Wenige Tage nach ihrem Kreuzbandriss und dem jetzigen Leben auf Krücken entdeckt Deana Mrkaja ein neues Berlin – mit netten Menschen und noch mehr Ärgernissen.

Ich habe das Gefühl, dass mich jemand mal kurz kneifen muss. Für einen Realitätscheck: Bin ich immer noch in Berlin oder habe ich die vergangenen Tage nur geträumt? Zunächst war da der Arzt, der mich in den Arm nahm und mir versprach, ich würde in sechs Monaten wieder Bälle über das Netz schmettern (Challenge accepted!), dann aber geschahen Dinge, die niemand in dieser Stadt voraussehen konnte. Sachen, von denen ich niemals glaubte, sie seien in Berlin auf diese Weise möglich. Die Bewohner dieser andersartigen Insel inmitten unserer Republik waren nett. Einfach nett. Nicht nur das, sie waren sogar hilfsbereit, zuvorkommend und überaus freundlich. Ich möchte das verwendete Tempus kurz korrigieren, denn sie SIND hilfsbereit, zuvorkommend und überaus freundlich.

Seit meiner Knieverletzung und der dadurch verursachten schleppenden Art mich durch die Stadt zu bewegen, stehen Menschen sogar in überfüllten U-Bahnen auf, um mir ihren Sitzplatz anzubieten. Sie verraten mir, wo sich der nächste Aufzug befindet (was nur selten der Fall ist, aber dazu gleich noch mehr), sie tragen mir meinen Rucksack die Treppe hoch, ja, fremde Menschen halten mir die Tür auf oder fragen aus freien Stücken, ob sie mir irgendwie helfen könnten. Der Späti-Mann meines Vertrauens, der stets meine Pakete annimmt, weil der Postmann niemals zweimal klingelt, gab mir sogar ein Air-Berlin-Herz. Sein letztes Herz. Noch immer frage ich mich, was er mit damit sagen wollte: Ich schenke dir mein Herz? Lass uns gemeinsam abstürzen? Oder: Das mit uns ist sowieso dem Untergang geweiht? Eine Variante wäre noch: Ich bin mindestens so größenwahnsinnig wie Joachim Hunold. Egal, was es ist, ich bin begeistert von diesem neuen Berlin-Gefühl und sehe meine Mitmenschen nun mit völlig neuen Augen. Nur die BVG nicht.

Die Aufzugsituation ist eine Zumutung für Menschen mit Handicap

Jetzt kann ich all die Diskussionen um Aufzüge an U-Bahn-Stationen in Berlin verstehen. Denn die Situation für Menschen mit Einschränkungen ist, ich entschuldige mich für die Ausdrucksweise, schlichtweg beschissen. Es gibt nicht nur viel zu wenige Rolltreppen, es gibt vor allem viel zu selten Aufzüge. Während ich – mit viel Zeit im Gepäck – es irgendwie noch schaffe auf Krücken unter die Erde zur Bahn zu kommen, frage ich mich, wie es ein Mensch im Rollstuhl schaffen soll, sich durch diese riesige Stadt zu bewegen, ohne auf andere Leute mit Auto oder ein Taxi angewiesen zu sein? Richtig, gar nicht! Nehmen wir meine U-Bahnstation, den Mierendorffplatz an der U7. Vier Ein- und Ausgänge, kein einziger davon mit Lift, und Rolltreppen gibt es auch erst ab der zweiten Ebene. Wäre ich auf einen Rollstuhl angewiesen, würde sich mein Leben für diese Zeit zwischen Späti, Netto, der Kneipe „Straßenfeger“ und dem Bäcker an der Ecke abspielen. Erst jetzt verstehe ich, was es bedeutet, wenn man plötzlich nicht mehr mobil ist oder jeder Weg mindestens die doppelte Zeit in Anspruch nimmt. Es ist eine Zumutung für viele Bewohner dieser Stadt. Statt „Is‘ mir egal“, sollte sich die BVG mal lieber „Ich trage Verantwortung“ auf die Fahne schreiben. Und über ihre neue Kampagne „Ohne uns kommst du heut‘ Nacht nicht heim“ kann jeder im Rollstuhl sitzende Mensch nur müde lächeln und sagen: „Aber mit euch erst recht nicht.“

Das Einkaufen neu entdeckt

Doch nicht nur diese Sichtweisen auf Berlin haben sich geändert, sondern auch mein Konsumverhalten. Zwar würde ich mich als Digital Native bezeichnen, jedoch habe ich mich zum Einkaufen von Lebensmitteln immer aus dem Haus bewegt – bis jetzt. Mein neuer Lieblingszeitverbrauch – neben mit dem Rucksack durch die Wohnung laufen, weil ich nichts in den Händen tragen kann – ist das Online-Shopping geworden. Zalando war gestern, Rewe und „DM Online“ sind die Plattformen des digitalen Zeitalters. So laufe ich durch virtuelle Einkaufsräume und packe einfach in den Warenkorb, worauf ich Lust habe. Da ich das Zeug nicht alleine nach Hause schleppen muss, greife ich ordentlich zu: Kokosflocken zum Naschen, die nach Karamell schmecken? Nehm ich! Mehrere Flaschen meines französischen Lieblingsrotweins? Was soll der Geiz?! Selten waren meine Rechnungen beim Wocheneinkauf so hoch und der Überblick über Gekauftes so schlecht, doch all das spielt keine Rolle, da ich mich bisher selten so sehr über das Klingeln an der Tür freute, wie jetzt, wo ich weiß, dass gleich jemand in einem roten Anzug die Treppen hochläuft und mir zehn Einkaufstüten sogar bis in die Küche trägt. Der Rewe-Lieferant und ich sind sogar schon per Du und ich biete ihm stets etwas aus den mitgebrachten Tüten an.

Im nächsten Beitrag: Mein neues Leben auf Krücken ist Wahnsinn und Glück zugleich

 

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