Untergangsszenarien sind keine Erfindung der Lügenpresse oder Hirngespinste militanter Ökoaktivisten. Sie sind seit Urzeiten ein zentraler Bestandteil der Überlebensstrategie der menschlichen Spezies und erfüllen eine wichtige Funktion. Über das Wesen der Apokalypse und die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

Seit Menschengedenken gehören die apokalyptischen Reiter zu den treuen Begleitern des Homo Sapiens. Jedes schwer zu deutende Naturereignis, jede Epidemie, jede Hungersnot wurden als Vorboten einer alles verschlingenden Katastrophe interpretiert und fanden Niederschlag in den mythologischen Berichten ihrer Zeit. So taucht die Sintflut-Saga mit den Arche-typischen Zutaten nicht nur im 1. Buch Mose auf, sondern auch auf altorientalischen Steintafeln, im Antrahasis-Epos, im Gilgamesch-Epos, in China, Indien und Neuguinea und wurde auch in nachchristlicher Zeit von vielen anderen Kulturen wie beispielsweise in der isländischen Edda quasi nachträglich inkorporiert. Was sagt uns das?

Erstens: Die Sintflut ist ein ubiquitäres Sinnbild der menschlichen Zivilisation für Untergang und Neuentstehung der Welt.

Zweitens: Selbst angesichts der von den Autoren vorgenommenen dramatischen Überhöhung in die Uferlosigkeit der Katastrophe muss es in allen Kulturkreisen eine reale und offensichtlich furchterregende Begegnung des Menschen mit der Urgewalt des Meeres gegeben haben. Das ist der Befund! Aber dazu kommen wir später.

Richtig Fahrt nahm der Untergangs-Kult jedoch erst mit dem Christentum auf. In der „Offenbarung des Johannes“ wimmelt es von apokalyptischen Prophezeiungen. Da wird Wasser zu Blut, Ungeheuer entsteigen dem Meer, Menschen verbrennen im Feuer, Finsternis kommt über das „Reich“, Blitz, Donner, Hagel und Erdbeben zerstören ganze Städte und am Ende kommt es selbstverständlich zur großen Schlacht zwischen Gott und den „Mächten der Finsternis“ – mit einem Wort: Für jeden durchschnittlichen Laienprediger ist irgendetwas dabei, was er mit einem möglicherweise harmlosen Ereignis in der Gegenwart verknüpfen kann und damit seine Zuhörer in Angst und Schrecken versetzt. Ein Handbuch für den Hobby-Propheten: Apokalypse leicht gemacht. Nur das Christentum hat es geschafft, die Erlösung mit einer nahezu endlosen Folge von göttlichen Folterandrohungen zu verknüpfen.

In weißen Kleidern auf die Berge

Besonders bei evangelikalen Christen in den USA zog die Masche. Die sogenannte Miller-Bewegung, Vorläufer der Adventisten, war sich sogar sicher, den genauen Zeitpunkt des Weltuntergangs zu kennen. Der Farmer und Laienprediger William Miller datierte das Ereignis – ausgehend von einer überakribischen Textexegese des Buches Daniel und angeregt von einem vorherigen Meteoritenschauer – auf den Herbst 1843. Und hatte ungeahnten Erfolg! Tausende von Menschen stiegen in weißen Gewändern auf die Berge, um sich mit dem Leib Christi zu vermählen. Als nichts passierte, ging Miller von einem Rechenfehler aus und verschob den Termin noch zweimal. Als auch das Jahr 1853 ohne eine Parusie Christi verstrich, hängten die Menschen ihre weißen Kleider wieder in den Schrank und gingen ihrer Arbeit nach. Spätere Apokalyptiker taten gut daran, den Weltuntergang ins Vage zu verschieben.

Doch auch in der auf- und abgeklärten Welt der postindustriellen Gesellschaft ist der Katastrophismus längst fester Bestandteil der politischen Auseinandersetzung geworden. Der Salonkollege Michael Miersch hat hier schon eine beeindruckende Liste von Naturkatastrophen vorgelegt, die alle nicht das prognostizierte Endstadium erreichten. Der schlagende Beweis: Wir haben es überlebt. Und zwar ziemlich gut! Dabei ist die Natur als Projektionsfläche für Untergangsszenarien nur eine Spielart. Gerne wird auch mit genetischen bis offen rassistischen Narrativen hantiert, wie es der Ober-Katastrophix Thilo Sarrazin zu seinem Broterwerb gemacht hat: Mit der Unbeirrbarkeit einer tibetischen Gebetsmühle verkündet er seit Jahren sein Mantra von der Abschaffung der Deutschen durch viele kleine Kopftuchkinder – dankbar aufgegriffen von dem rechtsextremen „Flügel“ der AfD, der sich in seinen Umvolkungsthesen bestätigt sieht.

