Sachsen: Alles braun oder was?
Im Herbst wählt Sachsen, das Bundesland, das nicht erst seit dem Siegeszug der AfD als rechter Problemfall gilt. Unsere Autorin, Wahlsächsin seit 1997, schaut sich in dieser politischen Verwerfungszone um.
Ich bin seit rund zwanzig Jahren Immigrations-Sächsin. Vorher war ich Rheinländerin. Aus der Rübensteppe mit Braunkohletagebau und Kühlturmschwaden am Horizont, genannt Kölner Bucht, bin ich in die Rübensteppe mit Braunkohletagebau und Kühlturmschwaden am Horizont gezogen, genannt Leipziger Tieflandsbucht. Ich habe mich sofort zu Hause gefühlt. Ich hatte nichts gegen den ungewohnten Dialekt, denn ich hatte vorher auch jahrelang im Ausland gelebt.
Meine Sachsen
Ich musste mein Neusachsentum nie besonders reflektieren. Ich lebte mich in Leipzig ein und erlebte mit, wie es sich neu erfand und rapide wandelte. Ich bekam Kinder, wechselte den Arbeitsplatz und arbeitete wieder im Westen, aber als Familie blieben wir Leipzig treu, einer Stadt mit wesentlich höherer Lebensqualität für Familien, als sie westdeutsche Großstädte bieten.
Ich habe unbeschwert gelebt, bis das Jahr 2014, die Ukraine-Krise, die Flüchtlinge und Pegida kamen. In Leipzig hieß das Legida. Einen meiner ersten Blogs schrieb ich über diese neue Bewegung und deren seltsamen Hang zur Putinophilie. Plötzlich begann es in meinem Umfeld zu knirschen. Einige machten Flüchtlingsarbeit, andere äußerten ihre Angst und ihr Unbehagen angesichts islamistischer Attentate und krimineller Übergriffe von Asylbewerbern, und ihre Empörung über das Fahrenlassen jeder Grenzsicherung. In jener Zeit erlebte ich auch zum ersten Mal am eigenen Leib, was es bedeutet, im Internet diffamiert zu werden. Denn es gab Leute, denen meine kritische Haltung zur russischen Regierung nicht passte, oder noch schlimmer, meine pro-nukleare Haltung in energiepolitischen Fragen.
Und dann kam Chemnitz, und jener Tag im letzten Sommer, an dem der „Spiegel“ nach den fremdenfeindlichen Demonstrationen seinen Sachsen-Titel brachte. Tiefbraun und in „Nazi“-Fraktur, obwohl die Nazis diese doch durch die lateinische Normalschrift ersetzt hatten. Ich war entsetzt: So pauschal konnte man doch nicht ein ganzes Bundesland niedermachen? Obwohl es doch in Dortmund oder Köln genauso Neonazi-Szenen gibt, die in Chemnitz auch kräftig mitgemischt haben?
Doch, man konnte. Das, so fand ich, konnten wir nicht auf uns sitzenlassen, und ich führte ein Streitgespräch mit einem anderen Leipziger, der politisch woanders steht als ich, dem Schweißer Wolfram Ackner. Es wurde, wie ich fand, ein gutes Gespräch, obwohl ich – ausweislich der Leserkommentare auf Achgut, wo wir es publizierten – immer hart am Rande der Grünlinksversifft-Verdachtskante manövrierte. Aber wir sprachen, miteinander, und wir hatten Resonanz. Wir beide empfangen das als Fortschritt. Wir nannten den Dialog: “Hier streiten Sachsen! Wie wär‘s mal mit Zuhören?“
Nazis und Antinazis
Ich hatte nur einmal Ärger mit Nazis. Ich war in einem Roter-Stern-Leipzig-Shirt zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort unterwegs, genauer: in Leipzig-Ost in der S-Bahn. Ich entwich nach einigen Rempeleien und Pöbeleien eines Neonazis, der doppelt so groß war wie ich, aber zum Glück allein, in Engelsdorf aus dem Zug und rettete mich ins Institut für Länderkunde. Nicht, weil ich von Nazis gejagt wurde, sondern weil ich sowieso vorgehabt hatte, dort auszusteigen und zu einer Projektbesprechung zu gehen. Mehr war nicht und ich vergaß die Sache wieder.
