Henryk M. Broder war mal ein journalistisches Genie. Er könnte es immer noch sein. Doch er hat sich anders entschieden – und liefert Textvorlagen für die Mistgabelfraktion.

Als Albert Einstein in den Dreißigerjahren in die USA übersiedelte, war er schon so etwas wie eine lebende Legende. Als Wissenschaftler hatte er 1915 en passant die moderne Physik revolutioniert und 1921 den Nobelpreis erhalten. Beide Ereignisse erfuhren seinerzeit eine optimale popkulturelle Verwertung mit dem Ergebnis, dass Einstein, das Genie mit der herausgestreckten Zunge, zum ikonischen Bild des brillanten und liebenswert zerstreuten Wissenschaftlers wurde. Der Haken ist nur: Das stimmte nicht.

Einstein starb 1955, hatte aber 1915 bereits den Höhepunkt seines Schaffens erreicht. Seine letzten Jahrzehnte verbrachte er praktisch ohne Ertrag im Bemühen, eine einheitliche Feldtheorie zu finden und so seine längst vollendete Karriere noch einmal zu bekrönen. Als glücklichen Menschen darf man ihn sich auf seine alten Tage eher nicht vorstellen.

Genies, die in der langen Ehrenrunde ihrer großen Karriere nicht mehr bemerken, dass das Zielfoto längst geschossen wurde – das ist heute noch genauso ein Thema wie früher. Auftritt Henryk M. Broder.

Darüber, dass Broder ein Genie ist, kann es – so viel vorweg – diesseits von Abi Melzer keine zwei Meinungen geben. Sein Sprachgefühl ist unerreicht, und die Art, wie er seine bemitleidenswerten Gegenspieler stets auf schroffe und zugleich einfühlsame Weise in den Boden rammte, dürfte zu unseren Lebzeiten nicht mehr übertroffen werden.

Und: Für jemanden, dessen Publikum ihn vor allem für seine Finesse in der hohen Kunst der Beleidigung liebte, ist er erstaunlich einnehmend. Wohl niemand außer ihm hätte sich mit Bärenpuscheln im Design der amerikanischen Fahne in eine deutsche Talkshow setzen können, ohne sofort als geistesgestört des Studios verwiesen zu werden.

Das Konzept hat sich überlebt

Wie Einstein ist auch Broder eine Ikone: Kein Redakteur würde sich mehr die Mühe machen, seine Texte mit etwas anderem als seinem Konterfei zu bebildern. Leider enden die Parallelen hier nicht. Denn auch Broder hat auf seiner persönlichen Karriereautobahn irgendwann einmal in einem abwesenden Moment eine schlecht beleuchtete Ausfahrt genommen, ohne es zu merken, und gurkt nun im Glauben, alle drei Spuren vor ihm seien frei, von Straßendorf zu Straßendorf.

Sein Abstieg vom gesellschaftlich relevanten Berufsprovokateur zum publizistischen Arm der Mistgabelfraktion war schleichend. Seine Texte blieben ihrem Stil immer treu, ob er nun über akademische Israelhasser schrieb, über die unhaltbaren Zustände in Neukölln oder den linken Realitätsverlust, wenn mal wieder irgendwo eine Lichterkette das Ende des Faschismus ausrief.

Lange war das erfrischend, weil es außer Broder fast keiner so benannte. Doch diese Zeiten sind vorbei. In einer Zeit, da die sozialen Medien auf Knopfdruck jeden gewünschten Grad an zwischenmenschlicher Jauche zur Verfügung stellen, hat sich das Konzept des betont Unangepassten überlebt. Broder ist nicht mehr der Einzige, der an der Bundesrepublik nichts ernst nehmen kann, nur dass die New Kids on the Block seine Positionen mit deutlich mehr Boshaftigkeit vertreten.

Der mit den Wölfen heult

Anstatt sich aber dieser Usurpation entgegenzustellen, hat ein geschmeichelter Broder offenbar lieber beschlossen, mit den Wölfen zu heulen. Aus dem Broder, der zusammen mit Eike Geisel die Missverständnisse einer selbstgerechten deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ aufspießte, wurde der Broder, der Kriegsflüchtlinge mit Ungeziefer in Verbindung brachte* und sich vor laufender Kamera von der Vorsitzenden der wichtigsten NS-Relativierungspartei in Deutschland umarmen ließ. Damit heulte er nicht länger nur mit den Wölfen, er biederte sich ihnen an. Lauwarme Semi-Entschuldigungen, die pflichtschuldig nachgeschoben werden, machen daran nichts besser.

Die an Sprachbildern reiche amerikanische Umgangssprache würde in einer solchen Situation über Broder sagen, „he jumped the shark“. Das hätte wie gesagt nicht sein müssen; rechtzeitig ein starkes Wort von ihm über die AfD, und die Diskursblasen wären weitgehend getrennt geblieben. Stattdessen sind sie heute zu einem lautstarken Wutball verschmolzen, der die Politik ochlokratisch vor sich hertreibt und nichts mehr für wahr hält außer dem eigenen Geifer. Es ist nicht ohne Ironie, dass Broder selbst diese Entwicklung bereits in den 2000ern vorhergesagt hatte.

Wie geht es nun weiter mit ihm? Die einheitliche Feldtheorie der Wutbürger wird Broder auch nicht finden. Wahrscheinlicher ist, dass er, umgeben von seinen gnatzigen Getreuen, immer weiter in den trüben Untiefen des Internets versinkt. Eines nur mag uns zum Trost gereichen: Wie bei allen Genies wird auch bei ihm die Ikone die reale Person überleben. Das Konzept Broder muss nicht im Fraktionssaal der AfD enden.

*In einer früheren Version war davon die Rede, dass Flüchtlinge direkt mit Ungeziefer verglichen worden seien. Da Broders Text jedoch unterschiedliche Interpretationen zulässt, haben wir die entsprechende Stelle hier angepasst.