Glaubt man „Zeit“-Autorin Jana Hensel, gibt es zwei Arten von Journalismus: den Journalismus der Fakten – und den Journalismus der Frauen.

Am Anfang war der Sockenschluss. Irgendwann, als die „Zeit“-Autorin Jana Hensel Robert Habeck für ein Porträt mit Reportage-Elementen begleitete, hat sie den Grünen-Politiker wohl mit löchrigen Strümpfen erwischt. „Irgendwann“ und „wohl“ steht hier ganz bewusst, denn Jana Hensel verzichtet auf genaue Angaben. Es geht ihr schließlich nicht um Genauigkeit, sondern um Gefühl. Und um die Haltung, die sie hinter Habecks nackten Zehen vermutet – vermutet wohlgemerkt, nicht belegt.

Ihre Vermutung klingt so:

„Wenn Robert Habeck im ICE-Bordbistro seine Schuhe auszieht, was er nicht immer, aber eigentlich gern macht, weil er wahrscheinlich momentan in Zügen mehr zu Hause ist als irgendwo sonst, dann kann es schon passieren und man sieht die Löcher in seinen Socken. Ihm selbst ist daran nichts peinlich. Er blickt einen an, als seien Löcher in den Socken das Normalste auf der Welt. Sind sie wahrscheinlich auch. Nur sein Mitarbeiter schaut erst seinen Chef, dann die Löcher an den Füßen unter dem Tisch und schließlich mich, die Journalistin, an. Sein Blick versucht mir zu verbieten, das alles gesehen zu haben. Und natürlich habe ich nichts gesehen.“

Die Seite „Reportagen.fm“ lobte den Einstieg mit den Socken als (Ab)Satz der Woche. Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“, machte sich dagegen bei Twitter lustig: „Holy Habeck next level: Jetzt auch mit Löchern in den Socken. Herrlich, wenn eine Masche aufgeht!“

https://twitter.com/ulfposh/status/1137601429517086720?s=20

Habeck als Mann und Politiker neuen Typs an der kaputten Naht seiner Socken zu erkennen, ist durchaus pointensicher. Denn als der damalige Weltbank-Chef und Neocon-Vordenker Paul Wolfowitz 2007 in einer Moschee in der Türkei löchrige Socken entblößte, berichtete sogar die sachlich-seriöse Nachrichtenagentur dpa noch hämisch über diese Peinlichkeit.

Im Jahr 2019 sind Löcher in den Socken kein Makel mehr, sondern ein Kompliment. Später in Hensels Text läuft Habeck, noch „behände und erstaunlich schnell durch die Menschenmassen am Kölner Hauptbahnhof“ und sie nennt ihn einen Mann „von dem immer mehr Menschen wirklich erwarten, dass alles anders wird.“ Zum Abschluss verspricht sie, dass er auf die Frage, „ob er nun Kanzler werden will oder nicht, doch mal eine Antwort geben wird. Das kann morgen sein oder irgendwann.“ Eigentlich, wahrscheinlich, natürlich, erstaunlich, immer mehr, irgendwann. Erfühlte Wahrheit, wohin man liest.

Von dämlichen Kommentaren und Springer-Führungskadern

Aber offenbar fühlen sie nicht alle. „Absatz der Woche. Das gefällt mir“, twitterte Jana Hensel am 7. Juni. Dafür gab es gab es neben rund 250 Likes auch jede Menge Kritik.  Vorwürfe wie „Groupie-Journalismus“ konnte man lesen. Irgendwann muss Jana Hensel das zu viel geworden sein. Am 10. Juni, also knapp eine Woche nach der Veröffentlichung ihres Textes, holt sie bei Twitter zur großen Einordnung aus.

„Nachdem sich seit gestern also mehrere aktive und ehemalige Springer-Führungskader mehr oder weniger herablassend zu den ersten Sätzen meines jüngsten Habeck-Textes geäußert haben und ich mir seitdem hier unzählige dämliche Kommentare durchlesen muss, ein paar einordnenden Sätze dazu“, twittert sie.

