Moral kann Politik nicht ersetzen – aber notwendige Diskussionen abwürgen. Die ZEIT hat gerade die Erfahrung gemacht, wie leicht man in Ungnade fallen kann. Doch neu ist die Diskussion um Moral und Politik nicht.

Man brauchte kein Fernglas, um diesen Shitstorm heraufziehen zu sehen, denn die Debatte steckt seit Jahren schon in diesem Shitstorm fest. Was ist passiert? Die Wochenzeitung DIE ZEIT hat in ihrer jüngsten Ausgabe das Thema Flucht in dem von ihr gern genutzten Pro-und-Contra-Format mit dem provozierenden Titel „Oder soll man es lassen?“ auf die prominente Seite 3 gehoben. Es geht um die Seenotrettung im Mittelmeer, wo Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge von Schlepperbanden in seeuntüchtige Boote gesetzt werden, mit denen man nur mit viel Glück ein rettendes europäisches Ufer erreichen kann. Damit nicht noch mehr Menschen als bisher ertrinken, engagieren sich schon seit einigen Jahren Aktivisten und retten Menschen vor dem sicheren Tod. Genau das beziehen die Schlepper, die ja nicht dumm sind und ihr Geschäftsmodell nicht zerstören wollen, in ihr Vorgehen ein und lassen die überfüllten Boote in Richtung der privaten Seenotretter fahren. Diese ambivalente Situation wurde in den kontroversen Beiträgen von Caterina Lobenstein und Mariam Lau beschrieben und bewertet. Knapp zusammengefasst, kommt die eine zum Ergebnis, das Dilemma lasse sich nicht lösen; die andere besteht darauf, dass das Problem von den Rettern noch verstärkt werde.

Mit eben dieser Ansicht zog Mariam Lau nun den Zorn vieler Leser auf sich. Aber damit nicht genug: Die Zeitung selbst geriet ins Fadenkreuz der Empörung, man zieh sie des „Zivilsationsbruchs“ und des „Wahnsinns“, weil man sie anscheinend vom gemeinsamen Glauben abgefallen sah. Das kommt nicht ganz von ungefähr, denn in den letzten Jahren hat sie manches Mal die pietistische Rechtschaffenheit einer Kirchentagszeitung an den Tag gelegt, die so zwar ihre Leserschaft bzw. ihr Milieu findet, die aber auch mit viel eskapistischer, zivilreligiöser Andächtigkeit erkauft ist. Doch nun hat die Redaktion nichts weiter getan, als eine Frage im Stil eines moralphilosophischen Seminars zu stellen. Jeder gute Hochschullehrer würde seine Studenten auch mit solchen Fragen wie „Darf man einen Menschen töten?“, „Darf ich lügen?“ oder „Darf ich Tiere essen?“ konfrontieren, um sie zum Denken anzuregen, um sie zu lehren, Vor- und Nachteile abzuwägen, zwischen „richtig“ und „falsch“, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Warum sollte das eine Zeitung nicht tun, auch wenn dem etwas verkaufsfördernd Provozierendes innewohnt?

Die beiden Pro-und-Contra-Autorinnen haben ihre Sache eigentlich ganz gut gemacht. Und ich persönlich neige nach Lektüre auch weiterhin dazu, das moralische Dilemma zu akzeptieren, Menschen vor dem Ertrinken bedingungslos zu retten, auch wenn man damit skrupellosen Schlepperbanden in die Hände spielt. Aber das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, das dürften die allermeisten Menschen so sehen. Und doch muss man auch einen Punkt ansprechen können, der mit dem Moralverständnis zu tun hat, das den Treibstoff gibt für den endlosen, Argumente tötenden Shitstorm zum Thema Flucht, Asyl und Migration. Gehen wir dafür zunächst einmal vierzig Jahre zurück…

EIN SCHIFF FÜR VIETNAM

Im Jahre 1978, drei Jahre nach Ende des Vietnamkrieges, begann am chinesischen Meer ein Exodus, der in seiner Dramatik die jetzige Situation im Mittelmeer um einiges übertraf. Hunderttausende Vietnamesen, viele ehemalige Soldaten und Mittelständler aus dem Süden Vietnams und vor allem aber sogenannte „Vietnam-Chinesen“, eine chinesischstämmige Minderheit, suchten in einer Mischung aus eigenhändiger Flucht und regimebetriebener Vertreibung den Weg raus aus Vietnam über das Meer. Jede Planke, die halbwegs schwimmen konnte, wurde genutzt, um in Nachbarländern Obdach und eine neue Heimat zu finden. Doch beispielsweise Malaysia, das am Anfang noch Menschen half, begann bald, Flüchtlinge zurückzuweisen. Es wird geschätzt, dass letztendlich bis zu zweihunderttausend Menschen auf der Flucht ertrunken sind! Manche Seeregionen mieden Fischer eine Zeitlang, weil sie in ihren Netzen fast mehr Tote als Fische fanden.