Sterben, bevor der Morgen graut

Die größte Apokalpyse der letzten 40 Jahre, sieht man mal von der Klimadebatte ab, trat jedoch der Facharzt für Geschlechtskrankheiten, Hans Halter, los – und das ausgerechnet im „Spiegel“. Der Medizinjournalist berichtete als erster in Deutschland über die noch unbekannte Immunschwächekrankheit Aids und hatte schnell einen Schuldigen ausgemacht: die Schwulenszene und ihre angebliche Promiskuität. In immer schneller aufeinanderfolgenden Titelthemen und Büchern („Sterben, bevor der Morgen graut“, „Todesseuche Aids“, „Aids: Die Bombe ist gelegt„) bediente der Spiegel in bester Boulevard-Manier das Narrativ des haltlosen Schwulen und anderer Personen mit HwG (Häufig wechselndem Geschlechtsverkehr), die ohne Rücksicht auf die Gesundheit ihres Partners der eigenen Triebbefriedigung nachgehen und so zur Bedrohung der Gesellschaft werden. Anhand von fragwürdigen Rechenmodellen und willkürlich angenommenen Übertragungsraten sagten Leute wie Halter den baldigen Untergang der menschlichen Spezies voraus, da sich irgendwann ja wohl alle fortpflanzungsbereiten Menschen angesteckt haben müssten. John Carpenter lässt grüßen.

Die Folge war eine kollektive Hysterie: CSU-Politiker wie Peter Gauweiler forderten Zwangstests für Prostituierte, Drogenabhängige und angehende Beamte. Horst Seehofer wollte Aidskranke in speziellen Heimen „konzentrieren“. Ein anderer CSU-Mann verstieg sich sogar zu der Behauptung, Homosexualität gehöre zu den „Randbereichen der Entartungen“. Es gab selbstverständlich auch Gegenreaktionen: Die sogenannten „Aidsrebellen“ aus dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Fritz Poppenberg stritten ähnlich wie manche Klimaleugner heute jeden Zusammenhang zwischen Krankheit und Virus ab. Die Nachwirkungen dieser emotional überhitzten Debatte spürt man noch heute, etwa wenn es um die Ausgrenzung von HIV-Kranken geht.

Weltuntergang abgesagt

Nun wird niemand behaupten, Aids sei eine harmlose Angelegenheit, auch wenn die Immunschwäche inzwischen als weitgehend besiegt gilt. Halter hatte nur den Fehler vieler Mediziner begangen, die wenig Vertrauen in die Einsicht ihrer Patienten zur Änderung ihrer Lebensführung haben: Sie verwechseln den Befund mit der Prognose. Und damit sind wir wieder beim Anfang. Seit der Sintflut ist der Apokalyptiker, ob er nun Mose, Johannes, Sarrazin oder Halter heißt, von der unabänderlichen Gesetzmäßigkeit eines großen Plans überzeugt. Lernprozesse des Menschen als ein anpassungsfähiges Wesen, das seinen Platz in der Evolution immer wieder neu erobern muss, kommen in diesen Entwürfen nicht vor. Doch da irren sie: Gerade bei Aids hat die Menschheit – zumindest in den westlichen Ländern (leider anders in Afrika) – schnell und effektiv reagiert. Man startete Kampagnen zu Aufklärung über Promiskuität, verminderte die Übertragungsrisiken durch massenhafte Zurverfügungstellung von Kondomen, stellte Spritzenautomaten auf, kontrollierte die Blutspenden und entwickelte eine immer erfolgreichere Kombinationstherapie zur Bekämpfung von HIV. Ergo: Der Weltuntergang konnte abgesagt werden.

So könnte man sich jetzt viele Untergangsszenarien vornehmen und wird feststellen: Fast immer war der Befund kritisch, ob es nun um das Waldsterben ging oder die Thesen des Clubs of Rome, doch der Patient überlebte dank erstaunlicher Selbstheilungskräfte – oder besser ausgedrückt: durch geeignete Gegenmaßnahmen der betroffenen Akteure. Man könnte es auch so sagen: der Drang zu apokalyptischen Übertreibungen erfüllt eine wichtige Funktion in der menschlichen Zivilisation, weil er den Finger auf eine Wunde legt, die anders vielleicht übersehen worden wäre. Wie ein Fieber, das nicht nur Wahnvorstellungen freisetzt, sondern auch Abwehrkräfte mobilisiert. Wobei es natürlich auch Fieber ohne Befund geben kann.

