Am Dienstag will das Europäische Parlament eine Urheberrechtsreform verabschieden. Gegner dieser Reform warnen vor Zensur und dem Verlust von Freiheit. Worum geht es wirklich?

Die Geschichte des Internets ist die einer nachholenden Regulierung. Seit sich Anfang der 1990er Jahre der Übergang vom ARPANET, einem von der amerikanischen Regierung und dem Massachusetts Institute of Technology geförderten und betriebenen Computer-Netzwerk, zum World Wide Web vollzog und damit eine neue, eine digitale Welt begründete, versucht die alte, die physische Welt der neuen Regeln beizubringen, die den gängigen Vorstellungen von Ordnung und Gerechtigkeit in der neuen Welt weitgehend zum Durchbruch verhelfen sollen. Die in der neuen Welt – einfachhalber „das Netz“ genannt – vorherrschenden Triebkräfte wie Wachstum, Gier, Freiheitsstreben, Zügellosigkeit, Weltverbesserung, Niedertracht, Größenwahn, Egomanie gewannen sehr schnell an Vorsprung vor jeder Art von regulierenden Maßnahmen. Denn das Gesetz ging am Rollator, während „Code“, was im Netz nach den Worten des  Internettheoretikers und Juristen Lawrence Lessig treffenderweise „Law“ ist, sich quasi mit dem Raketenauto fortbewegte.

Aber der Vorsprung hat sich verringert. Zwar werden sich die Triebkräfte – wie im „richtigen Leben“ – nie vollständig von Regeln und Gesetzen einholen und bändigen lassen, doch diese sind ihnen schon mit Schwert und Waage auf den Fersen. Das hängt vor allem damit zusammen, weil sich das Netz, das am Anfang vor allem ein Feld der Informations- und Wissensvermittlung, der Tauschökonomie und der Selbstorganisation war, nun in weitem Maße zu einem der rigorosen Ausbeutung von Ressourcen (unseren Daten), der finanzweltkompatiblen Rumpelstilzchen-Ökonomie (die aus Geld noch mehr Geld spinnt), der Manipulation, der Kontrolle, der Sucht und der Desorientierung entwickelt hat. Dass dies vor allem von Vielnutzern nicht so gesehen wird, hängt insbesondere damit zusammen, dass man gerne allein die Vorzüge betrachtet und die Nachteile ausblendet oder nur achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Und es liegt an den Legenden. Wie heißt es so passend im Western Der Mann, der Liberty Valance erschoss über den Wilden Westen?

„Unsere Legenden wollen wir bewahren. Sie sind für uns wahr geworden.“

Eben so ist es auch im Netz. Da wird der anarchistische Traum der von allen Zwängen befreiten, der wie aus dem Nichts ständig Wissen vermehrenden, kunterbunten Kostenfrei-Gesellschaft gepflegt wie bei den Schützenvereinen der Pioniergeist der Altvorderen. Tatsächlich aber hat sich ein durch und durch hyper-neoliberales Geschäftsmodell ausgebreitet, dass Kosten verschleiert, Ressourcen – wie gesagt – ungehemmt ausbeutet, Künstler und andere Kreative übervorteilt, Steuern vermeidet und Wettbewerber u.a. mittels Lohndumping gnadenlos ausschaltet. Der Grund dafür ist, dass „Code“ zwar digitale Funktionsweisen perfekt konstruieren und organisieren kann, aber es kennt von sich aus niemals den Ausgleich, der Minderheiten schützen, Gewinne halbwegs gerecht besteuern und Urheber belohnen wird. Und auch dafür kennen wir den Grund: In einer Welt ohne Regeln und Gesetze, wo kein Recht herrscht – da herrscht das Recht der Stärksten und Cleversten wie Google oder Facebook. Ganz einfach. Und wenn man ihnen nicht Einhalt gebietet, wird ihrer Marktmacht weiter wachsen.

Aber natürlich haben sie auch geniale und äußerst brauchbare Produkte hervorgebracht.

