Die Klima- und Energiediskussion treibt beunruhigende Blüten: Rigorismus und Angstmobilisierung machen sich breit, und manche denken sogar an eine „Ökodiktatur“. Dieser Essay sichtet das Feld und macht einen Gegenvorschlag. 

„Das Haus brennt“, rief kürzlich die junge Schwedin Greta Thunberg in die Welt, und eine an Schwung zunehmende Klimaschutz-Jugendbewegung folgte ihr, den imaginären Feuerwehrschlauch fest in den Händen. Ihre Pathosformeln: Hoch die, Nieder mit, Wir wollen alles, und zwar sofort! In diesem Fall will man einen Sofort-Ausstieg aus der Kohleverstromung. Da will die ältere linke Generation in wehmütiger Erinnerung an vergangene Kämpfe nicht zurückstehen. Dieser Tage schlug der „Freitag“ auf seiner Titelseite die passende Regierungsform zum Klima-Notstandsdenken vor. In einer Art Carl-Schmitt-Instant-Adaptation für Grüne titelte die Wochenzeitung: „Öko-Diktatur? Ja bitte!“

Was folgte, war eine Mischung aus bereits bekannten Feststellungen und neuen Forderungen. Die bekannten Fakten: Kohlekraftwerke sind nicht gut für unsere CO2-Bilanz, der Emissionsrechte-Handel hat bislang als Steuerungsinstrument für die CO2-Reduktion versagt, die Autolobby jauchzt gemeinsam mit dem Verkehrsminister über 100 abtrünnige Lungenärzte, die die gesetzlichen Schadstoff-Grenzwerte für Dieselmotoren anfechten, der Luftverkehr ist im Vergleich zu Bahn und Automobil ein Mega-CO2-Produzent und wird außerdem noch steuerlich privilegiert, der Öffentliche Nahverkehr ist das Stiefkind der Politik.

Nichts Neues also. Dennoch haben es die Forderungen in sich: Raus aus der Verbots-Scheu. Wer beim Veggie-Day noch einknickte, soll es nun endlich wagen: Fahrverbote, Kohlekraft-Sofortverbot, Abschaffung des Inlands-Flugverkehrs. Die Linken sollten sich den Ökodiktatur-Vorwurf der Rechten endlich zu eigen machen, statt ihn ängstlich zu widerlegen: Ja bitte! Wir stehen dazu! Denn es steht nichts weniger als „der Planet“ auf dem Spiel.

Droht eine Öko-Diktatur?

Als Osteuropa- und Technikhistorikerin interessiere ich mich aus zwei Gründen für diesen Argumentationsgang: Erstens, weil solche Forderungen eine radikale Transformation einiger soziotechnischer Systeme nach sich ziehen könnten, die heute unsere Lebenswelt wesentlich prägen. Und zweitens, weil die Geschichte meines Bezugsraums viele leidvolle Diktaturerfahrungen kennt. Diese mannigfaltig erforschten Erfahrungen haben uns sensibel dafür gemacht, Indikatoren für die Anbahnung von Diktaturen zu erkennen. Doch erfüllen die Forderungen der Umweltbewegung überhaupt den Tatbestand der „Diktaturanbahnung“, ob nun ablehnend oder affirmativ gesprochen? Und wenn ja – was wäre der Forderung nach einer Ökodiktatur entgegenzusetzen? 

