Das Theater Konstanz führt am Geburtstag Adolf Hitlers „Mein Kampf“ von George Tabori auf. Gleichzeitig erweitert es die Inszenierung um eine Kostümparty, die der deutschen Erinnerungskultur wie auf den Leib geschneidert ist: Wer gratis rein will, muss ein Hakenkreuz tragen, wer zahlt, kann einen Davidstern anlegen.

Es gibt viele Wege, eine dunkle Vergangenheit zu bewältigen. Man kann sie sowohl nach Art von Erdogan leugnen als auch in putinesker Weise verklären. Oder aber man geht mit der Zeit und probiert stetig etwas Neues aus. So halten es die Deutschen, deren Verhältnis zur NS-Vergangenheit vergleichsweise abwechslungsreicher Natur ist. Erst haben sie von nichts gewusst, dann waren sie an nichts schuld. Zwischendurch wurde ein wenig geleugnet, verharmlost und aufgerechnet, bis es nur noch Opfer und keine Täter mehr gab. Heute wiederum bauen sie unter anderem Mahnmale, zu denen „man gerne geht“ und sind stolz darauf, „aus der Geschichte gelernt“ zu haben. Was genau, das behalten sie jedoch sicherheitshalber für sich. Während der Shoa-Überlebende Primo Levi nüchtern feststellte, dass „es geschehen ist“ und „folglich wieder geschehen kann“, sind sie Deutschen dahingehend weitaus pragmatischer unterwegs. Inzwischen handeln sie bevorzugt nach dem Motto: Es ist geschehen, also muss man auch etwas daraus machen.

Wie genau das dann in der Praxis funktioniert, lässt sich derzeit im beschaulichen Konstanz am Bodensee begutachten. Das dort ansässige Theater nämlich hat Großes vor: Am Geburtstag des Führers, dem kommenden 20. April, wird „Mein Kampf“ von George Tabori unter der Regie des Kabarettisten Serdar Somuncu uraufgeführt. Der Termin ist freilich kein Zufall, aber noch lange nicht zu viel des Guten. Wenn man schon über eine so ereignisreiche Vergangenheit verfügt, sollte man der Außenwelt auch zeigen, was man hat. Darum dürfen ebenso die Zuschauer mitmachen, für die das Theater ein Schmankerl der besonderen Art parat hält: „Die Aufführung von „Mein Kampf“ beginnt schon mit dem Kartenkauf“, verheißt es in der Ankündigung. Und weiter:

„Sie können sich entscheiden: Mit dem regulären Erwerb einer Eintrittskarte in der Kategorie ihrer Wahl erklären Sie sich bereit, im Theatersaal einen Davidstern zu tragen. Sie haben auch die Möglichkeit kostenlos ins Theater zu gehen: Für eine Freikarte erklären Sie sich bereit, im Theatersaal ein Hakenkreuz zu tragen. Die Symbole erhalten Sie vor der Vorstellung im Theaterfoyer.“

Angewandte Geschichtsvergessenheit trifft auf dicke Krokodiltränen

Wie genau der Davidstern aussehen wird – zum Hakenkreuz passend in Gelb oder eher neutral? – und ob man den Besitzern von Gratiskarten beim Anlegen der Hakenkreuz-Binde einen schönen Abend wünschen oder nicht doch eher „Heil Hitler!“ zurufen wird, ist dagegen noch nicht bekannt. Klar ist nur eines: Das interaktive Kostümfest zu Konstanz soll natürlich kein geschmackloser Marketing-Gag sein. Denn das prangern nicht nur die Freunde und Förderer des Theaters, sondern auch die örtliche Deutsch-Israelische Gesellschaft und der Verein für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an. „Es gibt eine dritte Option: Man kann auch keine Theaterkarte kaufen“, empfehlen die beiden Letztgenannten.

Kritik, die man im Theater „ernst nimmt“, ohne sie zu teilen. Dort herrscht vielmehr Erstaunen über die „Vorverurteilung“. Schließlich gehe es doch vielmehr um eine „längst überfällige Debatte“. Mehr noch: Tatsächlich verfolge man eine wichtige, geradezu pädagogische Mission: „Wir möchten ihnen [den Kritikern, A.d.R.] gerne nahelegen, diese Aktion als eine Auseinandersetzung und dringenden Hinweis darauf zu verstehen, wie korrumpierbar und verführbar auch heute Menschen für den Faschismus sind“, betont Dramaturg Daniel Grünauer im Angesicht der Kritik. Ein durchaus bedenkenswerter Einwand, der vor allem zeigt, wie verführbar die Menschen auch heute für angewandte Geschichtsvergessenheit sind. Benötigte man für den Faschismus früher noch mindestens einen Führer, beginnt er heutzutage am Bodensee offensichtlich schon dann, wenn Hakenkreuze gegen Gratiskarten getauscht werden.

Inzwischen hat das Theater jedoch seine „Eintrittsstruktur erweitert“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Zahlende Besucher dürfen wählen, ob sie sich „als Zeichen der Solidarität mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ den Davidstern anheften lassen möchten oder nicht. Eine schöner Gedanke, der sogar noch schöner sein könnte, wenn er den Deutschen nur rund achtzig Jahre früher gekommen wäre. Das Hakenkreuz für Sparfüchse wiederum bleibt obligatorisch. Wer nicht ausgerechnet am Geburtstag des Führers den Nationalsozialismus nachspielen möchte, kann die Karten für diesen Tag auch umtauschen. Das geht sogar gebührenfrei und ohne Verkleidung.