Es ist das Verdienst französischer Intellektueller und in Deutschland vor allem des Journalisten Rupert Neudeck und des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll, auf diese Tragödie hingewiesen und mit dem Schiff Cap Anamur viele Menschen gerettet zu haben. Neudeck ist so etwas wie der Gründervater der privaten Seenotrettung Deutschlands – und seine Erfahrungen sind quasi exemplarisch (in dem von ihm 1979 herausgegebenen Buch Wie helfen wir Asien? oder „Ein Schiff für Vietnam“beschreibt er die politischen Implikationen). Heinrich Böll sagte damals in der Pressekonferenz, mit der er für das Projekt warb: „Diese praktische Intelligenz, die sich in dieser Aktion ausdrückte, hat mich überzeugt, und ich habe mich deshalb sofort dieser Initiative angeschlossen. Es sind auch in der Bundesrepublik Leute verschiedenster politischer Überzeugung dabei. Ich denke, dass unsere Motive zwar interessant sind, aber nicht wichtig. Wichtig ist, dass diesen Menschen geholfen wird…“

Und so ist es bei Helfern und Rettern wohl auch heute noch weitgehend. Aber interessant damals war die Reaktion in Deutschland, wo das Projekt aus dem linken politischen Spektrum attackiert wurde, während Bürgermeister und Ministerpräsidenten von CDU und CSU darum wetteiferten, vietnamesische Flüchtlinge aufzunehmen (die, nebenbei, heute bald in Rente gehen oder es schon sind und Familien haben und Kinder, die studieren). Der Schriftsteller Peter Weiß veröffentlichte in der Frankfurter Rundschau mit dem Titel „Flüchtlinge aber setzen Verfolger voraus“ einen langen Artikel und nahm das Regime in Vietnam in Schutz; er schrieb: „Vertreibt Vietnam seine ethnischen Chinesen, seine ideologischen Gegner? Objektive Besucher in Vietnam konnten nichts Derartiges festhalten. Wir haben von Emigranten zu reden.“ Als der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) vor Weihnachten 1978 die ersten tausend Vietnam-Flüchtlinge in sein Bundesland holte, war die Berichterstattung – wie der Journalist Franz Alt in dem oben erwähnten Buch feststellte – „überwiegend distanziert, besserwisserisch bis ablehnend“. Viel war von „Doppelmoral“ die Rede, also von der falschen, nämlich der unreinen Moral. Man kam also schon vor vierzig Jahren bei der Bewertung der Fluchthilfe nicht ohne den Moralbegriff aus; nur damals eben mit der politischen Umkehrposition, dass das rechte Lager sich auf christliche Überzeugungen berief und helfen wollte und das linke auf die richtige Moral, also nicht die falsche christliche, sondern die sozialistische, bei der Flüchtlinge mit dem falschen Bewusstsein nur störten. Ob die Hilfsreflexe im rechten Lager bei Flüchtlingen aus einem anderen Land als Vietnam auch so stark und ungeteilt gewesen wären, darf aber tatsächlich auch ein wenig bezweifelt werden.

UND DIE MORAL VON DER GESCHICHT’?

Was vor vierzig Jahren galt, gilt für uns heute auch: Da, wo Moral drauf steht, ist immer auch Politik drin. Also Weltanschauung. Und Strategie. Es gibt die Pflicht zur Menschenrettung, zu dieser „praktischen Intelligenz“, von der Böll sprach, aber nicht zu der Politik, die daraus als moralisch alternativlos abgeleitet wird. Man kann es bei Unterstützern, Aktivisten, Shitstormern allerorten lesen: Letztendlich geht es ihnen um eine multikulturelle Gesellschaft nach ihren Vorstellungen, um Postkolonialismus, Grenzenlosigkeit, Ablehnung des Nationalstaats und den Flüchtling als neues revolutionäres Subjekt. Ob die Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlinge alle diese Ziele teilen? Oder wollen sie nicht viel lieber in ein wohlhabendes, freies, sicheres Europa, das ihnen und ihren Familien eine Zukunft bietet und kein gesellschaftspolitisches Experiment?

Das aber wirklich Deprimierende in der heutigen Situation ist jedoch nicht so sehr, dass da, wo Moral drauf steht, Politik drin ist – nein, diese Camouflage wird ohnehin keinen Erfolg haben. Das Problem ist, dass da, wo Politik drauf steht, nichts drin ist, gar nichts bislang: kein Masterplan für Afrika, kein Wille zur europäischen Einigung über die Verteilung von Flüchtlingen, keine Initiative und kein Gesetz für legale Wege der Einwanderung. Es würde sicher einen Schub geben, wenn die Shitstormer in Zukunft nicht mehr die moralische Entrüstung als zweckhaften Hebel zur Beendigung von Diskussionen ansetzten, sondern wenn auch sie Vorschläge machten für mehrheitsfähige, also realistische politische Lösungen. Vielleicht wäre ein Anfang gemacht, wenn sich die Angesprochenen bei der gerade von ZEIT ONLINE und zehn Medienpartnern beworbenen Aktion „Deutschland spricht 2018“ anmelden würden. Dort kann man Andersdenkende treffen und mit ihnen diskutieren: Das könnte eine wahrhaft interessante und lebensverändernde Erfahrung sein.

[hr gap=“20″]

Lesen Sie auch:

Oder soll man es mit der Moral bleiben lassen?

Libysches Roulette