Beginnen wir mit der ersten Frage: Sind wir bereits auf dem Weg in die Ökodiktatur? Diese Frage würde ich mit Nein beantworten. Wir können die Aktivitäten der heutigen Klimabewegung und ihrer parlamentarischen und regierungsamtlichen Fürsprecher nicht als bereits in Entfaltung begriffene Öko-Diktatur disqualifizieren. Dafür nämlich ist die real existierende Umweltpolitik viel zu inkonsistent, die Akteursgruppen viel zu fragmentiert; teilweise widersprechen die Akteure sich gegenseitig, obwohl sie sich im Konsens über das Ziel des Klimaschutzes befinden. So wird der Auftrag der Kohlekommission von Kritikern einerseits als Fortsetzung des Energiewende-Messianismus der Atomausstiegsperiode kritisiert (so auch von mir), andererseits als Sieg der Kohlelobby attackiert (so von Seiten radikaler Klimaschutz-Aktivisten). Die Bundesregierung macht brachiale Atomausstiegs- und wahrnehmbare Kohleausstiegs-Politik, klammert sich aber in Person ihres Verkehrsministers gleichzeitig an jeden Strohhalm, um Diesel-Fahrverbote wider gerichtliche Beschlüsse und europäische Grenzwertfestlegungen zu verhindern. Tempolimit-Befürworter führen plausible wissenschaftliche Argumente für ihre Position an, verhalten sich also gar nicht diktatorisch, sondern einfach nur rational, während die Gegner des Tempolimits im Namen höherer Interessen – der Freiheit an sich – zu sprechen vorgeben; beide Auffassungen sind in der Regierung vertreten.

Die zweite Frage lautet: Sind Denkstile und Argumentationsgänge der Klima-Bewegung dazu geeignet, eine Öko-Diktatur zu etablieren? Diese Frage ist nicht ohne weiteres mit Nein zu beantworten, denn tatsächlich ähneln die Argumentationsmuster der Klimaaktivisten in vielem den Denkstrukturen historischer revolutionärer Bewegungen, welche sich nach erfolgreicher Machtübernahme zu Diktaturen entwickelten.

Greta Thunberg, die Autoren des „Freitag“ und die Ende-Gelände-Bewegung eint ihre Situationsbeschreibung: Alle pflegen sie ein apokalyptisch-aktionistisch-revolutionäres Krisendenken, das keine Alternativen und auch keine Nachdenk- und Atempausen zulässt. Und alle eint die Vorstellung einer ökologischen Utopie – oder eher Eschatologie: die kommende Welt, die energetische Heilszeit sei nahe. Wenn wir jetzt Revolution machen. Diese Merkmale, die vermeintliche Alternativlosigkeit, das Endzeit-Denken und der revolutionäre Voluntarismus rechtfertigen auch die Missachtung demokratisch-parlamentarischer Prozesse – wenn es der Sache dient.

Häufig rutschen freiheitliche Gesellschaften in Diktaturen ab, wenn diktatorische Maßnahmen eine diffuse Teilzustimmung innerhalb von Gruppen erlangen, die sich eigentlich als freiheitsliebend verstehen. Was vorher undenkbar oder unanständig schien, scheint plötzlich plausibel: Wäre nicht ein wenig mehr Durchgreifen, ein bisschen mehr Autorität, ein bisschen frischer Wind gut fürs Gute? Wozu die lahmen und zahnlosen demokratischen Prozesse, das Gekläff der widerstreitenden Parteien, während die Welt zugrunde geht? Wie jede Diktatur, so wird auch die ökologistische Diktatur vorgeben, sie sei lediglich eine zeitweise Abhilfemaßnahme im Notstand; sobald dieser behoben sei, könne man zu sanfteren Verfahrensformen zurückkehren. Wie in jeder revolutionären Diktatur behauptet eine selbst ernannte Avantgarde – gern im Verbund mit idealistischer Jugend – sie handle in übergeordnetem Interesse. Und wie jede Diktatur, so formulieren unsere ökologistischen Aktivisten eine Feinderklärung und stellen fest, dass Späne fallen müssten, wo gehobelt werde.

Feinderklärung und Präventionismus

In diesem Fall geht die Feinderklärung mit dem in der europäischen Umweltpolitik etablierten Präventionsdenken eine Verbindung ein, die sich diktatorisch auswirken könnte. Ziel dieses Vorsorge-Ansatzes ist es bekanntlich, eine Technologie oder ein Verfahren auch ohne Vorliegen einer wissenschaftlich validierten Bewertung präventiv abzuschaffen oder gar nicht erst einzuführen, um einen hypothetischen Schaden von der Menschheit abzuwenden. Das endet zumeist in der Vorstellung, dass auch bereits vorhandene Technologien, Artefakte und Verfahren verschwinden sollten, um unsere Welt besser und sicherer zu machen. Übertragen gesprochen, sind das die Späne, die unter dem Hobel der Ökodiktatur fallen dürfen: überkommene Formen des Wohnens und der Mobilität, bisherige Formen der Energiewirtschaft und lieb gewordene Konsummuster.

