Nach einem Hacker-Angriff auf seine privaten Daten und einem missglückten Wahlkampf-Tweet, der ihm einen Shitstorm einbrachte, sagt der Grünen-Vorsitzende den sozialen Netzwerken „Bye-bye“. Nicht ohne lautstarke Ankündigung in den sozialen Netzwerken natürlich. Sein Ausstieg ist symptomatisch für die Mischung aus Naivität und Vermeidungshaltung, mit der unsere politischen Eliten, insbesondere die technikkritischen Grünen, technologischen Herausforderungen begegnen.

Wir wissen es nicht erst seit gestern – die sozialen Netzwerke sind nichts für zart Besaitete, sobald man das Reich der Katzenbilder und Kochrezepte verlässt und das Lied garstig und politisch wird. Dies gilt in besonderem Maße für Polit-Prominenz und andere Personen des öffentlichen Lebens. Nicht, dass früher nicht gepöbelt und gemobbt wurde und ganze Landstriche unter das Anathema wortgewaltiger Wahlkämpfer fielen. Die Älteren unter uns erinnern sich inzwischen mit einem nostalgischen Grinsen der Herren Strauß und Wehner, der Ratten, Schmeißfliegen und des „Herrn Lüg“.

Doch was sich geändert hat, ist die Rolle des Faktors Zeit – und die radikale Auflösung herkömmlicher Publikations- und Informationshierarchien. Gnadenlos wird jeder Schritt und Fehltritt in Echtzeit zerpflückt, ob man nun die Zähne in vergoldete Steaks schlägt oder Thüringen die Demokratie bringen … sorry, Thüringen noch schöner, grüner und demokratischer machen will.

Und potenziell jeder Bürger kann mit erstaunlicher Reichweite kommentieren, selber bloggen oder nach Herzenslust mitlästern, bis ihn Facebook sperrt. Die offene Netzgesellschaft hat auch ihre eigenen Feinde hervorgebracht – aber sie hat ohne Zweifel jene Privilegien geschleift, die früher nur Politiker und ausgewählte Journalisten genossen.

Kommunikations-Störfälle

Selbst Kommunikations-Profis mit hohem Beliebtheitsfaktor wie der Grüne Robert Habeck erweisen sich auf diesem Feld als hoch verwundbar, gerade weil sie beliebte Kommunikatoren sind. Habecks gewohnte Art zu kommunizieren wird im Netz nicht belohnt, was ihn in einigen wenigen Fällen dazu verleitete, sein eigenes Feld zu verlassen und sich in der Kunst der Web-Polemik zu versuchen. Was vor allem deswegen prompt nach hinten losging, weil er vorher für hohe moralische Standards in der politischen Kommunikation gestritten hatte. Auch die in den USA eis-schleckenden und Berge besteigenden Grünen-Politiker Katharina Schulze und Cem Özdemir wurden dieser Tage belehrt, dass die mediale Inszenierung des privaten Übersee-Urlaubs nicht so gut ankommt, wenn man als politischer Mensch eine Partei anführt, welche die radikale Dekarbonisierung der Tourismusindustrie fordert.

Solche Kommunikations-Störfälle entspringen dem unbedingten Willen der Grünen, ihr Image als moralinsaure Verbotspartei zu überwinden und sich als junge Wohlfühlpartei zu präsentieren. Das läuft seit geraumer Zeit erstaunlich gut – musste aber früher oder später mit den politischen Kernbotschaften der Grünen kollidieren. Und das aufmerksame, gemeine, schadenfrohe Volk merkt sich sowas.

Das gleiche Dilemma trifft auf Habecks strubbelköpfige Selbstvermarktung als sympathischer Zuhörpolitiker von nebenan zu. Zyniker und Politprofis wissen natürlich, dass hinter solchen Rollenbildern immer auch ein knallharter Karriereplan steckt. Daran ist nichts Verwerfliches: wer gestalten will, braucht dafür politische Macht, und die fliegt einem nicht zu, weil man ein netter Kerl ist. Doch erst unter dem Schock der kriminellen Ausschüttung alles Privaten auf dem Netz-Marktplatz bricht der Mythos der Vereinbarkeit von zoon politikon mit Kanzler-Ambitionen und beschaulichem Privatleben in sich zusammen. Also tut Habeck, was Grüne unter dem Eindruck von technischen Schadensereignissen meistens tun: er bläst zum Ausstieg. Und das ist bereits sein nächster Fehler.

