Alle Parteien versammeln dieser Tage ihre Mitglieder der Basis (ab jetzt MdB), um die Strategien für den anstehenden Bundestagswahlkampf zu besprechen. Oft genug wird das auf einen Schichtplan zur Besetzung des Wahlkampfstands in der Fußgängerzone hinauslaufen. Dabei bringt diese Form des Wahlkampfs nicht nur nichts, sie schadet, indem sie anderweitig dringend benötigte Kräfte bindet.

Ich war vor zwanzig Jahren mal JuLi-Kreisvorsitzender in Freiburg für ein Jahr. Das befriedigendste, was damals gelang, war eine Guerilla-Aktion vor dem Nominierungs-Landesparteitag der Grünen: Es gab irgendeinen Fuckup beim eigentlichen Parteitag und aufgrund der grünen Geschlechterquote musste Cem Özdemir um seine Position fürchten. (Er setzte sich dann gegen den ebenfalls hochkompetenten Oswald Metzger durch, der den Grünen seitdem schmerzlich fehlt.) Wir kritisierten den antimännlichen Sexismus der Grünen mit einem Transparent, das sinngemäß aussagte: „Bei uns haben auch Männer eine Chance“. Und bekamen damit eine halbe Minute Airtime in den Tagesthemen. Das war als Mediawert so satt fünfstellig, dass es egal ist, dass ich keine Ahnung mehr habe, ob es in Euro oder DM abzurechnen gewesen wäre.

Und dann hatten wir mehrere Wahlkampfstände in der Fußgängerzone auf der Kaiser-Joseph-Strasse. Ich selbst führte Dutzende Gespräche, die sehr leicht einzuteilen waren in zwei Kategorien:

  1. Sehr kurz und unsachlich (meist Monologe, normalerweise Beschimpfungen, oft inhaltlich ohne irgendein nachvollziehbares Fundament).
  2. Sehr, sehr lang und sehr, sehr sachlich, wobei die Sache dann die Bilderberger waren oder die Echsenmenschen oder „Diedaoben“.

Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass absolut kein Gespräch, das ich jemals an einem Wahlkampfstand führte, irgendeine Stimme für die FDP brachte. KEIN. EINZIGES.

Offenkundig Verrückte betreuen

Nicht, weil ich keine Argumente gehabt hätte, oder weil ich damals auch schon so arrogant rübergekommen wäre wir mir das heute herzlich egal ist, sondern weil seitens der Gesprächspartner NIE irgendein Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung bestand. Oder auch nur die dafür unabdingbaren Grundvoraussetzungen – wie z.B. die Übereinkunft, dass weder Angela Merkel, noch damals Gerhard Schröder Echsenmenschen sind. Während das MdB offenkundig Verrückte mit unbegrenztem Zeitbudget in der Fußgängerzone betreut, kann es nicht auf Facebook oder Twitter real interessierte Wechselwähler betreuen. Dabei wären hier echte Resultate zu erzielen. Den Aluhut blockiert man, den Sozialliberalen pampert man in der gewonnenen Zeit, ebenso, wie den AFD-sympathisierenden, zurechnungsfähigen Eurokritiker, der noch nicht völlig nach rechts vom Pferd gekippt ist.

Es bedarf keiner Wahlkampfstände, um mit „dem Wähler“ in Kontakt zu kommen. Der Wähler ist nicht total bescheuert, der Wähler kennt die Website und die Emailadresse „seiner“ Politiker. Und die antworten erfahrungsgemäß fast immer, wenn man als Wähler anfragt und etwas weniger gerne, wenn man das als potenziell kritischer Journalist tut.

Wettbewerb in Leidensfähigkeit

Der Straßenwahlkampf ist ein Anachronismus, der aus ganz anderen Gründen aufrecht erhalten wird: Als reines Purgatorium für Mandatsbewerber. Niemand gewinnt hier irgendwas. Die Partei nicht, der Kandidat nicht, die Basismitglieder nicht. Es ist ein reiner Wettbewerb in Leidensfähigkeit. Und das ist durchaus folgerichtig: Wer einen relativ gutbezahlten und privilegierten Job haben möchte, der mörderische Arbeitszeiten mit unendlich frustraner Unproduktivität kombiniert, kann genau auf diese Weise seine Eignung unter Beweis stellen. Machen wir uns nichts vor: Ein Bundestagsabgeordneter ist 80 Stunden wöchentlich fremdbestimmt und vielleicht 20 davon produktiv. Nicht nur der obligatorische Besuch beim Kleintierzuchtverein verläuft ja in 99,99 Prozent aller Fälle komplett erkenntnisfrei, auch Parteiveranstaltungen nimmt man ausschließlich deshalb wahr, um nicht in Abwesenheit abgesägt zu werden.

Aufgrund dieser Tradition verfängt die zutreffende und Kompetenz bezeichnende Berufsbezeichnung „Professor aus Heidelberg“ als Beschimpfung. Und Andrea Nahles ist, ohne jemals wirklich mit der Arbeitswelt in Berührung gekommen zu sein, Arbeitsministerin. Weil sie jede noch so lange und noch so irrelevante Sitzung durchhalten konnte. Und weil sie am Wahlkampfstand zum Schrecken der produktiven „Wollerosekaufe?“-kleinselbständigen Blumenhändler auf Steuerzahlerkosten deren Geschäftmodell torpedierte.