Daraus ergibt sich eine weitere Parallele: wie in jeder historischen Diktatur, so wollen jene, die der kommenden Welt im Sinne der revolutionären Avantgarde im Wege stehen, und folglich Gefahr laufen, ihrer bisherigen Position beraubt oder gar eliminiert zu werden, die Situation lange nicht wahrhaben: So schlimm könne es doch nicht werden, meinte einst die deutsche Nuklearindustrie. Die Regierung werde es „so weit“ nicht kommen lassen, man würde sicher in einer Nische namens Laufzeitverlängerung sein Auskommen finden. Sie wurde 2011 eines besseren belehrt. Ein disruptives Ereignis reichte, und die Position der Bundesregierung  wurde vom Aktionismus der Anti-Atom-Bewegung mitgerissen. Was dann kam, war das Einknicken der bürgerlichen Vernunft und des reformistischen Gefahrenabwehr-Gedankens vor dem revolutionären Elan des Präventionismus – in der Hoffnung, so endlich einen lange schwelenden Gesellschaftskonflikt beilegen zu können. Nur war der Konflikt gar nicht beigelegt. Die Kohlewirtschaft schwieg damals und dachte, davongekommen zu sein. Jetzt geht es ihr nach demselben Schema an den Kragen. 

Beide Akteure missachteten eine historische Lehre: wenn Dir ein Aktivist mit revolutionärem Ehrgeiz, der nach der Revolution das Zeug zum Minister oder gar Diktator hat, deine Vernichtung androht, solltest du diese Ansage ernst nehmen. In diesem Falle hätte man die Energiewende-Literatur seit ihren frühesten Anfängen ernst nehmen sollen. Deren Ansage lautete nämlich bereits in den 1980ern: Deutschland ohne Kohle, Öl und Uran. Doch man verspottete die „Öko-Spinner“.

Was wäre, wenn? 

Was, wenn wir die Dinge einmal zu Ende denken, das heißt postulieren, dass sich Klima-Radikale und „Freitag“-Szenario politisch durchsetzen? Eine Ökodiktatur, auch das hat sie mit historischen Vorbildern gemein, würde sich auf die Unausweichlichkeit der schmerzhaften, aber letztlich moralisch guten Maßnahme berufen. Leider definieren jedoch in Diktaturen die jeweiligen Machthaber, was (und wer) jeweils gut und was und wer überflüssig ist; und meist muss die hohe Idee herhalten, um das Wegschaffen des oder der Unerwünschten zu rechtfertigen. Selbst wenn wir optimistisch sind und davon ausgehen, dass die  Öko-Diktatoren der Zukunft mit dem humanistischen Vorsatz antreten, keine Attacken gegen einzelne Menschen zu führen, so kann doch konstatiert werden: eine Ökodiktatur hätte eine weitreichende Einschränkung von Menschenrechten zur Folge: in diesem Falle des Rechts auf Freizügigkeit, individuelle Entfaltung und Privatsphäre. Warum ist das zu erwarten?

Nehmen wir als Beispiel die Energiepolitik, welche dem „Freitag“ und den meisten Klima-Aktivisten vorschwebt. Sie zeichnet sich nämlich durch einen gleich doppelten Rigorismus aus: einerseits halten diese Aktivisten die in nächster Zukunft eintretende Klimakatastrophe, die in Wirklichkeit nur eines von mehreren Szenarien des Weltklimarats ist, für gegeben – was ungeheuren Entscheidungsdruck aufbaut und dem Ausnahmezustands-Denken Vorschub leistet. Zweitens sind sie angesichts dieses Entscheidungsdrucks jedoch sehr selektiv und rigoristisch in den Mitteln und Methoden zur Reduzierung des Kohlendioxids im Elektrizitätssektor, der mit 25 Prozent der größte Einzelbeiträger zur Treibhausgasproduktion ist. Denn als Mittel zur Abhilfe will man keinesfalls „alle Mann an Deck“. Man will nur Erneuerbare Energien zulassen, was das momentan verfügbare effizienteste Instrument zur CO2-Reduzierung von vornherein ausschließt: die Kernenergie. 