MONARCHEN UND GÜNSTLINGE

Dass nun Tausende von Menschen gegen das neue Urheberrechtsgesetz der Europäischen Union auf die Straße gehen – und noch mehr protestieren im Netz –, liegt daran, dass das Netz ununterbrochen und vor allem in der jungen Generation einen ganz besonderen Markttypus hervorbringt: den Prosumenten. Dieser Zwitter nutzt das Netz eben nicht nur als Verbraucher von Vorgefertigtem, sondern auch als Produzent, der oft schon Vorhandenes umwandelt in neue Produkte: Memes, Mashups usw., die als Identifikationszeichen, Aufklärungsschnipsel, Spottdrossellieder dienen. Das Netz in seiner Vielfalt produziert immer wieder Neues. Aber meist bedient es sich bei Altem. Dieses Prosumenten-Milieu hat natürlich sein eigenes Selbstverständnis und eigene Gepflogenheiten, die zu hinterfragen es nicht eben geneigt ist (aber damit steht es natürlich nicht alleine). Es nutzt und reproduziert nun mal gerne Produkte, die andere ersonnen, hervorgebracht, erfunden und mit Zeit und Geld entwickelt haben. Meist ist das kein Problem, sollte es auch nicht sein, denn es kann sogar dem Urheber nutzen; und der hat in der Regel auch nichts dagegen, wenn mit seinen Produkten nicht ausdrücklich Geld gemacht wird. Aber das ist in den sogenannten sozialen Medien wie YouTube, Facebook, Instagram der Fall, nur eben nicht ausdrücklich, sondern eben auf die verschwiemelt-philanthropische Tour. Doch letztlich macht uns das clevere digitale Geschäftsmodell der neuen Nabobs Larry Page oder Marc Zuckerberg alle zu Narren, Dienstboten oder Hehlern an ihren milliardenschweren Höfen. Und die wirklich Kreativen werden betrogen.

Den verschwenderischen Luxus, den diese Herren uns feilbieten, will natürlich keiner missen. Aber müssen wir das nach der Verabschiedung einer Urheberrechtsreform? Das legale Bezahlangebot von Spotify hat der Musikpiraterie weitgehend die Grundlage entzogen – warum sollte beispielsweise YouTube nicht auch entsprechende Lizenzverträge abschließen, die Künstlern einen Anteil an den Gewinnen von Google gibt. Stattdessen stilisiert man die Attacken gegen die Reform als einen Freiheitskampf gegen Zensur und nimmersatte gerontokratische Zeitungskonzerne, während die Internetgiganten wie die verfolgte Unschuld daherkommen dürfen.

Zwischenzeitlich verschaffte eine fast schon alltägliche Leistungsdisziplin etlichen Netzaktivisten Erleichterung und weiteren Abstand vom Nachdenken: nämlich eine Spottkampagne gegen den Europaabgeordneten Axel Voss, der bei der Aushandlung der Urheberrechtsreform eine maßgebliche Rolle spielte und sich in einem Interview täppisch geäußert hatte. Er mag gewiss nicht der große Experte für die Spielregeln und Usancen der sozialen Medien sein, aber warum sollte er deshalb nicht über die Urheberrechtsreform entscheiden dürfen? Können und sollen über die Verkehrspolitik künftig nur Autobauer und Fernfahrer ein Wörtchen mitzureden haben?

Viel wird auch über Zensur und Upload-Filter diskutiert. Über den Vorwurf der Zensur muss man eigentlich kein Wort verlieren. Der Begriff hat mittlerweile eine Karriere wie das Wort „Rassismus“ hinter sich: er wird inflationär und sinnverdrehend benutzt. Und ob es wirklich zu den berühmt-berüchtigten Upload-Filtern kommt, liegt in erster Linie an der Haltung der Internetkonzerne. Wahrscheinlich werden sie am Ende doch lieber Lizenzen vereinbaren. Für alle anderen Unwägbarkeiten gilt: Nach dem Gesetz ist vor der Novelle. Denn man kann auch eine Reform bei Bedarf noch reformieren.

INTERESSENSKONFLIKTE – WAS SONST?

In erster Linie – und das ist keine Überraschung – treten in der Urheberrechtsreform also Interessenkonflikte zutage: Auf der einen Seite liegen die Interessen der großen Internetkonzerne aus Kalifornien, der Prosumenten und Konsumenten (also wir alle), die in der rücksichtslosen Netzfreiheit einen großen Vorteil sehen und besitzen; auf der anderen Seite stehen die Staaten, die Produzenten und Kreativen, die nicht mehr in die Rolle des Billigen Jakobs gedrängt werden wollen. Es geht also letztlich darum, wo der Mehrwert aus dem Netz am Ende bleibt. Aber angesichts der weiter wachsenden Marktmacht von Google, Amazon und Co. wird das nicht der letzte Kampf um die Seele des Internets gewesen sein.