Zehntausende Serbinnen und Serben demonstrieren seit Wochen gegen ihre Regierung. Doch den Präsidenten interessiert es nicht. Auch, weil die EU ihn an der Spitze braucht.

Sie sind dagegen. Gegen die Regierung, gegen einen autoritären Präsidenten, gegen die Unterdrückung der Zivilgesellschaft, gegen die unfreien Medien, sie haben Musik dabei und sind laut, sie sind viele und der Schneesturm stört sie nicht, denn sie sind sauer. Endlich ist die serbische Bevölkerung aufgewacht. Doch was, wenn Zehntausende Menschen sich in der Straße versammeln, um friedlich zu demonstrieren und die (staatsnahen) Medien einfach so tun, als wenn es die Demonstrationen gar nicht gegeben hätte?

Denn genauso hat es sich in Belgrad zugetragen. Vor fünf Wochen gingen erstmals 15.000 Menschen auf die Straße. Ausschlaggebend war ein Zwischenfall in Krusevac bei dem der Oppositionspolitiker Borko Stefanovic von drei maskierten Männern brutal zusammengeprügelt worden war. Er erlitt dabei schwere Kopfverletzung und brach zusammen. Informanten vor Ort vermuten, die Regierungspartei der SNS solle die Schläger angeheuert haben. Präsident Aleksandar Vucic leugnet dies jedoch. Doch Fakt ist, dass die drei nach der Tat festgenommenen Verdächtigen schon längst wieder ohne Strafe auf freiem Fuß sind und nicht weiter nach möglichen Tätern gesucht wird.

Das in Blut getränkte Hemd des Oppositionspolitikers wurde jedoch über Nacht zum Symbol der ersten Demonstration, die „Stoppt blutige Hemden“ hieß. Als die Menschen am Samstag darauf erneut auf die Straßen gingen und zu einer Masse von rund 50.000 heranwuchsen, schickte der serbische Staatssender RTS eine 22-Jährige Reporterin dorthin, um von den Ereignissen zu berichten. Doch die Reporterin erschien erst, als sich die Demonstration bereits (nach mehreren Stunden Dauer) aufgelöst hatte. Sie fotografierte sich selbst in den leeren Straßen und berichtete, dass kaum Menschen anwesend gewesen sein sollen – entgegen aller Videos, die sich im Internet dazu finden lassen. Familienmitglieder, Freunde und befreundete Journalisten, die dort leben und an den Demonstrationen teilgenommen haben, berichteten mir persönlich auch anderes.

Aleksandar Vucic – der Alleinherrscher

Doch das ist nichts Neues in Serbien: Seitdem Vucic 2017 im Amt ist, wurden so gut wie alle Medien nach und nach verstaatlicht. Vucic bestimmt, was über ihn, das Land und seine Politik geschrieben wird. Er benutzt die Medien, um kritische Journalisten einzuschüchtern, Oppositionelle als Spione oder Verräter zu diffamieren, und Lügen zu verbreiten. Die Opposition in Serbien wurde faktisch mundtot gemacht. Vucic hat zudem klar gemacht, dass er auf keine der Forderungen der Menschen eingehen wird. „Nicht einmal wenn fünf Millionen auf die Straße gehen“ würde er etwas an seiner Politik ändern. Und das obwohl Serbien gerade einmal sieben Millionen Einwohner hat. Seit dieser Aussage des Präsidenten nennt sich die Protestbewegung „Eine(r) von fünf Millionen“.

Aleksandar Vucic kontrolliert nicht nur die Medien, sondern auch die Polizei, die Justiz und das gesamte Parlament. Er ist sich seiner Sache sicher und sieht keinerlei Bedarf, auf die Forderungen der Demonstranten oder auf die der Oppositionellen einzugehen. Auch den Mord an Oliver Ivanovic, einem kosovarisch-serbischen Oppositionspolitiker, der die Kosovo-Politik Vucics stark kritisierte, lässt er seit einem Jahr unaufgeklärt. Genauso auch den Mordversuch an Milan Jovanovic, einem freien Journalisten, der sich auch gegen die Regierung aussprach.

Die Protestbewegung gegen die Regierung fordert nicht nur, dass die Staatsmedien fünf Minuten ihrer Sendezeit täglich dafür aufwenden, über oppositionelle Meinung zu berichten – denn dies geschieht bisher gar nicht – sondern auch die Entlassung des Innenministers. Dieser soll nach Angaben von Informanten maßgeblich daran beteiligt sein, Geldwäsche in allen Sphären zu betreiben und Steuergelder zu veruntreuen. Vor allem wollen sie jedoch, dass die Regierung aufhört, das Volk für dumm zu verkaufen.

Vor 15 Jahren erhielten sechs Balkanländer mit dem „Versprechen von Thessaloniki“ die Perspektive für einen zügigen EU-Beitritt. Darunter war auch Serbien. Doch wie kann die Europäische Union ein solches Land überhaupt aufnehmen wollen? Ein Land, in dem Journalisten nicht frei sind, wo keine freie Meinungsäußerung existiert, wo Oppositionelle umgebracht oder mundtot gemacht werden, wo die Justiz nicht frei ist und die Polizei eine Marionette des Präsidenten, ein Land, das weit entfernt von einer funktionierenden Demokratie ist. Es scheint, als gäbe es nur einen Grund, weshalb die EU die Füße still hält, wenn es um Probleme in Serbien geht, und stattdessen an dem Assoziierungsabkommen festhält: den Kosovo. Aleksandar Vucic hat – klugerweise – der EU versprochen, das Kosovo-Problem zu lösen und den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen. Was er jedoch immer dann zurücknimmt, wenn dieser gerade etwas tut, was ihm nicht passt, wie kürzlich die Idee, eine eigene Armee aufzubauen. Doch er hat versprochen, sich um eine friedliche Lösung zu kümmern und es scheint, als habe die EU vor allem eines: Angst davor, dass es auf dem Balkan zwischen dem Kosovo und Serbien erneut brennen könnte.

Niemand glaubt mehr an die EU

An einen baldigen EU-Beitritt glauben die jungen Serbinnen und Serben jedoch schon lange nicht mehr. Jedes Jahr verlassen Zehntausende junge und gut ausgebildete Menschen das Land gen Westen. Mittlerweile soll die Anzahl derer, die ihrer Heimat für eine bessere Zukunft den Rücken gekehrt haben, auf eine sechsstellige Zahl angewachsen sein. Wer bleibt, sind besonders alte Menschen. Der demographische Wandel ist aufgrund der Abwanderungsbewegungen junger Menschen in kaum einem anderen europäischen Land so drastisch wie in Serbien. Ganz zu schweigen vom sogenannten „Brain Drain“ bei dem besonders die klugen Köpfe des Landes ihr Glück woanders suchen. Auch deshalb scheint die Lage zeitweise aussichtslos, denn die Alten bestimmen auch dort die Politik und sind (leider) anfällig für die Propaganda Vucics. Somit könnten auch mögliche Neuwahlen zu keiner nennenswerten Veränderung führen.

Doch eines haben die Initiatoren der Demonstrationen geschafft: Die Bevölkerung Serbiens ist aufgewacht und ist nun bereit, für ihre Rechte zu kämpfen. Für mehr Demokratie, mehr Transparenz, für ein würdevolles Leben und eine freie Presse. Ich kenne die Menschen vom Balkan. Sie haben einen langen Atem und können richtig nerven. Gut so.