Die Große Transformation

Damit legt man dem Projekt CO2-Ausstoß-Reduzierung aber gleichzeitig eine Zwangsjacke an, aus der sie nur um den Preis der Abschaffung der heutigen Industriegesellschaft wieder herauskäme. Natürlich ist eine Energiewende hin zu 100 Prozent Erneuerbaren prinzipiell möglich: wie der Verfechter des sogenannten „Simpler Way“, Ted Trainer, formuliert, bedarf  es dazu einer radikalen Relokalisierung der Wertschöpfung, eines Verzichts auf Fernmobilität, und einer Umstellung auf (angeblich) weniger „entfremdete Arbeit“, der Rückkehr zum Dorfgemeinschafts- oder Familienbetrieb. Die Apologeten des Green Growth, so Trainer, erlägen einem Selbstbetrug: eine kapitalistische Wachstums- und Industriegesellschaft sei mit 100 Prozent Erneuerbaren nicht zu haben und folglich auch nicht grün. In einem Aspekt stimme ich ihm zu: die Erneuerbaren stoßen bei der Bewältigung einer solchen Aufgabe nach heutigem wissenschaftlichen Ermessen an ihre physikalisch-technischen Grenzen. Die benötigten Stromspeichertechnologien sind hierzulande entweder ausgereizt (wie Pumpspeicher) oder noch gar nicht im industriellen Maßstab verfügbar (wie Power-to-Gas), und wenn sie es sein werden, steht zu erwarten, dass wir dafür einen exorbitanten Preis zahlen werden.

Es steht also zu befürchten, dass sich dann eben die Menschen an die von ihrer Regierung gewählten unzureichenden technischen Mittel, in diesem Fall eine Energiewandlung niedriger Dichte anzupassen haben, ähnlich der unserer Vorfahren. Das kann sich auf Stromsperren oder Formen von Zuteilungswirtschaft beschränken; doch wenn es nach Trainer und vielen Grünen ginge, dann führte uns das geradewegs in eine reaktionäre, anti-okzidentale Öko-Utopie, welche die Menschen in einen „Einklang“ mit der Natur zurückzwingen möchte, weg vom „kompetitiven, besitzergreifenden Individualismus“. Auch eine Publikation der grünen Heinrich-Böll-Stiftung kommt zu einem ähnlichen Schluss: die „Energierevolution“ sei nur dann möglich, wenn die westliche Welt sich von der Vorstellung verabschiede, die üblichen marktwirtschaftlichen Regulierungen, z.B. die Bepreisung von Emissionsrechten, reichten zur Erreichung von Klimazielen aus (Sean Sweeney, Another Energy is Possible, Heinrich Böll Stiftung 2018, Vol. 44.2 of the Publication Series Ecology, 8-9). Vielmehr sei eine radikale Abkehr von der Profitorientierung und vom konsumorientierten Lebensstil vonnöten.

Dies wiederum lässt die Vermutung zu, dass es den Klima-Aktivisten in Wirklichkeit nicht um das pragmatische Erreichen von Klimazielen geht, sondern um einen weit darüber hinausgehenden Heilsplan: die radikale Überwindung der kapitalistischen Industriegesellschaft, die von „ruchlosem Konsumieren“ (Sweeney 2018, 9) gekennzeichnet sei. Häufig wird dieses Vorhaben als „Große Transformation“ bezeichnet. Diese Wortwahl bemüht auch der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU), dem der Klimaforscher und -aktivist Hans Joachim Schellnhuber vorsaß, in seinem 2011 veröffentlichten Hauptgutachten. Auch der WBGU lehnt übrigens Kernenergienutzung als Klimaschutzstrategie unter Verweis auf Entsorgungsproblematik und Unfallrisiko ab, und bezeichnet zwei kerntechnische Großunfälle, die null bzw. ein Todesopfer forderten, Three Mile Island und Fukushima, als „Katastrophen“ (S. 125). Das lässt einige Schlüsse über den Hang zum Präventionismus zu, der solchen Denkweisen eigen ist: wer einen im Vergleich allenfalls mittleren Industrieunfall als Weltkatastrophe wahrnimmt, der muss natürlich die Industrie, welche solche Anlagen hervorbrachte, vorsorglich verbieten.

