Die Beschneidungsdebatte ist zurück – und mit ihr auch eine besonders abstoßende Form der Kritik an Religionen und Gläubigen. Wer ihre Praxis und Institutionen verbieten will, diskriminiert, sagt die Religionswissenschaftlerin Franziska Holzfurtner.

Die Julis haben in ihr Bundeswahlprogramm die Forderung aufgenommen, die rituelle Beschneidung von Kindern unter Strafe zu stellen. Sie sehen darin aber keine Einschränkung der Religionsfreiheit. Das mag für Anhänger vieler Religionen erst einmal kontraintuitiv sein, aus Sicht vieler Deutscher, besonders liberal und atheistisch eingestellter, ist es das aber nicht.

Der hinter dieser Gedankenkapriole stehende Trick ist eine bestimmte Auffassung von „Religion“. Gräbt man nach deutschen akademischen Religionsdefinitionen, findet man hauptsächlich protestantische Religionswissenschaftler der ersten Stunde, wie Schleiermacher oder Otto.

Es gibt nichts Gutes, außer man glaubt es

Schleiermacher definiert Religion in seinem 1799 erschienen Werk „Über die Religion“ als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Religion ist eine „Weltanschauung“, die weder die Annahme eines personalen Gottes noch Institutionen, Riten oder ethische Regeln benötigt. All dies kann im Extremfall sogar dazu beitragen, das „religiöse Gefühl“ zu verunreinigen und zu verdecken. Diese reine Glaubenszentrierung verweist auf klassische protestantische Positionen in der Kritik an Judentum und Katholizismus: Die Oberflächlichkeit „leerer Riten“, die Weltlichkeit religiöser Institutionen, der naive Glaube an Wunder. Religiös ist an anderen Religionen lediglich das, was an ihnen protestantisch und somit protestantischer Wertschätzung würdig ist, der persönliche, innere Glauben an etwas Transzendentes. Eine  auf diese Weise definierte Religion kann, ohne zu leiden, problemlos und ausschließlich zwischen den eigenen Ohren „praktiziert“ werden.

Logischerweise wird die Freiheit einer auf Glaubensinhalte reduzierten Religion nicht eingeschränkt, wenn man Menschen ihre Praxis, ihre Institutionen oder eine spezifisch religiöse Teilhabe am öffentlichen Leben verbietet. Natürlich haben Protestanten das Recht, ihre Umwelt nach eigenen Kriterien zu bewerten. Ihre alles andere als neutrale Religionsdefinition hat nun aber schon längst den konfessionellen Kontext verlassen. Sie erreichte einen Höhepunkt im Nationalsozialismus, der versuchte einen institutions- und verbindlichkeitenfreien „Gottglauben“ als diffus monotheistische Konfession in Deutschland zu etablieren . Die dem zugrundeliegende Haltung ist bis heute weit verbreitet. Eine Gewährleistung der „Religionsausübung“ im Stile des Grundgesetzes wird damit relativ, denn nach Ansicht vieler besteht die eigentliche Religionsausübung darin, zu Hause zu sitzen und an Gott zu glauben. Darüber hinausgehende religiöse Handlungen sind überflüssiges Beiwerk und daher prinzipiell verdächtig.

Viele Religiöse in Deutschland würden dieser Position entschieden widersprechen, denn ihre Praxis und ihre Institutionen sind für sie das Herzstück ihrer religiösen Identität.

Wer nur dem Glauben nach Jude ist, ist kein Jude, solange ihn nicht Praxis oder Abstammung legitimieren. Ganz Ähnliches trifft auch auf Katholiken oder Muslime zu. Wenn der Staat nach protestantischen Gesichtspunkten in diesen Religionen herumstreicht, kann er ihre Anhänger nicht nur in große Seelennöte bringen, er kann, ohne dies selbst so wahrzunehmen, die ganze Religion abschaffen.

Denk doch mal einer an die Kinder

Ein Klassiker der Kritik an religiöser Praxis ist die Unterweisung oder rituelle Eingliederung von Kindern in die Religion ihrer Eltern. Die Beschneidung ist der Kassenschlager, da sich hier möglicherweise eine juristische Handhabe findet, sie zu verbieten.

Ebenso leidenschaftlich und mit den identischen Argumenten wenden sich viele Religionskritiker jedoch gegen die Kindstaufe oder religiöse Erziehungseinrichtungen, welche sie gerne als „Gehirnwäsche“ und Verstoß gegen die Religionsfreiheit verbieten lassen würden.