Einordnen ist im Journalismus ein Fachbegriff dafür, einzelne Nachrichten oder Informationen in einen größeren Zusammenhang zu bringen mit dem Ziel, dass die Rezipienten die tieferen Hintergründe verstehen. Um zu erklären, welche Hintergründe sie hinter den „dämlichen Kommentaren“ sieht, greift Jana Hensel mit all ihrer Erfahrung, ostdeutsch zu sein (die sie zuvor bereits in einem Buch für den Aufbau Verlag belegt hat), stilsicher ins Wörterbuch des politischen Sozialismus: „Springer-Führungskader“ haben sich „herablassend“ geäußert, nicht etwa einzelne Kollegen. Und einer besonderen Einordnung bedarf dies, „weil, erstens, diese Journalisten bei einer Zeitung arbeiten, die zu Friedrich Merz schonmal die Zeile „Friedrich, der Große“ bringt, ohne daran irgendetwas verstörend zu finden“.

Aber welche Journalisten bzw. Führungskader sollen sich angesprochen fühlen, außer offensichtlich Ulf Poschardt? Um welche Zeitung handelt es sich? In welchem Artikel hat diese Zeitung Friedrich Merz so genannt? Das muss man sich alles selbst mühsam zusammenrecherchieren und dabei hoffen, dass das, was man findet, auch das ist, was Jana Hensel meint. Am 1. November 2018 titelte „Welt Kompakt“ in der Tat „Friedrich der Große“ zum Comeback des CDU-Politikers. Allerdings folgt unter dieser Schlagzeile, die dazu dient, den Titel am Kiosk zu verkaufen, kein anbiederndes Porträt, sondern nur eine Zusammenfassung der in der Ausgabe folgenden Doppelseite. Und der erste Satz dieser Zusammenfassung lautet: „Seine 1,98 Meter machen ihn unübersehbar – und auch sein Selbstbewusstsein hat in den zehn Jahren politischer Abstinenz nicht gelitten.“

Die Schlagzeile nimmt also zumindest für alle Insider im Politikbetrieb, zu denen Jana Hensel sich wahrscheinlich zählt, erkennbar Bezug darauf, dass Merz früher schon häufiger den – meist ironisch gemeinten – Spitznamen „der Große“ erhalten hat. Zum Beispiel bei der Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst. Oder nach der Bundestagswahl 2005, als eine Zeitung laut anderen Zeitungen schrieb: „Friedrich der Große: Verlierer des Jahres“. Der Vorwurf der Doppelmoral, den Hensel twittert, ist also eher nebulös. Ende November 2018 nannte übrigens auch die „Wirtschaftswoche“ Merz in der Dachzeile zu einem Text „Friedrich der Große“. Der Text stammt von Elisabeth Niejahr, einer Frau.

Fakten für die Männer, Gefühle für die Frauen

Warum das Geschlecht wichtig ist? Weil Jana Hensel das wichtig findet. Oder, in ihren Worten, „weil, zweitens, es in den vergangenen Wochen immer wieder zum Teil heftige, stets unsachliche Kritik an den Habeck-Portraits gegeben hat, die von Frauen stammten, an Interviews, die von Frauen geführt worden“.

Ohne dafür auch nur einen einzigen Beleg anzuführen, kommt Hensel zu ihrem Kernpunkt: Der Behauptung, die Kritik an ihrem gefühligen Porträt über Robert Habeck sei sexistisch. Dafür bringt sie vier Argumente, auf die einzeln einzugehen sich nicht vermeiden lässt, wenn man sie einordnen will.