Der WBGU spricht von der „Großen Transformation“ einerseits als Tatsachenfeststellung und meint einen ko-evolutiven wissenschaftlich-technischen und sozialen Umbruch, der in seiner Reichweite allenfalls der Neolithischen und der Industriellen Revolution vergleichbar sei (S. 87-89). Andererseits stellten die Sachverständigen fest, dass diese Transformation nicht einfach geschehe, sondern geschehen müsse – als wertebasierte, wünschenswerte und zu fördernde Veränderung.

Was steckt hinter dem Wertewandel?

Ab Seite 71 geht es in diesem Gutachten folglich um den „Wertewandel“: sehr optimistisch nahm der WBGU im Jahr 2011 an, die Umorientierung der Menschen hin zu postmaterialistischen Werten sei in den Industriegesellschaften bereits im vollen Gange. Die meisten Menschen in Deutschland wollten heutzutage eine „neue Wirtschaftsordnung“. Weltweit gebe es einen eindeutigen Trend zu postmaterialistischen Werthaltungen, zu deren Indikatoren neben der Wertschätzung von „Toleranz“ vor allem die „Sorge um die natürliche Umwelt“ und die Präferenz für „Nachhaltigkeit“ sowie die „Ausbreitung von Selbstentfaltungswerten“ gehörten (S. 75). Entsprechend ist die in Umfragen erhobene Akzeptanz von als „sanft“ wahrgenommenen, aber unzuverlässigen und wenig dichten Energietechnologien wie Wind und Solar beeindruckend hoch, die von effizienten und energiedichten Technologien wie Kohle und Kernenergie niedrig (S. 78). Diese Haltungen bilden sich ungeachtet der Tatsache, dass die letztgenannten Formen den intermittierend einspeisenden Erneuerbaren ihr Öko-Prestige sichern, indem sie deren Schwächen ausgleichen. Doch das ist den Stromkonsumenten nicht bewusst, oder sie leisten sich den Luxus des Nichtwissens als Voraussetzung ihrer Werthaltung. 

Diese kognitive Dissonanz betrifft im Grunde die gesamte Behauptung vom Wertewandel. Sie wird lediglich in einem Halbsatz des Gutachtens angesprochen: dass nämlich die genannten Werthaltungen und Energiepräferenzen in einer Epoche historisch einzigartigen, hierzulande und auch weltweit über immer breitere Bevölkerungsschichten verteilten Wohlstands und Energiereichtums entstanden. Der revolutionäre Postmaterialismus lebt von ökonomischen Voraussetzungen, die er selber nicht erschaffen kann. Wenn man die in den vom WGBU herangezogenen Umfragen am höchsten rangierenden „postmaterialistischen“ Werte der Deutschen genauer betrachtet – nämlich Gesundheit, intakte Familie und Selbstbestimmung (WBGU, 73) – sollte man sie auch einmal auf ihr Verwirklichungspotenzial in einer radikal relokalisierten 100 Prozent-Erneuerbaren-Ökonomie hin befragen. In der Energiewende-Gesellschaft des „Simpler Way“ würden sie wohl nicht mehr erreicht werden können: weder ist dann die heute als Standard geltende zentralisierte Hochleistungsmedizin möglich, noch ein Entkommen aus einer nicht gut funktionierenden Familie, noch eine berufliche Selbstverwirklichung fern der angestammten Heimat, noch selbstbestimmter Stromkonsum zur Erreichung individuellen Komforts, noch individuelle Fernmobilität. Dahingestellt lasse ich, wie sich die in den Umfragen ermittelte Wertschätzung der „Umwelt“ in einer Gesellschaft entfalten wird, welche ihre Umwelt (sei es Kulturlandschaft, sei es ehemalige Wildnis) extensiv mit Windparks, Solarfarmen und Biomasse-Monokulturen überzieht.

