fluten oder mit Gas arbeiten – Rattengift alleine wirkt nicht mehr.“

Besonders ekelhaft wird es, wenn die Tiere sich zum Gift-Sterben in die Hochhauskeller zurückziehen und da verwesen, weiß Anwohner Yves Pappé (56), der die dann mit der Schaufel entsorgt und Respekt vor den Tieren hat: „Die haben so ein Revolvergebiss, das krieg’ste nicht mehr auf.“ Bei seinem Nachbarn, Herrn B., kam schon eine Ratte durch ein Abflussrohr in den siebten Stock.

Heines „Die Wanderratten“

Viele der Anwohner, die man fragt, seit wann die Rattenplage besonders schlimm sei, drucksen erst herum und reden dann von Flüchtlingen, die in der Nähe in einem Containerdorf leben.

„Die Flüchtlinge schmeißen ihre Essensreste in die Büsche, seitdem gibt es immer mehr Ratten“, sagt ein deutscher Rentner und seine Frau nickt.

Ein in der ehemaligen Sowjetunion geborener Aussiedler, der selbst in Deutschland aufgenommen wurde, erklärt: „Die liebe Frau Merkel sagte, wir sollen die Flüchtlinge akzeptieren und integrieren. Jetzt haben wir die Ratten.“

Es ist wie in Heinrich Heines (1797 – 1856) Gedicht „Die Wanderratten“: „Die Wanderratten, o wehe! / Sie sind schon in der Nähe / Sie rücken heran, ich höre schon Ihr Pfeifen – die Zahl ist Legion / O wehe! wir sind verloren / Sie sind schon vor den Toren! Der Bürgermeister und Senat, Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat“.

Heines Gedicht war ein Gleichnis für arme Leute, die in reichere Länder ziehen und den alteingesessenen Bürgern, die in dem Gedicht als „satte Ratten“ bezeichnet werden,  Angst machen. Am Anfang heißt es: „Es gibt zwei Sorten Ratten: / Die hungrigen und satten / Die satten bleiben vergnügt zu Haus, / Die hungrigen aber wandern aus.“

Und auch in diesem Sinne ist das Gedicht in Reinickendorf aktuell. Denn schon oft in der Menschheitsgeschichte wurden Minderheiten auf menschenverachtende Weise für den Ausbruch von Plagen und Besitzverlust verantwortlich gemacht. Heine, selbst der jüdischen Minderheit entstammend, wollte dagegen anschreiben: „Die Bürgerschaft greift zu den Waffen / Die Glocken läuten die Pfaffen / Gefährdet ist das Palladium / Des sittlichen Staats, das Eigentum.“

Ein Treffen mit Mitarbeitern des Siedlungs-Besitzers Gewobag brachte zunächst keine Lösung, sagt Schönbeck. Erst nach ersten Medienberichten wurde der Besitzer aktiv. Die Gewobag: „Wir werden den Müllplatz jetzt abnehmen, den Untergrund mit Beton-Recycling verdichten und dann die Pflastersteine wieder einlegen.“

Ratten in Mitte

Die DDR-Plattenbausiedlung nahe der Jannowitzbrücke steht seit Anfang der 1970er-Jahre. Als nach der Wende die Müllschlucker abgebaut wurden, kamen die Ratten.
Seit etwa einem Jahr ist der Befall an der Holzmarktstraße so extrem geworden, dass rund um Hausabgänge der Boden absackt. Die Nager haben sich rund um ihr Buffet – die Müllcontainer – ausgeprägte Höhlensysteme angelegt.

Anwohner Günter Schmolt (85): „Der Rattenbekämpfer war hier, aber das Gift haben die Krähen gefressen, die amüsieren sich heute noch!“ Bei der Nationalen Volksarmee habe er gelernt, wie man gegen die Tiere vorgeht: „Bei mir vor dem Haus habe ich gegärte Zwiebeln in die Löcher gerollt. Da sind die Viecher weg, die Gase können die nicht ab.“

Seit etwa vier Wochen sind Teile des Gehwegs von der Hausverwaltung „Akelius“ abgesperrt worden, Fußgänger könnten durch den Gehweg fallen und im Rattenbau landen. „Die wollen bald wieder einen Kammerjäger schicken, aber das bringt nichts“, sagt Schmolt.

Dieter Below (75) zog in die Siedlung, als sie gerade gebaut worden war. „Eine Weile kam alle paar Tage einer und kippte die Löcher mit Sand zu. Am nächsten Tag waren die Löcher wieder da“, sagt er.

Als vor einiger Zeit Stromleitungen unter einem Haus verlegt wurden, sah er das ganze Ausmaß des Schadens: „Die Ratten hatten eineinhalb Meter unter dem Eingang alles unterhöhlt.“ Er vermutet, dass auch unter dem Sportplatz, wo einst Altbauten standen, in nicht verschütteten Kellergewölben riesige Rattenhöhlen sind.

Abends sieht er die Tiere hin und her flitzen. Er glaubt, dass die Müllcontainer so hermetisch verschlossen werden müssen, dass die Tiere keine Chance mehr haben, an Essensreste zu gelangen. Und für die nun unter seinem Haus lebenden Tiere, fordert er radikale Maßnahmen. „Vergasen“, sagt er.

Tipps vom Landesamt für Gesundheit und Soziales

Silvia Kostner, Pressesprecherin vom Landesamt für Gesundheit und Soziales: „Rattenzuwachs ist sehr stark an die Nahrungsaufnahme gekoppelt. Wenn die Tiere genügend Nahrung haben, können sie acht mal im Jahr sechs bis zwölf Junge werfen.“

Das heißt: Wer es den Tieren schwer macht, an Nahrung zu kommen, verhindert ihre Ausbreitung. Ein wachsendes Berlin, stetig steigende Touristenzahlen bringen auch mehr Fressen für die Tiere mit sich.

Kostners Tipps: „Keine Tauben füttern, keine Essensreste auf den Boden werfen, keine Essensreste ins Klo spülen.“ Außerdem, sagt sie, sei es wichtig, jede Rattensichtung im jeweiligen Bezirk zu melden.

„Auch Fotos und Beschwerden bei Hausverwaltungen helfen. Vermieter sind verpflichtet, Schädlinge zu bekämpfen, bei Resistenzen der Tiere neue Gifte einzusetzen. Außerdem sollten Mieter kaputte Müll-Container bei der BSR melden.“

Diese Geschichte erschien zuerst bei „Bild“ und „B.Z.“