Im Dezember 2015 geriet ich während einer Antinazidemo samt Söhnen zwischen Schwarzen Block und Polizei, und mich entsetzte die Gewaltorgie, welche die „Antifaschisten“ da gegen Menschen, vor allem Polizisten, und Sachen entfesselten. Kurze Zeit später demolierten Nazis und Hools in Connewitz einen ganzen Straßenzug; mitten im Januar organisierten die Vereine, Gemeinden und Initiativen im Stadtteil ein Straßenfrühstück mit Geldsammlung für die Geschädigten.
Ich blieb im Hintergrund, machte hier ein bisschen mit und half da ein wenig, aber ich war nie mutig; Mut braucht man in Leipzig-Süd auch gar nicht, um gegen Nazis zu sein. Den braucht man eher, um die allsilvesterlichen Szene-Ausschreitungen unserer Möchtegern-Revoluzzer zu kritisieren oder den Schwarzen Block und die verdrucksten Erklärungen seines linken Umfelds, man wolle zwar keine Gewalt, aber die Ziele seien doch moralisch richtig.
Die Aktivistin
Ich habe eine ehemalige Kollegin und Mitarbeiterin, die vor einigen Jahren wie ich aus beruflichen Gründen nach Sachsen zog. Ich kann ihren Namen nennen, denn sie ist inzwischen eine Person des öffentlichen Lebens in ihrer neuen Heimat Bautzen. Wenn über Bautzen als „rechte Stadt“ berichtet wird, dann treffen wir früher oder später auf sie. Anders als ich seinerzeit in Leipzig, warf sich Annalena Schmidt gleich nach ihrer Ankunft in die Flüchtlings- und Antifa-Arbeit.
Sie wollte Aktivistin sein, dokumentierte Neonazi-Schmierereien und -demonstrationen und schlug sich als Bloggerin in jedem Pöbel- und Prügel-Konflikt zwischen testosterongesättigten Jungmännern aller möglicher Herkunft stets auf die Seite jener, die sie etwas geschraubt „Refugees“ nannte. Sie ging den Leuten so richtig auf die Nerven und mir manchmal auch, weil ich das naive Ausblenden von Problemen mit jungen arabischen Männern in unseren Städten für Realitätsverlust hielt. Ich stichelte ab und an auf Facebook und fragte Annalena, was denn „Refugees“ von Flüchtlingen unterscheide. Ich bekam keine Antwort. Ich hielt sie für überengagiert, mir war ihr Gestus zu wessihaft-kolonial.
Doch ich musste Annalena auch Respekt zollen. So jemandem hatte es in dieser Stadt noch nicht gegeben. Sie wurde von Rechtsextremisten gestalkt und unverhohlen bedroht. Sie blieb. Nestbeschmutzerin, meinten die einen; längst überfälliger Besuch, der die erbärmlichen Gewöhnungszustände endlich mit frischem Blick sehe und anprangere, meinten die anderen. Eigentlich hätte man aus diesem Spannungsfeld Funken schlagen können, vorausgesetzt, man hätte die Leute in der Stadt – Alteingesessene und Neubürger – alleine machen und streiten lassen.
Doch die Situation polarisierte sich extrem, sobald überregionale Medien, unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“, auf Bautzen und auf Annalena Schmidts Engagement eingingen. Etliche Twitter-Follower Annalenas beteiligten sich an der Imagebildung und nahmen es dabei mit den Fakten nicht ganz so genau: Statt wahrheitsgemäß zu thematisieren, dass die Stadt ein eindeutiges Problem mit Nazis in ihrem öffentlichen Raum hatte, wurde Bautzen bald mit Mann und Maus als braunes Herz der sächsischen Finsternis verschrien, eine Generalisierung, die niemandem half. Annalena erhielt indes den Preis „Botschafterin der Toleranz„.