Dauerbrenner im Doomsday-Business

Nicht viel anders ist die Ausgangslage beim derzeitigen Dauerbrenner im Doomsday-Business – dem Klimawandel. Auch hier wird kaum noch jemand leugnen können, dass die in Tausenden von Studien zusammengetragenen Einzelergebnisse des IPCC zu großer Besorgnis Anlass geben. Abgesehen von Einzelmeinungen gilt in der seriösen Wissenschaft die Wirkung von Treibhausgasen auf die Erwärmung der unteren Atmosphäre inzwischen als ebenso gut belegt wie der menschliche Anteil daran. Man kann sich höchstens noch über Zeitrahmen und Ausmaß des Klimawandels – sind es bis 2040 nur 2,5 Grad plus oder mehr, gibt es tipping points wie die Emission von Methan aus dem auftauenden Permafrost? – und ihrer Folgen für Natur und Mensch streiten. Doch ist das schon der Weltuntergang, wie manche menetekeln? Mitnichten!

Würde man das obige Modell aus der Medizin zu Grunde legen – Phase 1: Erkenntnisleitendes Interesse und Befunderhebung, Phase 2: Befundauswertung und Prognose, Phase 3: Vorsorge und Therapie – dann befinden wir uns beim „Change of Change“ mitten in Phase 2. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Was beim Menschen schon schwierig ist, etwa die Einsicht in die Gnadenlosigkeit einer Diagnose, muss beim Patient Erde mit Milliarden von Betroffenen eine Herkules-Aufgabe sein, zumal viele Akteure in den CO2-Schlüsselländern, etwa in China, nicht ausreichend demokratisch legitimiert sind oder als radikale Populisten das Thema ihren persönlichen Interessen unterordnen. Und dann gibt es noch angebliche Öko-Ikonen wie den bolivianischen Ober-Brandstifter Evo Morales („World Hero of Mother Earth“), die die Erkenntnisse zum Klimawandel als spätkolonialistische Anmaßung der Industrieländer zurückweisen. Es ist zum Verzweifeln!

Doch auch in den „offenen Gesellschaften“ wie Deutschland hakt die Debatte – etwa bei der AfD, die den menschengemachten Klimawandel immer noch für eine Erfindung der „Lügenpresse“ hält, was niemanden verwundert. Aber paradoxerweise auch bei vielen Grünen, die den Klimawandel zur Grundsatzfrage über die Wachstumsgesellschaft aufgemantelt haben und nicht bereit sind, bei ihren Lieblingsfeindbildern, Kernkraft und Glyphosat, auch nur einen Fußbreit von der reinen Lehre abzurücken. Obwohl beides eine zentrale Rolle in der Schaffung einer klimaneutralen Welt mit bald 8 Milliarden Menschen spielen wird.

Neuordnung der Magnetfelder

Die Schwierigkeiten des sogenannten Paradigmenwechsels hat der Kritische Rationalist und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn (The Structure of Scientific Revolutions) in seiner Inkommensurabilitäts-These festgehalten. Danach verläuft der Wechsel von einem alten Paradigma zu einem neuen – etwa von der Newtonschen Physik zur Einsteinschen Relativitätstheorie – nicht linear oder kumulativ, zum Beispiel durch einfaches Anwachsen von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern quasi gewaltsam und revolutionär, weil jede Fraktion immer nur die empirischen Befunde zulässt, die im Kontext des jeweiligen Paradigmas zu lesen sind und alle anderen als reine Glaubenssätze verdammt – bis sich an irgendeinem Punkt meist das neue Paradigma durchsetzt und wie bei einem Wechsel der Pole auch eine Neuausrichtung des Magnetfelds nach sich zieht.

An diesem Punkt scheinen wir gerade zu sein. So verabschiedeten sich jüngst 200 CEOs großer amerikanischer Firmen von Amazon bis Apple vom Allerheiligsten der westlichen Aktionärskultur, dem berühmt-berüchtigten Share-Holder-Value. Statt nur den Gewinn ihrer Shareholder zu vergrößern, wollen sie in Zukunft angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor der die Welt steht, ihre Kraft auch in den Schutz des Planeten und seiner Bewohner stellen. Ein Manifest, das in seiner Bedeutung für den Wandel gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Magnetfelder, die sich neu ausrichten. Das gibt Hoffnung. Ein wenig Apokalypse hat offensichtlich auch dazu beigetragen.