Riskieren wir den Öko-Bürgerkrieg?

Wir können also festhalten: Die meisten Klima-Aktivisten, aber auch etablierte Wissenschaftler mit Klima-Agenda befürworten eine tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft und akzeptieren, ja fordern zu diesen Zweck Eingriffe in die individuelle Selbstbestimmung. Sie rechtfertigen das mit einer Wertorientierung, die ohnehin im Gange sei. Doch erodiert die ökonomische Grundlage für anspruchsvolle Werte, dann lauert die Gefahr, dass eine einmal für gut erkannte Wertorientierung nicht mehr im demokratischen Konsens in Entscheidungen umgesetzt wird, sondern dass die Entscheider versuchen werden, die Werthaltung und das gewünschte Verhalten des Volkes durch Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahmen zu erzwingen. Das kann den Stromkonsum betreffen oder das Reisen, den Hausbau oder die schulische Erziehung.

 An diesem Punkt angekommen, erinnern wir uns an ein historisches Transformationsprojekt mit ähnlich globalem Anspruch und ähnlichem Heilsversprechen, den  Kommunismus, der zwar nicht den Neuen Menschen schuf, sondern stattdessen Millionen von Menschen unter die Erde beförderte, die nicht neu werden wollten oder konnten, und weitere Millionen in ihrer Selbstentfaltung einschränkte. Und obwohl auch die „entwickelten Sozialismen“, nachdem sie den Schrecken des Stalinismus überwunden hatten, die Lager öffneten und seit den 1960er Jahren ihr eigenes kleines Konsumwunder erlebten, verkamen ihre ursprünglichen Werte zu Phrasen, die zu dreschen man den Menschen in Schule, Amt, Betrieb und Militär einbleute. 

Unschwer können wir vor dem Hintergrund der neueren innenpolitischen Umwälzungen in Deutschland, den USA oder Frankreich eine Prognose wagen: Erstens gibt es ansehnliche Segmente in unseren westlichen Gesellschaften, die sich den ökologischen Agenden verschließen, weil ihnen ein anderer Weg zu den individuellen Werten Glück und Gesundheit vorschwebt. Zweitens gilt: Wer einen grundlegenden Werte- und Lebensstilwandel unter sich verdüsternden ökonomischen Bedingungen durchsetzen will, wird auf Widerstand treffen. Schlingern wir also demnächst in einen Öko-Bürgerkrieg, in dem postmaterialistische Klimakämpfer und materialistische Gelbwesten einander hasserfüllt gegenüberstehen, in der Mitte eine schwache Regierung, die mal der einen, mal der anderen Seite Zugeständnisse macht, während im Hintergrund autoritäre Akteure wie Trump und Putin die Konfrontationen anheizen? Der Schaum vorm Mund, mit dem gegenwärtig die Diskussionen geführt werden, lässt nichts Gutes hoffen. Und die erratische Energie- und Umweltpolitik der Berliner großen Koalition inspiriert sich mal bei den Total-Ausstiegspolitiken der Ökodiktatur-Sympathisanten, mal lehnt sie sich an die Forderungen der automobilen Revanche an,, mal hofft sie auf Rettung von Gazprom. Sie müsste dringend zu einer klaren Linie zurückfinden. Aber welcher?

