Die Lage auf Lesbos ist für Politiker ein Dilemma: Fast jede Option ist auf ihre Weise falsch. Nur manche sind ein bisschen falscher. Und die Flüchtlinge und Migranten kämpfen weiter mit ihrem Alltag.

Eine Szene aus Lesbos nach der Moria-Brandstiftung: Zwei Marokkaner und zwei Syrer sitzen mittags in der knallenden Sonne am Hafenörtchen Panagiouda. In der Nähe sitzen Journalisten an ihren Laptops, die nach dem Moria-Brand zu Hunderten auf die Insel gekommen waren. Ein Syrer, Kriegsflüchtling aus Aleppo, hat getrocknetes Blut am Mundwinkel. Seine Taschen sind leer so wie seine Augen und die der Anderen.

Die vier haben nichts mehr, wurden nachts von Afghanen mit Messern überfallen, erzählen sie. „Ali Baba“ nennen sie diese Afghanen wie in der Räubergeschichte. „Ali Baba ist der Name einer der Mafia-Gangs von Moria. Sie gelten als Exekutoren“, sagt der Publizist und Entwicklungshelfer Thomas von der Osten-Sacken, ein tiefer Kenner der Materie.

Die verlorenen Vier mussten auch ihre Smartphones abgeben. Da war alles drauf. Kontakte in die Heimat, Dokumente, Fotos der Liebsten zu Hause. „Bitte kauf uns etwas Wasser“, sagt der andere Syrer und ist der erste, der in einer Woche um etwas bittet. Er ist am Ende, platt, dehydriert, die Augen rot.

Die Rangordnung unter den Geflüchteten und Migranten ist hart. Ganz oben stehen afghanische Paschtunen, weil ihre Gangs am besten organisiert sind. Und die Afghanen insgesamt in der Mehrzahl sind – vier Fünftel aller 13.000 auf Lesbos. Ganz unten afghanische Hazara, die asiatische Gesichtszüge haben und anders als die Paschtunen Schiiten sind. Sie werden in ihrer Heimat von den sunnitischen Taliban verfolgt.

Viele haben keinerlei Chance auf einen Schutzstatus in Europa. Aber weil die Türkei zur Zeit offenbar keine abgelehnten Asylbewerber mehr zurücknimmt, der Türkeideal außer Kraft ist, bleiben sie hängen auf dem 80.000-Einwohner-Eiland.

Auch viele Syrer, die 2015 noch sicher Asyl in Deutschland bekamen, sollen zurück in die Türkei. Sie müssen den europäischen Beamten glaubhaft machen, dass sie in der Türkei nicht werden überleben können. Und das können alleinstehende Männer im Gegensatz zu Syrern mit kleinen Kindern meist nicht. Sie bekommen einen „Reject“ in ihren „Ausweis“. Das englische und das deutsche Wort nutzen Syrer und Afghanen in ihren Sprachen genau so. Es ist ein bisschen wie in B. Travens „Das Totenschiff“, wo Seeleute ohne Ausweise auf einem Seelenverkäufer hängenbleiben. Hier ist der Seelenverkäufer eine kleine Insel, von der sie nicht wegkommen.

Besonders weit weg ist die Heimat, die hinter Wüsten und Regenwäldern liegt, für die wohl mehr als Tausend Kongolesen, die per 5000-Dollar-Touristen- oder Businessvisum von Kinshasa in die Türkei geflogen waren und dann die 1000 Dollar pro Kopf für die Acht-Seemeilen-Überfahrt nach Europa gezahlt hatten.

Lesbos – die Insel heißt so, weil die griechische Dichterin Sappho einst in der Antike berühmte Gedichte über Freundinnen schrieb – ohne selbst in einer Liebesbeziehung zu einer Frau zu stehen. Sie war unglücklich verliebt in einen Fährmann, den schönsten Mann der Welt, der ihre Liebe nicht erwiderte. Der Fährmann fuhr die acht Seemeilen zwischen Kleinasien und der Insel hin und her. Genau die Strecke, die jetzt die Flüchtlinge und Migranten Richtung Europa nehmen.

Die Woche nach dem Brand

Etwa 10.000 Obdachlose lebten nach der mutmaßlichen Brandstiftung in Moria an der Küstenstraße zwischen Panagiouda und Inselhauptstadt Mytilini. Innerhalb einer Woche war hier eine Art steinzeitliche Kleinstadt mit Smartphones entstanden. Es gab kleine Läden, mit Decken überworfene und mit Plastiktüten zusammengebundene Hüttengestelle aus an einem Bach geschlagenen Bambus und Schrott aus dem verbrannten Lager Moria.

