Die Antideutschen waren mal der sympathische Teil der deutschen Linken: undogmatisch und frei von den in diesen Kreisen üblichen, antiwestlichen Ressentiments. Doch diese Zeiten sind vorbei. Eine Fremdscham.

Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass im Magazin der „Zeit“ ein Text mit dem popkulturigen Titel „Ga Ga Land“ erschien. Mohamed Amjahid sezierte darin in epischer Breite die sog. „Antideutschen“, eine vormals eher subkulturelle Strömung der modernen Linken, die in den letzten Jahren stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt ist. Dennoch war  sie offenbar noch unbekannt genug, dass Amjahid in seinem Text Nonsens wie demonstrative McDonald’s-Eat-ins als identitätsstiftendes Merkmal der Antideutschen herausarbeiten zu können vermeinte. Mit der „antideutschen Sexparty“, die er besucht haben wollte, begründete er dagegen unfreiwillig einen Mythos: Das schallende Gelächter, das hernach durch die Szene ging, ist bis heute nicht vollständig abgeebbt.

Aus der Sprecherperspektive desjenigen, der wie der Autor dieses Textes mit Kapitalismuskritik nichts am Hut hat, sind die Antideutschen ein sympathischer Teil der politischen Linken. Sie sind gegen antiwestliche Ressentiments, für Israel und die USA, und sie haben, wohl aufgrund ihrer erfrischend undogmatischen Herangehensweise an sich selbst, die Welt und das Leben, in vielen Fällen auch Humor. Selbst wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, so kann man doch als Nichtlinker mit wenigen Linken so gut ein Bier trinken wie mit ihnen.

Das bedeutet freilich nicht, dass die Antideutschen versuchen würden, kraft ihrer besonderen Selbstdefinition durch die kalte Küche aus der linken Politwelt auszuchecken. Im Gegenteil, die exzessive politphilosophische Grundlagenarbeit, die jedem Linken den Feierabend versüßt, ist auch bei Antideutschen nicht optional, die Verehrung der Frankfurter Schule für sie unverhandelbar. Und wie jede respektable linke Bewegung wurden natürlich auch die Antideutschen längst von mehreren kleinen und großen Schismen zerrüttet.

Wasserscheide Bahamas

Eine der wichtigsten Wasserscheiden verläuft heute entlang der Zeitschrift „Bahamas. Das Blatt, früher Zentralorgan der gesamten antideutschen Bewegung und Standardinventar auf jedem vorzeigbar antideutschen WG-Küchentisch, kam bei Teilen der Bewegung in Misskredit, nachdem der Chefredakteur und vormalige gesamtantideutsche Papst Justus Wertmüller aus dem proamerikanischen und proisraelischen Bekenntnis eine immer kompromisslosere Kritik nicht nur am Islam als solchen, sondern auch an der Präsenz einzelner Muslime ableitete. Das Verhältnis zur Bahamas ist darüber inzwischen zu einer Gretchenfrage geworden, an der sich, stark vereinfacht gesagt, die Geister einer eher universalistischen Strömung und einer längst ins Nationalkonservative gekippten Wertmüller-Fraktion scheiden. 

Auch wenn die Äußerungen der letzteren Gruppierung zum Teil klingen wie direkt dem Kanon des angeblich gemäßigten Flügels der AfD entnommen, legt doch auch die Bahamas-Partei unverändert großen Wert auf die eigene linke Street Cred. Mit dem Traditionsbewusstsein eines bayerischen Schützenvereins wirft sie daher weiterhin mit einer Kommunismusrabulistik um sich, die in ihrer verquasten Komplexität für Außenstehende kaum zu durchdringen ist. Das ist nicht nur Folklore, denn mit dem klassischen Staatskommunismus eint die National-Antideutschen, die sich selbst bevorzugt als „Ideologiekritiker“ bezeichnen, ironischerweise auch die auf null geschrumpfte geistige Beinfreiheit. Fein säuberlich wird anhand eines absolut gesetzten eigenen Wertekatalogs, dessen Leitsterne die Haltung zu Israel und den USA bilden, in gut und schlecht, richtig und falsch unterschieden. In bester totalitärer Tradition gilt, wer sich der guten Sache nicht bedingungslos verschreibt, fortan als ihr zu bekämpfender Feind. Die Wände der so entstehenden Filterblase können es an Undurchdringlichkeit durchaus mit dem Antifaschistischen Schutzwall aufnehmen.