Die ökomodernistische Alternative 

Wir müssen uns mit einer solchen Situation nicht abfinden. Denn es gibt eine Alternative sowohl zur ökologischen Transformationsdiktatur als auch zum abgestandenen Freie-Fahrt-für-Freie-Bürger-Individualismus, die beide ihre Kollateralschäden ignorieren. Diese Alternative ist ein Denkstil, der unsere Epoche als, so würde ich in Anlehnung an den Soziologen Ulrich Beck formulieren, eine ökologisch reflexive Moderne versteht. In dieser Sichtweise ist die Natur weder das strafende und disziplinierende Über-Ich des modernen Menschen und auch kein anthropomorphes Gegenüber, das es zu retten oder zu schützen gilt. Natur ist vielmehr eine historisch wandelbare Rahmenbedingung unseres Handelns, von der wir uns jedoch infolge der Intensivierung unseres Wirtschaftens und unserer Energieversorgung zunehmend entkoppelt haben. Eigentlich, so die Schlussfolgerung, ist das eine gute Botschaft für die Wildnis auf der Erde:

„Tatsächlich haben frühere menschliche Gesellschaften mit weniger fortschrittlichen Technologien einen weitaus grösseren ökologischen Fussabdruck hinterlassen als die heutigen Gesellschaften…Jeder Versuch, die heutige Menschheit auf Basis solcher Technologien wieder mit der Natur zu vereinen, würde zu einem großen Desaster für Mensch und Natur führen.“

Das schreiben die Autoren des „Ökomodernen Manifests“. Folgen wir dieser Sichtweise, können wir Menschen es uns ab einer bestimmten Entwicklungsstufe der Industriegesellschaft schlicht wieder leisten, der Wildnis – oder, mit Blick auf unser eigenes Land, der Kulturlandschaft – Räume zu überlassen, diese entweder völlig in Ruhe zu lassen, oder sie in gewohnter Weise zu nutzen, und allein daraus Lebensqualität und Wohlbefinden  zu beziehen. Das ist kein Naturgesetz, sondern wie alles moderne Handeln rund um die Natur vor allem eine Werteentscheidung, die auf einem demokratischen Konsens, nicht einem Dekret beruhen darf. In diesem letztgenannten Punkt stimmen die Ökomodernisten mit den Sachverständigen des WBGU überein und erteilen der Ökodiktatur eine Absage.

Doch welche Handlungsoptionen bieten Ökomodernisten für das Problem des Klimawandels an? Vor allem einen energetischen Pragmatismus. „Die Geschichte früherer Energiewenden“, so konstatieren sie, habe gezeigt, dass „der Weg … immer über den Ersatz von minderwertigen, weniger dichten Brennstoffen zu hochwertigen, dichteren (ging).“ Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stehen Kernspaltung, später Kernfusion und Wasserstoff-Technologie, also nicht mehr der Kohlenwasserstoffe („Fossile“), sondern die schweren Elemente Uran und Thorium sowie Wasserstoff als Treibstoff der Zukunft. 

Kernenergie und Akzeptanzproblem

Nicht die Erneuerbaren, sondern die Nuklearenergie ist demnach der tatsächliche Thronfolger der fossilen Technologien, denn nur sie kann wiederum so viel Strom günstig und zuverlässig zur Verfügung stellen, um schließlich auch eine Wasserstoff-Revolution für den Wärme- und Mobilitätssektor zu erschwinglichen Preisen ins Werk zu setzen. Folgt man dieser Sichtweise, so können Wind- und Solarenergie oder Wasserkraft zwar in speziellen regionalen Anwendungen durchaus erfolgreich sein – aber sie können nicht die energetische Basis einer zukünftigen globalen Industriegesellschaft sein. In diesem Punkt widersprechen die Ökomodernisten dem WBGU und den meisten Klima-Aktivisten, die sich im nuklearen Präventionismus verfangen haben.

Eine politische Voraussetzung für den Übergang zu einer neuen energetischen Grundlage, die nicht fossil sein soll und nicht allein erneuerbar sein kann, wäre also, die Anreiz- und Förderstrukturen zu ändern: nicht mehr „erneuerbare“ Formen der Energieumwandlung sollten politisch gewollt und gefördert werden, sondern alle CO2-armen Formen, was die Kernenergienutzung wieder ins Spiel brächte. Der deutsche Atomausstieg müsste in einem solchen Szenario folgerichtig rückgängig gemacht werden. Aber auch anderen Akteuren, z.B. den US-Demokraten, die in ihrem „Green New Deal“ ebenfalls ausschließlich auf Erneuerbaren-Förderung à l‘allemande setzen, müsste der Unterschied zwischen „100 percent low carbon“ und „100 percent renewable“ erst noch aufgehen, wie auch die eigentlich atomkritische „Union of Concerned Scientists“ bemerkte.