Wenn die Polizei mal das Camp von beiden Seiten an den Straßen zumachte, liefen die Menschen halt stundenlang über die Berge zu Läden in der Stadt. Und wenn dann einer eine Kiste gefrorene Hühnerbeine heranschleppte, verkaufte er die Beinchen für einen Euro das Stück.

Holzfeuer wurden oft in der kleinen Vertiefung zwischen Bordsteinkante und Straße entzündet, ein Topf mit Reis draufgelegt. Kinder spielten in der Abendsonne. Sie machen etwa ein Drittel hier aus.

Es gab auch viel Solidarität: Ein Afghane, dem eine Mine die Füße verstümmelt hat, wurde von zwei Freunden aus seiner Heimat bis zu dieser griechischen Insel getragen. Alle mit einem Traum vor Augen: Festland-Europa. Oft am liebsten Deutschland, wo viele schon Familie haben und auf „Mama Merkel“ hoffen, wie manche sie hier nennen. Die meisten haben nicht mitbekommen, wie viel Kritik und auch blanker Hass der Bundeskanzlerin aufgrund der Flüchtlingspolitik von 2015 entgegenschlägt. Wie vorsichtig europäische Länder und auch Deutschland mit der Aufnahme von Asylbewerbern geworden sind.

Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben ist stark: Einige der Afghanen können Deutsch. Sie wurden bereits einmal abgeschoben und kehrten sofort wieder gen Europa zurück. So auch Abdul-Azim, dessen Abschiebung Horst Seehofer 2018 mit der von 68 weiteren Afghanen zu seinem 69. Geburtstag verkündete.

Leben in der Brandwüste

Ein paar Hundert schliefen auch wieder im alten Camp Moria inmitten der Brandwüste. Ein paar Syrer eröffneten einen Friseursalon mit Spiegel unter einer Zeltplane. Eine afghanische Familie nahm einen der in den Boden gebauten Steinofen wieder in Betrieb. Eine Frau klatschte durch die kleine Öffnung Teig aus Mehl und Wasser an die glühend heißen Steine, buk so Brot. Es hatte etwas von einem Endzeitszenario. Einem Leben nach einem großen Krieg.

Viele der Menschen aus dem Küstencamp gingen in einem stetigen Treck hin und her, um Baumaterial und andere halbverbrannte Dinge aus dem gelöschten Brandherd an die Küste zu schleppen und damit das wilde Camp weiter aufzubauen.

Der Transport: steinzeitlich. Wie vor Erfindung des Rades, zogen sie den Schutt in Kisten an Stricken auf dem Asphalt hinter sich her. Und Schrott gab es genug. In dem für 3000 Menschen konzipierten Camp hatten zeitweise 20.000 gelebt.

Es ist nicht schwer vorstellbar, was passieren könnte, wenn direkt an einem deutschen 80.000 Einwohner-Ort ein 20.000-Menschen Elendsquartier entstehen würde. Wenn –denn das sind nicht alles 20.000 Engel und selbst die Engel haben Hunger – Kühe und Hühner verschwinden würden. Wenn es Einbrüche geben würde, alte Apfelbäume (auf Lesbos sind es Olivenbäume) für Koch- und Heizfeuer fielen.

Es würden Wutbürgerwehren auftreten – wohl noch in stärkerem Maße als das auf Lesbos geschah, wo die Vorfahren der meisten Einwohner selbst 1922 aus dem Gebiet der heutigen Türkei flohen und – so erzählten einige – sich in die Lage der Neuankömmlinge hineinversetzen können.

Das neue Camp

Am Eingang zum wilden Lager nahe Panaganoui hat die griechische Regierung ein neues temporäres Erstaufnahmezentrum am Meer errichtet. Auf einem ehemaligen Militärgelände, das einst von deutschen Nazi-Besatzern genutzt wurde, sollten die Menschen hin.

Die griechische Regierung wollte nicht, dass der Eindruck entsteht, Brandstiftung könne sich lohnen. Deshalb sollen die 13 000 keinesfalls direkt nach Europa dürfen, sondern ihren Asylprozess weiter in Lesbos durchlaufen. „Moria-Taktik“ nannten Politiker den Akt der mutwilligen Brandstiftung mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen Lage. Eine Woche nach dem Brand in Moria zündeten Flüchtlinge auch ein ähnliches Camp auf der Insel Samos an.

Die Sorge der Griechen und der Europäischen Union: In der Türkei warten Millionen weitere Flüchtlinge und Migranten auf ein sicheres und besseres Leben im reichen Europa. Sobald Erstaufnahmelager wie auf Lesbos und Samos sich schlagartig leeren würden, könnten wieder Boote aus der Türkei ablegen.