Biedermann als „Korrektiv“
Was viele Leute erboste, war Annalenas Kritik an den alternativ-medialen Aktivitäten eines verdienten Bautzner Bürgers und Sponsors etlicher Vereine und öffentlicher Einrichtungen, des Bauunternehmers Jörg Drews. Der ist ein Konservativer, der von sich sagt, er wolle einfach nur wieder zurück zum CDU-Programm von 2002, und deswegen jetzt die AfD unterstützt.
Bis heute inszeniert Drews sich gerne als rein lokalen Belangen verpflichteter Biedermann, fördert aber zugleich eine Publikationsplattform namens „Denkste mit“, die einen wahrnehmbaren Hang zu Veranstaltungen mit Verschwörungstheoretikern hat. Er nennt sie ein „Korrektiv“ zum herrschenden „Mainstream“.
Doch was wird hier „korrigiert“? In „Denkste-mit“-Veranstaltungen treffen wir auf einschlägige verschwörungstheoretische Akteure wie Willy Wimmer und Daniele Ganser; daneben den Ökonomen und Finanzsystem-Kritiker Max Otte, der gern ähnlich klingende geopolitische Exkurse in seine Vorträge einflicht und für Publikationen des rechten Kopp-Verlags wirbt: („Deutschland im Spannungsfeld der Globalisierung und Geopolitik“).
Die Printausgabe von „Denkste mit“ ist ein Konglomerat aus pro-russischer Friedensfahrt-Romantik, Flüchtlings-Angstmache, antiamerikanischer Rüstungskritik, und einem Öko-Verschwörungsdenken gegen Großkonzerne, Glyphosat und Gentechnik, das selbst Hardcore-Grünen die Tränen in die Augen treiben würde. Am Ende ist das nur der x-te Aufguss aus der „Compact“-Ecke, allerdings schlechter gelayoutet: Islam, Linksgrün und Weltfinanz wollen uns an den Kragen, die einen wollen das Kalifat, die nächsten Buntland, und alle wollen unser Geld; die Amerikaner setzen außerdem alles daran, ein gutes Verhältnis zwischen Deutschland und Russland zu hintertreiben, denn sie fürchten unsere vereinten Kräfte; die Briten haben uns aus demselben Grund in den Ersten Weltkrieg getrieben.
Legenden
Da die seriöse Geschichtswissenschaft des östlichen und restlichen Europa solche von historischen Laien in die Welt gesetzten Behauptungen zu Recht ignoriert, flüstern ihre Verfechter von Zensur. Und welch Zufall: ausgerechnet Herr Wimmer, der die „Kriegshetze gegen Russland“ beklagt, wurde mit dem diesjährigen Preis des Vereins „Bautzner Frieden“ geehrt, dessen Vertreter auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung kürzlich in bester „Denkste mit“-Manier die oben geschilderten Legenden wieder aufwärmte.
Alle diese Äußerungen fallen selbstverständlich unter die Meinungsfreiheit. Allerdings muss Drews sich fragen lassen, wie er die offen anti-westlichen Töne der von ihm geförderten Plattform gutheißen kann, die dem von ihm so geschätzten CDU-Programm von 2002 krass widersprechen. Man könnte ihn auch fragen, warum er, wenn ihm doch nur das Lokale am Herzen liegt, in seinen öffentlichen Äußerungen mal hier, mal dort die ganz großen geopolitischen Räder dreht und sich diese Rede schleichend in Herz und Hirn seiner Zuhörer einnistet.
Drews sagt nicht, er meine dies oder jenes, sondern er versteckt sich hinter Autoritäten, die er selektiv zitiert: „der Seehofer“ und „der Schäuble“ sagten‘s ja auch. Dass „wir“ nicht „souverän“ seien, und dass, wer die Macht habe, nicht gewählt sei, und wer gewählt sei, nicht die Macht habe. Wer da nicht von selber auf den Allfinanzier Soros und die Wallstreet kommt, ni wohr? Dass auch Drews selbst auf mannigfaltige Weise Macht in der Stadt ausübt, ohne je dafür gewählt worden zu sein – darauf mag er nicht kommen.