Man könnte das alles amüsant finden, hätten nicht einige Mitglieder dieses Milieus auf dem Weg zum vollendeten Jakobinertum bereits das nächste Achievement unlocked: Ihnen genügt es nicht mehr, nur selbst recht zu haben – die Irregeleiteten müssen auch öffentlich vorgeführt und erledigt werden. Da aufgrund der fortgeschrittenen Radikalisierung fast niemand mehr den astronomisch hohen Ansprüchen der national-antideutschen Sittenpolizei genügen kann, geraten aber auch immer mehr Personen unter Feuer, denen Beobachter aus irdischeren Sphären durchaus einen funktionierenden Moralkompass, ein gesundes politisches Empfinden und vor allem keinerlei antiisraelische oder antiwestliche Einstellungen attestieren würden.

Programmatische Sklerose

Es brauchte daher einen besonders Linientreuen, um den Journalisten, Krisenhelfer und – hier passt der Begriff ausnahmsweise wirklich – Nahostexperten Thomas von der Osten-Sacken als antisemitisches U-Boot zu entlarven. Dessen Facebook-Post, der Kritik an der menschenverachtenden Strategie der Hamas am Grenzzaun in Gaza mit der Hoffnung verband, derartige Vorkommnisse ließen sich israelischerseits in Zukunft mit weniger Blutvergießen regeln, bestand den Gesinnungstest nicht. Ein national-antideutscher Facebooknutzer, der eine israelische und amerikanische Fahne im Profilbild führt, unterstellte ihm darüber „Verständnis für die Hamas“ und erkannte ihm mit merklichem Schaum vor dem Mund die antideutsche TÜV-Plakette ab.

Dass darüber hinaus auch Donald Trump in der Szene als fast schon messianische Heilsfigur verehrt wird, dessen Nahostpolitik ihn gegen jede Kritik auch auf anderen Gebieten immunisiert, bedarf als weiteres Zeugnis der fortschreitenden politisch-moralischen Verwahrlosung kaum noch gesonderter Erwähnung. Und so wie die trumptreuen GOP-Speichellecker im Kongress für Republikaner im Geiste Reagans eine peinliche Schande sind, so schippert auch der national-antideutsche Dampfer schon länger durch politisches fragwürdiges Brackwasser. Folgende Zeilen beispielsweise, welche ebenfalls als Kritik an von der Osten-Sacken gedacht waren, stammen nicht etwa von Martin Sellner, sondern von einem Menschen, dem man unterstellen darf, dass er seinen Adorno auswendig kann: 

„Denn das, was Israel da tut und leider tun muss, um als souveräner Staat bestehen zu bleiben, ist ja exakt das, was sie [Osten-Sacken etc.] auch überall sonst auf der Welt fallen, zerstört sehen wollen und besonders übel stößt ihnen die Tatsache auf, dass es inzwischen nicht nur in der US-Regierung, sondern auch in vielen anderen Ländern Europas und des Westens Kräfte gibt, die erkennen, dass das zusammen gehört: Die Souveränität Israels und die Integrität seiner Grenzen und die Souveränität dieser Staaten und die Integrität ihrer Grenzen, die Fähigkeit, souverän zu entscheiden, wer einreisen darf und die notfalls gewaltsame Verhinderung illegaler Grenzübertritte. Weil alles andere nicht nur grenzenlose Bewegungsfreiheit für Massenmörder und Terroristen wäre, sondern der Anfang vom Ende einer auf zumindest minimaler Rationalität aufgebauten bürgerlichen Staatlichkeit überhaupt.“

Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass böse Zungen der Bahamas-Fraktion vorwerfen, den Weg von ganz links nach ganz rechts längst souverän hinter sich gebracht zu haben. Die programmatische Sklerose einer Gruppe, die ursprünglich einmal mit Grund und Reflexion Stellung gegen Antisemitismus und regressiven Antiamerikanismus bezogen hatte, hat einem wütenden Selbstmitleid Raum gegeben, das jetzt in Form trotziger Antimoral ausbricht und sich für die eigene Prinzipientreue dabei noch auf die Schulter klopft: Irgendwer muss die Welt ja daran erinnern, dass diese Araber erschossen gehörten! Glücklich kann sich schätzen, wer über dieser Aufgabe anständig bleibt. Für Grautöne und Differenzierungen ist in einer derart protolutheranischen Mentalität des „Hier stehe ich und kann nicht anders“ jedenfalls kein Platz mehr. 

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist nicht damit zu rechnen, dass die getrennten Wege beider antideutschen Lager in absehbarer Zeit wieder zusammenführen. Eher sollte stattdessen ein wachsamer Blick auf die Strukturen in und um die „Bahamas“ gerichtet bleiben: Wo eine so tiefe Verbitterung über das eigene Rechthaben wuchert, da hilft auch keine Sexparty mehr.