Der Vorteil dieses Lösungsansatzes wäre, dass er die künftige Industriegesellschaft 4.0 mit ihrem wachsenden Energiehunger, aber auch ihren unendlichen Entfaltungspotenzialen geradezu als Voraussetzung ökologischen Handelns akzeptiert, statt sie in einer globalen Kraftanstrengung, die ohne einen vermutlich nie herstellbaren Konsens gar nicht zu haben wäre, abschaffen zu wollen.

Für Deutschland drängt sich jedoch die Frage auf, wie und ob nach den Erfahrungen einer nachhaltig toxischen Atom-Kontroverse mittel- und langfristig neue Akzeptanz für die Kernenergie geschaffen werden könnte. Akzeptanz entsteht, wenn die brennenden Fragen auf den Gebieten der  Reaktorsicherheit, der Proliferation und der Entsorgung gelöst werden können. Daraus folgt: Nur, wenn neue Reaktor- und Entsorgungskonzepte auf dem Tisch liegen, kann auch ohne Angstmobilisierung neu über Strahlung, Reaktorsicherheit und Atommüll gesprochen werden. Doch parallel müsste voraussichtlich eine Art Kulturkampf geführt werden. Gegenwärtig dominieren tiefsitzende, kulturell produzierte Annahmen von der exzeptionellen Andersartigkeit und Gefährlichkeit der Kerntechnik und der ionisierenden Strahlung den deutschen Diskurs; wenige stramm anti-nukleare mediale Akteure geben den Ton an. Diese Diskursmacht aufzubrechen, haben sich die Ökomodernisten ebenfalls auf die Fahnen geschrieben.

Doch auch wenn wir den optimistischsten Fall annehmen – eine ökomoderne Bewegung könnte sich etablieren, die Kernenergie würde zur CO2-freien Basis-Energietechnik erklärt, und es käme zur raschen Entwicklung inhärent sicherer und proliferationssicherer neuer Reaktorkonzepte – so würde sich für eine Übergangszeit überhaupt nicht vermeiden lassen, mit der zwar ausgereiften, aber sicherheitstechnisch und sicherheitskulturell sehr voraussetzungsvollen Technologie der gegenwärtigen Leichtwasserreaktoren weiter zu operieren. In diesem Falle wäre – durchaus in Anlehnung an die kapitalismuskritischen Diskurse der „Energiedemokratie“ – die Frage zu beantworten, ob ausgerechnet der shareholder-value-orientierte Stromkonzern (wie in den USA) oder der Staatskonzern unter Diktaturbedingungen (wie in China und Russland) der beste Rahmen für das sichere Betreiben von Kernkraftwerken ist, oder ob vielmehr neue, öffentlich-rechtliche Eigentums- und Managementmodelle, überdies auch neue Versicherungsmodelle für diese Technologie entwickelt werden müssten. 

All diese Fragen müssen in einer breiten gesellschaftlichen, wissenschaftlich begleiteten Diskussion thematisiert werden. Es muss erlaubt sein, über dieses Thema überhaupt wieder zu streiten, statt es von vornherein zur No-Go-Area zu erklären – oder, wie es hierzulande häufig geschieht, in die AfD-Ecke abzudrängen, was gleichbedeutend mit NoGo ist. Andernfalls laufen wir Gefahr, in eine energiepolitische Sackgasse zu geraten, in der nur mehr Zwang und Einschränkung zur Erreichung klimapolitischer Ziele eingesetzt werden können, weil die voreilig privilegierten technologischen Methoden versagen. Das wiederum wäre tatsächlich ein bedauerlicher und gefährlicher Schritt in Richtung einer Öko-Diktatur.

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