Nach einem Jahrzehnt bei Facebook und Twitter war unser Autor genervt und gelangweilt und stieg aus. Er schreibt aber weiter gern Randbemerkungen über Aktuelles und Zeitloses, Wichtiges und Marginales. In loser Folge dokumentieren wir hier seine Zwischenrufe.

Sind Sie für Schokolade und gegen Krieg?

Umfragen, bei denen es nur ums gut Meinen geht, sind nicht sehr aussagekräftig. Ein mittlerweile fast schon klassisches Beispiel ist die große Sympathie der Deutschen für den Biolandbau. Bei einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums 2018 erklärten 78 Prozent, sie würden Bio-Lebensmittel kaufen und 25 Prozent, sie würden dies sogar häufig tun. Gleichzeitig machten 2018 Bioprodukte 5,5 Prozent des gesamten Lebensmittelumsatzes in Deutschland aus. 2005 schaute ich mir einmal verschiedene damals aktuelle Umfragen seriöser Institute zum Thema Atomkraft an. Von 70 Prozent Ablehnung bis 71 Prozent Zustimmung war alles dabei.

An solchen echten oder scheinbaren Widersprüchen sind nicht die Demoskopen schuld, sondern Journalisten, die die Ergebnisse nicht richtig interpretieren und einordnen. Ob jemand etwas behauptet oder etwas tut ist ein großer Unterschied, auf den man hinweisen sollte. Auch die Formulierung der Frage hat starken Einfluss auf die Antworten, z.B. ob in der Frage Risiken oder Vorteile einer Entscheidung hervorgehoben werden.

Um so erstaunlicher sind die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Europäischen Investitionsbank. Demnach sind nur 15 Prozent der Deutschen bereit, für die Rettung des Klimas Verzicht zu leisten. Verblüffend: Sie hätten es ja einfach behaupten können. Umfragen verpflichten zu nichts.

Enteignet GAFA!

Wie harmlos aus heutiger Sicht die Macht des Springer-Konzerns in der 60er-Jahren erscheint. Damals glaubte man, ein gefräßiges Monopol bekämpfen zu müssen, das die Pressefreiheit bedroht. Und heute? Dass ein halbes Dutzend Männer (die niemand abwählen kann) darüber entscheiden, was öffentlich gesagt und gezeigt werden darf, ist gruselig und widerspricht allem, was liberale Demokratien ausmacht.  Hoffentlich gewinnt die Debatte über die Macht von Google-Apple-Facebook-Amazon (GAFA) bald an Fahrt und führt zu Konsequenzen. Hoffnung macht, dass in der Geschichte der Vereinigten Staaten immer wieder mächtige Trusts zerschlagen wurden. Und auch Deutsche Regierungen haben bewiesen, dass sie Großkonzerne zerlegen können, wie die Energiewende zeigte.

Vergangenheitsvernebelung

Die derzeitige öffentliche Fokussierung auf Rassismus und die Kolonialgeschichte wirft in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ein aufklärendes Licht auf die Verbrechen der Vergangenheit. In Deutschland hat sie eine Nebenwirkung, die man nicht unterschätzen sollte. Sie dient manchen dazu, die größten deutschen Verbrechen zu verkleinern, indem man sie als ein Ereignis unter vielen einordnet.

Gretas gefallener Vorgänger

2012 glossierten Maxeiner und ich in einer Kolumne das Club-of-Rome-Mitglied Frithjof Finkbeiner, der sein Kind Felix durch die Welt und die TV-Studios schickte, um für das Bäume-Pflanzen zur Rettung des Klimas zu werben. Dafür wurden wir heftig angegriffen, denn Felix spielte damals die öffentliche Rolle, die heute Greta Thunberg innehat: ein unschuldiges, erleuchtetes Kind, das die Welt rettet. Nun hat „Die Zeit“ in einem ausführlich recherchierten Artikel die Finkbeiners unter die Lupe genommen und nachgewiesen, dass sowohl die ökologischen Erfolge als auch die finanzielle Redlichkeit dieses Familienunternehmens höchst zweifelhaft sind. Erfreulich, dass nach jahrelangem Jubel in den Medien über den „Wahren Helden“ (Focus), gute Journalisten dann doch ihren Job machen.

Freud spukt in Hollywood und Babelsberg

In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts demontierten Wissenschaftlerinnen und Feministinnen Freuds Theorie der weiblichen Sexualität, gemäß der es ein infantiles (klitorales) Lustempfinden gäbe und ein erwachsenes (vaginales). Seither ist (zumindest in Kulturen, in denen über Sexualität gesprochen werden darf) allgemein bekannt, dass das alleinige Vor- und Zurückschieben eines Penis in der Vagina nur wenige Frauen zum Orgasmus führt. Nicht so im Kino. Dort wird Sex immer noch unbeirrt freudianisch dargestellt. So gut wie immer, wenn die Regie dem Publikum zeigen will „Diese beiden haben nun sensationell lustvollen Sex miteinander“, geht das so: Sie blicken sich an, sie küssen sich, sie reißen sich die Kleider vom Leib und dann…ja dann praktizieren sie die Sorte Sex, für die Alice Schwarzer einst das hässliche Wort „Penetration“ einführte. Nach kürzester Zeit mimt die Darstellerin einen vulkanhaften Höhepunkt. Gehört Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ zum Kurrikulum an Filmhochschulen? Wenn ja, sollte das mal geändert werden.

Neue Kulturfertigkeiten

Als älterer Mensch staunt man über neue Kulturfertigkeiten, die man wahrscheinlich selbst nie mehr erlernen wird. Kürzlich sah ich auf einem Spielplatz eine Mutter, die mit ihrer Tochter Tischtennis spielte und dabei telefonierte. Eine fast akrobatische Leistung geistig-körperlicher Koordination. Aus Kindessicht betrachtet wohl eher elterliches Desinteresse.

Identitäre Kabinette

Die mediale Begleitmusik der Kabinettsberufungen von Joe Biden zeigt, dass identitäres Denken die Gesellschaft tief durchdrungen hat. Da geht es hauptsächlich darum, ob die neuen Ministerinnen und Minister afroamerikanisch sind, indigen, weiblich oder schwul. In Deutschland ist es nicht besser mit dem Proporzdenken, das hierzulande obendrein traditionelle Regionalquoten berücksichtigt. Ich würde lieber von lauter POC-Frauen regiert werden, die alle lesbisch sind und aus Mecklenburg-Vorpommern stammen, aber etwas von ihrem jeweiligen Fach verstehen, als von einem zwanghaft bunten und diversen Kabinett.

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