Auf einem Militärgelände, von Stacheldraht und Soldaten in Tarnuniform umgeben, stehen nun reihenweise mehr als 500 weiße Zelte der Unicef und vom UNHCR. Familien mit Kindern durften dort zunächst einziehen, dann kamen die Single-Männer, die zu Hunderten in große Zelte gepfercht wurden. Aber kaum einer wollte das zunächst, denn es hieß, auf unbestimmte Zeit sollte man dieses Lager nicht verlassen dürfen. Die offizielle Begründung: Corona.

Am einem frühen Donnerstagmorgen vor einer Woche hatte die Polizei, unterstützt von Leuten in Schutzanzügen, begonnen, die Küstenstraßenbewohner nach und nach ins neue Lager zu drängen. Manche drehten zunächst um, schleppten ihr Hab und Gut Richtung Mytilini. Sie wollen sich, so lange es geht, an das bisschen Freiheit klammern, das ihnen blieb. Und sei es im Staub an der Straße. Aber das war eine Sackgasse.

Bald war dann schon beinahe das ganze Küstencamp geräumt. Und auch aus dem alten verbrannten Moria schleppten die Menschen ihre Sachen Richtung Meer. Denn eines wurde ihnen klargemacht: Nur im neuen Camp können sie Hoffnung haben, Asyl zu bekommen. Nur hier werden ihre Fälle weiterbearbeitet.

Mittlerweile sind etwa 9000 Menschen gekommen, es gibt 240 Coronafälle, die in von Stacheldraht umgebenen Isolations-Zonen festgehalten werden. Die Angst vor einer Ausbreitung des Virus ist groß – von der Altersstruktur her ist die Gefahr nicht sehr hoch, aber würde es heißen, das Coronavirus grassiert unter den Gestrandeten, wäre es wohl noch viel schwerer, einige von ihnen an europäische Länder weiterzuvermitteln.

Es zeigte sich, dass die Sorge der Menschen, eingeschlossen zu werden, unbegründet war. Offenbar realisierten die Behörden, dass es nicht möglich sein würde, so viele Menschen in einem geschlossenen Camp zu halten. Sie dürfen es nun tagsüber für Besorgungen etwa im nahen Lidl-Markt verlassen. Nur von 20 Uhr bis 8 Uhr morgens ist es zu. Geld dafür bekommen sie von Nicht-Regierungsorganisation. 75 Euro pro Kopf pro Monat.

Etwa 2000 verstecken sich

Etwa 2000 Geflüchtete und Migranten sind über Bergwege abgehauen. Es sind hauptsächlich jene, deren Asylgesuche abgelehnt wurden. Sie haben Angst vor einer Deportation. Manche leben im „Dschungel“, in Olivenhainen in den Bergen. Manche konnten in wahrscheinlich von Hilfsorganisationen gemieteten Häusern unterkommen. Und andere haben sich in alten Bussen und Containern im Hafen versteckt. Ihre Hoffnung: Eine Fähre nach Athen als schwarze Passagiere erwischen, indem sie sich unter Lastwagen krallen, die an Deck rollen.

Manos Logothetis, Generalsekretär des griechischen Migrations-Ministeriums, brachte bei einem Interview vor dem neuen Camp die Lage für sich so auf den Punkt: „Ich verstehe nicht genau, was die Rolle Griechenlands in der Europäischen Union sein soll. Sollen wir die Grenzschützer der EU sein oder die guten Samariter? Beides geht nicht.“

Die Kritik an den Zuständen in Erstaufnahmelagern wie auf Lesbos ist und war heftig. Die Europäische Union hätte Mittel, den Menschen auch dort eine würdigere Unterkunft zu bieten. Wahrscheinlich sind die abschreckenden Bilder von hoffnungslos überfüllten Lagern, welche die Gestrandeten auf Lesbos per Internet in die Heimat und zu Wartenden in die Türkei schicken, einigen Entscheidern nicht unrecht.

Aber eines sollte darüber nicht vergessen werden: Ebenfalls von der EU finanzierte, als Küstenwache agierende libysche Kriegsherren drängen vor der nordafrikanischen Küste Schlepperboote an Land zurück, deren Insassen in Lagern landen, gegenüber denen die Zustände auf Lesbos mit den vielen Hilfsorganisationen paradiesisch wirken.

Als BILD-Reporter war ich eineinhalb Wochen auf Lesbos. Unter anderem schrieb ich diesen, diesen, diesen und diesen Bericht.