Juden gibt’s nur in der Opferrolle

Damit lässt das Theater es vorerst bewenden. Schade eigentlich. Denn sowohl für Besucher als auch für Beobachter in der Ferne bleiben hinsichtlich der Rollenverteilung einige Fragen offen. Wenn sich die zahlende Kundschaft mit den verfolgten und ermordeten Juden solidarisiert, mit wem sollen sich dann die Gratis-Hakenkreuz-Träger solidarisch erklären? Mit den Nazis, die von Konstanz aus betrachtet in erster Linie nur „verführt und korrumpiert“ wurden (wie gemein!), aber wohl nie überzeugt waren? Und wenn das Hakenkreuz für Korrumpierbarkeit steht, wofür steht dann der Davidstern? Für Courage und Integrität? Sicher, Jude sein gefährdet auch heute noch (oder wieder) hie und da die Gesundheit. Wohl dem, der seinen Davidstern hinterher geschwind an der Garderobe abgeben kann. Aber diesen durchaus beklagenswerten Zustand muss man als Theatermacher ja nicht gleich zur Norm erheben.

Es sei denn, man macht es sich lieber in der Vergangenheit gemütlich, wo das Gegenstück zum Hakenkreuz der gelbe Judenstern ist und Juden folglich nur in der Opferrolle vorkommen, auf deren Rücken sich der eigene Moralkompass gleich viel müheloser vergolden lässt. Was wiederum die Frage aufwirft: Was sollen eigentlich Juden tun, die gerne „Mein Kampf“ in Konstanz sehen würden, aber keine Lust auf eine Mottoparty haben, deren Teilnehmer sich wahlweise ins Gewand ihrer verfolgten Vorfahren oder in das von deren Mördern werfen? Fragen über Fragen, von denen sich die tapferen Theatermacher aber freilich nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen. Man wird ja wohl noch in Ruhe mahnen, Diskussionen anstoßen und Zeichen setzen dürfen.

So schön können Erinnerungslücken sein!

Ohnehin beweist das Theater Konstanz in dieser Angelegenheit lediglich, wie nah es am Puls der Zeit operiert. Es ist erst einige Monate her, da das „Zentrum für politische Schönheit“ dem AfD-Politiker Björn Höcke in Reaktion auf dessen „Mahnmal der Schande“-Rede ein Mini-Holocaust-Mahnmal in den Vorgarten stellte und von ihm einen Kniefall verlangte. Kurz zuvor hielt die „Deutsche Bahn“ es wiederum für eine brillante Idee, einen ICE nach Anne Frank, die per Reichsbahn in den Tod geschickt wurde, zu benennen. Ebenfalls jüngeren Datums ist eine Studie der Uni Bielefeld und der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ über familiäre Erinnerung an die NS-Vergangenheit. Mehr als 50 Prozent der Befragten sind demnach der Ansicht, dass ihre Vorfahren zu den Opfern des Zweiten Weltkriegs zählen. Zwei Drittel gaben an, unter ihren Vorfahren befänden sich keinerlei Täter des Kriegs. Nur 18 Prozent bejahen die Frage nach der familiären Täterschaft. 2018 sind die Deutschen also endlich dort angekommen, wo sie immer hin wollten: auf dem Niveau eines Volkes voller unschuldiger Opfer.

Bei so viel Unbekümmertheit ist nur konsequent, wenn sich die Deutschen der NS-Vergangenheit im Allgemeinen, der Shoa im Besonderen so bedienen, als handele es sich um den Requisiten-Fundus der örtlichen Theatergruppe. Man greift sich das heraus, was gerade gefällt, ohne näher etwas damit zu tun zu haben. In Thüringen stellen Nachfahren der Täter einem anderen Täter-Nachfahren das Berliner Denkmal an sechs Millionen ermordete Juden vor die Tür, weil es sich gerade gut anfühlt. In Konstanz wiederum verteilen die Enkel der Nazis untereinander Davidsterne und Hakenkreuze, als ginge es um Bonbons oder Flyer. Losgelöst von der Vergangenheit und ihren konkreten Zusammenhängen lebt und „erinnert“ es sich eben leichter. Gänzlich unbefangen lässt sich dann sogar das gute alte Hakenkreuz locker wieder auftragen, ohne Magenschmerzen zu erzeugen. Man kann aber auch als Anne Frank gehen – jeder eben nach seinem Geschmack Und das Beste an alledem: Weder die Vergangenheit selbst, noch die toten Juden können sich darüber beschweren. Eine Win-Win-Situation auch für die Konstanzer Theatermacher, denen auf diese Weise das Kunststück gelingt, ein Theaterstück über Antisemitismus auf die Bühne zu bringen und gleichzeitig eben jenen Judenhass mithilfe der Kölner-Karneval-Methode zu bagatellisieren.

Derweil laufen die Vorbereitungen zur Uraufführung von „Mein Kampf“ auf Hochtouren. Gut gerüstet mit jeder Menge Hakenkreuzen und Davidsternen begrüßt man die Debatte, die, so das Theater in seiner Stellungnahme, „viel über den teils fragwürdigen Umgang unserer Gesellschaft mit der Vieldeutigkeit nationalsozialistischer Symbole und Zitate aussagt“. Ein Hakenkreuz muss also nicht zwangsläufig etwas Böses bedeuten. Es kann auch für das Gute am Bodensee stehen. So zumindest dürften es einige derer sehen, die schon ihre kostenlosen Hakenkreuz-Karten ergattert haben. Bereits fünfzig Gratis-Tickets gingen über den Tresen, teilt eine Sprecherin mit. Ein guter Anlass, in aller Unschuld einmal mehr den Anfängen zu wehren – oder auch: Theater Konstanz, bitte übernehmen Sie!