Gemäß der Schleiermacher‘schen Religionsdefinition ist dieser Schluss auch nur logisch: Die Religionszugehörigkeit wird über den reinen Glauben an die Inhalte der Religion definiert. Erzieht man Kinder in diesem Glauben, „macht“ man sie zu Religionsmitgliedern und unterbindet, dass sie ihren „echten“ Glauben selbst finden können, denn dieser muss ja eine vom Gefühl getragene selbstständige Überzeugung sein.

Für Juden, Muslime und viele christliche Konfessionen hingegen hat ein neugeborenes Kind einen Anspruch darauf, Teil der elterlichen Religionsgemeinschaft zu sein.

Die Eltern nehmen daher die Beschneidung bzw. Taufe und religiöse Erziehung nicht als Vorsorge dafür wahr, dass die Kinder linientreu zurechtgebogen werden (oder -geschnitten, wie Antisemiten sich gelegentlich auszudrücken pflegen),sondern die Eltern erfüllen das natürliche Recht ihres Kindes darauf, Teil ihrer Religion zu sein. In einer pluralistischen, gewissensfreien Gesellschaft muss und darf von den Eltern natürlich erwartet werden, dass sie es akzeptieren, wenn das religionsmündige Kind diese Gemeinschaft selbst verlässt. Einem Kind, das Jude, Moslem oder Katholik ist, aber aufzuzwingen wie ein Atheist zu leben, bedeutet jedoch, ihm, schwerste Gewalt anzutun, weil es nicht lernen darf, wer es gemäß der Religionsauffassung  seiner Gemeinschaft bereits von Geburt an ist. Für Anhänger der essentialistischen Schleiermacher‘schen Religionsdefinition sind die Kinder geschädigte Dritte. Für alle anderen, oft auch sie selbst, nicht.

Die vielgelesene Aussage, es gäbe keine jüdischen, katholischen oder muslimischen Kinder, sondern mangels eigenen Glaubens oder Bewusstseins nur atheistische, wie sie beispielsweise auch von Richard Dawkins vertreten wird, basiert also ebenfalls auf dem tragischen Missverständnis, die protestantische Religionsdefinition sei allgemeingültig.

Ein Staat – viele Kulturen. Wie schaffen wir das?

Die Forderung, Kirche und Staat zu trennen, wird bis in das private Leben religiöser Menschen hereingetragen. Das wird ersichtlich, wenn man einmal betrachtet, wie Politiker oder auch nur politisch aktive Bürger diskreditiert werden, wenn sie ihre Verhaltensweisen oder Äußerungen religiös konnotieren. Journalisten kritisierten, dass mit Joachim Gauck ein evangelischer Pfarrer Bundespräsident wurde, von dem man erwarten konnte, sich in seinen Äußerungen und Entscheidungen religiös zu orientieren; einige prangern gerne an, wenn religiöse Würdenträger eingeladen werden, am gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu partizipieren. Im Internet kursieren Memes, die Religionen mit Penissen vergleicht, mit denen man privat herumspielen, aber sie Kindern nicht zeigen dürfe.

Besonders perfide wird dieser Mechanismus dann, wenn religionslose Akteure dazu eingeladen werden, Religion zu bewerten, in der absurden Annahme, sie seien wegen ihrer Religionslosigkeit religionsneutral.Die lautesten Beschneidungs- oder Religionskritiker sind fast nie diejenigen, die das Thema selbst betrifft. Diese trauen sich gar nicht erst, sich zu äußern, weil sie wissen, dass der Diskurs ihnen keine Deutungs- oder Definitionshoheit zubilligt. Im Extremfall führt dies dazu, dass religiöse Menschen diesen Persönlichkeitsanteil abspalten und nur noch im Geheimen ausleben. Wir erreichen damit gesellschaftliche Homogenität um den Preis der individuellen Freiheit.

Es kann niemals eine einheitliche Definition dessen geben, was Religion kann oder darf. Wir sollten uns mit aller Macht dagegen wehren, wenn religiöse Menschen mit unpassenden heuristischen Begriffen verkannt und untergebuttert werden. Dafür ist es erst einmal nötig, die Entstehungsgeschichte sowohl der problematischen Aspekte der jeweiligen religiösen Praxis als auch unserer Kritik an derselben zu kennen. Aus diesem Grund vertritt das Bundesverfassungsgericht bis heute den Standpunkt, dass es in Fragen der Religionsfreiheit nur Einzelfallentscheidungen geben kann. Die damit verbundene Komplexität, die Laien mitunter überfordert und somit empört, ist der Preis, den wir für eine diverse Gesellschaft zu zahlen haben, in der sich niemand unter dem Deckmantel der Neutralität nach Schleiermacher’schen Kriterien beurteilen lassen muss.