Die übereifrige Annalena Schmidt warf Drews derweil vor, er „kaufe“ das Wohlwollen der Stadt mit seinem Sponsorengeld, was ein schwerer und unbelegter Vorwurf sowohl gegen Drews als auch gegen die Stadt ist, der folglich auch von Twitter gelöscht werden musste. Dieser unberechtigte Vorwurf machte den verschwörungstheorie-affinen Herrn Drews nun endgültig zur Galionsfigur der „echten“, sich zu Unrecht diffamiert fühlenden Bautzner.
Die Bautzner Disputation
Die solcherart aufgerissenen Gräben ließen sich auf der schon erwähnten Diskussionsveranstaltung, auf der ausgerechnet die Polarisierer Drews und Schmidt mit Input-Reden auftraten, nicht zuschütten. Die Veranstaltung war zuerst – sagen wir es rundheraus – furchtbar, aber sie wurde im Lauf des Abends besser. Es wurde offenbar, dass die meisten Leute Frau Schmidt noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten; sie kannten nur ihre Tweets und Blogs. Womöglich waren sie überrascht von ihrem ruhigen, gefassten Auftreten, nachdem sie sich die ganze Zeit eine schrille Antifa-Furie vorgestellt hatten.
Doch akustisch siegten zunächst ihre Gegner. Als Annalena Schmidts sachlicher Beitrag mit Pfiffen und Johlen begleitet, ihr Grundgesetz-Zitat („Eine Zensur findet nicht statt“) mit höhnischem Gelächter quittiert wurde, da konnte man erkennen, dass ein Teil des Publikums die „Denkste-mit“-Lektion bereits tief verinnerlicht hatte. Doch bestand das Publikum in der überfüllten Martha-Maria-Kirche eben nicht nur aus Johlern, sondern auch aus Menschen, die Frau Schmidt applaudierten, sie in dieser Situation mutig verteidigten, zur Mäßigung aufriefen.
Erneut war es jedoch die SZ, die mit einem polarisierenden Titel die gesamte Veranstaltung als Triumph der Rechten darstellte. „Geh doch weg“, titelten die Münchner, und nahmen damit ganz Bautzen für einen gegen Frau Schmidt gerichteten verbalen Ausbürgerungsversuch einer einzigen Teilnehmerin in Haftung.
Zuhören statt Verdammen
Die Bautzner Disputation illustrierte: es ist so eine Sache mit dem Mut in Sachsen. Nicht mutig ist es, im Internet ganze Städte zur Nazi-Ostzone zu erklären; mutig ist es, im Angesicht eines Pfeifkonzerts ohne Geschrei seinen Standpunkt zu vertreten. Nicht mutig ist es, gestützt von einem vielstimmigen Fanclub den jovialen, unpolitischen Wohltäter zu geben, der gar nicht wisse, wie ihm geschieht, und im Hintergrund und im Halbgesagten unsere politische Ordnung zu diskreditieren. Mutig ist es, als Oberbürgermeister entgegen einer bizarren Frieden-mit-Russland-Stimmung (als ob wir 2014 in Russland einmarschiert wären, und nicht Russland in der Ukraine) zu entscheiden, den Verschwörungs-Schwurbler Wimmer nicht noch durch amtliche Anwesenheit bei einer Preisverleihung aufzuwerten.
Alles in allem scheint es in Bautzen nicht anders zu sein als in jeder sächsischen oder auch westdeutschen Stadt: Wer einen funktionierenden Kompass dafür hat, was sich gehört und was nicht, ist in der Regel leiser und kommt langsamer auf Touren als die Johler. Aber am Ende erheben auch diese Menschen ihre Stimme, und man darf von fünfzig Pöblern nicht voreilig auf einen Saal mit dreihundertfünfzig Zuhörern schließen.
Was Sachsen fehle, so sagte die ehemalige sächsische Grüne Antje Hermenau, die nun für die Freien Wähler antritt, sei ein Moderator statt ein Moralisierer. Sie meinte das vor allem mit Blick auf die Rolle der Evangelischen Kirche als potenzielle Vermittlerin. 1989 an den Runden Tischen sei das gelungen – heute nicht. Heute, so Hermenau, sei der Platz des Moderators in Sachsen verwaist. Ihre Diagnose trifft zu: Die Moralapostel sitzen hier überall. Doch es wird schneller verdammt, als zugehört wird.