„1. Der weibliche Blick auf Politiker wird gegenüber dem männlichen entwertet. Während Männer rational und sachlich auf Politik schauen, werden Frauen von Gefühlen geleitet. (Ich schreibe über Habeck freilich nur, weil ich unsterblich in ihn verliebt sein muss. So lauten viele der sexistischen Kommentare seit gestern.)

Auf diesen Punkt kommen wir gleich tiefergehend zurück. Bleiben wir erstmal an der Oberfläche, also bei Jana Hensel. Sie fährt fort:

„2. Die Arbeit von Reporterinnen wird entwertet. Nun, wo sie nicht länger nur über das Familienministerium schreiben, sondern auch über eventuell zukünftige Kanzlerkandidatinnen, werden Reviere abgesteckt und indirekt Regeln formuliert, wie man über Politik zu schreiben habe. Nämlich distanziert, sachlich, scheinbar neutral, wie nur weiße Männer glauben können, neutral zu sein.“

Hier stellt Jana Hensel, die in keiner Weise indirekte, sondern klassische Regel, sich nicht mit einer Sache (oder Person) gemein zu machen, auch nicht mit einer guten Sache (Hanns Joachim Friedrichs) grundsätzlich in Frage. Sie interpretiert also eine der Grundüberzeugungen des angelsächsisch geprägten Journalismus als Erfindung des Patriarchats, um Frauen vom Schreiben über Politik abzuhalten. Mitten in einer medialen Wirklichkeit von Fake-News-Portalen, Algorithmus-gesteuerten Empörungsblasen und dem Auffliegen der Gefühlte-Wahrheiten-Reportage Marke Relotius die Forderung nach Distanz und Sachlichkeit im Journalismus als fixe Idee chauvinistischer Idioten, vulgo: weißer Männer, abzuwerten – darauf muss man erstmal kommen. Nebenbei ist es sexistisch. Aber es kommt immer noch schlimmer, denn danach nennt Jana Hensel tatsächlich mal ein vermeintlich auf Fakten gestütztes Argument.   

„3. Die Koalition der Frauen mit den Grünen wird entwertet. Wie wir wissen, wäre die Partei stärkste Kraft, wenn nur Frauen wählen würden.“

Nun, exakt das wissen wir nicht. Die stärkste Kraft bei Deutschlands Frauen ist die CDU. Die zweitstärkste Kraft, die Grünen, wird von 24 Prozent der Frauen gewählt, also von 76 Prozent der Frauen nicht. Daraus eine Koalition der Frauen mit den Grünen zu machen, ist sachlich schlicht falsch – passt aber ins Genre der gefühlten Wahrheiten. Genau wie der letzte Punkt in Hensels Argumentation.

„4. So trifft der Sexismus, der auf die grünen Wählerinnen zu zielen scheint, natürlich auch Habeck selbst. Jenen Mann also, der auf ein klassisches Alphamann-Gebaren verzichtet und stattdessen für ein neues Männlichkeitsbild steht.“

Freud lässt grüßen

Die sexistischen Alphamänner haben es nicht nur auf die Frauen und unter ihnen insbesondere die Grünen-Wählerinnen abgesehen, heißt das, sondern auch noch auf Habeck! Weil sie eifersüchtig sind. Ein Psychologe könnte diesen Tweet wahrscheinlich als freudsche Pointe zu dem in Klammern gesetzten Satz unter 1. sehen, wenn er wollte.

Aber darum soll es nicht gehen. Sondern um Jana Hensels Twitter-These, wonach es einen spezifisch weiblichen Journalismus gebe, der sich dadurch auszeichnet, dass er natürliche Koalitionen erkennt und eingeht, um die heile-Socken-Welt aus den Angeln zu heben. Dafür traut er sich, die Schimäre der Neutralität zu Gunsten von Nähe und Einfühlung aufzugeben und die Menschen hübsch einzusortieren in Führungskader, Alphamänner, neue Männer und Frauen. Dann endlich würde wahrscheinlich wirklich alles anders. Nur besser würde nichts.