Geteilte Handlungsträgerschaft

Der Berliner Technikhistoriker Werner Rammert hat mit Blick auf selbstlernende informationstechnische Systeme den Begriff der „geteilten Handlungsträgerschaft“ von Menschen und Maschinen geprägt. Unsere digitale Kommunikation ist ein solches System geteilter Handlungsträgerschaft. Sie wird als dynamisches soziotechnisches System von einzelnen Menschen, Maschinen, Institutionen, informationstechnischen Arbeitsanweisungen und außertechnischen Normen und Werten tagtäglich aufs Neue hergestellt. Wir sollten unsere herkömmlichen Vorstellungen menschlichen autonomen politischen Handelns und Sprechens im Netz schleunigst beiseiteschieben, wenn wir verstehen und steuern wollen, was die Maschinerie der digitalen Kommunikation mit uns macht. Denn unser dortiges Handeln wird von uns selbst erst im Verbund mit Maschinen und ihren Arbeitsanweisungen hervorgebracht.

Das produziert Eigendynamiken, welche weit über das Menschlich-Allzumenschliche hinausgehen. Tatsache ist, dass kommunizierende Menschen nun mal gerne lästern und tratschen und so die Dynamik von Gerüchten anfachen. Die spezifische Eigendynamik der Internetkommunikation geht jedoch darüber hinaus und hat auch mit ihrer kapitalistischen Organisationsform zu tun. Sensation und Konfrontation, polemischer Sprachwitz und schiere Frechheit bringen mehr Traffic (d.h. Datenausbeute und potenzielle Werbeeinnahmen) als das wohlbedachte und -gewählte Wort. Wer ein System kostenfrei nutzen kann, muss davon ausgehen, dass seine Daten die Ware sind, die dort zu Geld gemacht wird: „Du bist das Produkt“, wie es John Lanchester in seinem Essay über Facebook formulierte. Algorithmen entscheiden dort über die Vernetzungsgeschwindigkeit von Wut-Kollektiven wie der
Gelbwesten-Bewegung in Frankreich. Und Daten sind schlecht gesichert, weil ihre Besitzer immer noch damit kokettieren, von der Technik keine Ahnung zu haben und keine haben zu wollen – oder meinen, „nichts zu verbergen“ zu haben.

Die Grünen und der Ausstiegs-Affekt

Robert Habeck steigt aus den sozialen Netzwerken aus und liefert auch eine Begründung dafür: die Kommunikation dort entspräche nicht seiner Vorstellung vom Kommunizieren. Darin gebe ich ihm Recht. Dann aber ergänzt Habeck: Der Kommunikationsmodus in den Netzwerken, insbesondere bei Twitter, habe ihn „desorientiert“ und auf ihn „abgefärbt“, was ihn aggressiver und polemischer gemacht habe, als er eigentlich sein wolle. Habeck schiebt hier die Verantwortung auf die berühmten „falschen Freunde“, in deren schlechte Gesellschaft er geraten sei.

Allein gilt auch bei Maschinenfreunden: die Verantwortung für die eigene Schreibe liegt allein beim Autor, und ein Politprofi sollte vor jeder Aussage prüfen, ob er auch in zwei Tagen, zwei Wochen und zwei Jahren seine Worte wird verantworten können. Habeck gibt offen zu, dass ihm dies nicht immer gelungen ist – das ehrt ihn. Aber ist ein Ausstieg auch ein Ausweg aus der Misere?

„Ausstieg“ ist die Instinkt- und Affekt-Antwort der Grünen auf die Krisen soziotechnischer Systeme. Sie wird im wesentlichen von zwei Faktoren hervorgebracht, einem kognitiven und einem normativen. Auf der kognitiven Ebene verweigern sich viele Grüne einer fragend-neugierigen Exploration jener technischen Systeme, welche sie aus Haltungsgründen ablehnen. Das schlagendste Beispiel ist wohl die Kernenergie: in meiner Atomgegnerinnen-Jugend traf ich immer wieder auf Aktivisten, die mir und meinem Bemühen um das kritische Verstehen der Kerntechnik entgegneten, sie müssten gar nicht wissen, wie diese Kisten funktionierten, um zu wissen, dass sie gefährlich seien und  abgeschafft gehörten.

Die sicherheitstechnische Isolation der Kernkraftwerke von ihrer Außenwelt und die lausige Öffentlichkeitsarbeit ihrer Betreiber standen in einer paradoxen Koalition mit dem unbedingten Willen der Kernkraftgegner, gar nicht so genau wissen zu müssen, was im Inneren dieser Anlagen vor sich ging – so konnte man den Mythos von der störfallgeplagten, immer am Rande der Katastrophe stehenden deutschen Atomindustrie weit besser aufrechterhalten als mit verfeinerter Kenntnisnahme ihrer wirklichen Zustände.

Zwar entwickelte die deutsche Umweltbewegung im Laufe der Zeit ein schlagkräftiges und institutionalisiertes Arsenal an Gegen-Expertise, das mit Sachverständigen und Gutachten genauso operierte wie Staat und Industrie. Gleichwohl blieb an der Basis und bei den politischen Multiplikatoren das tiefe Misstrauen und Nichtwissenwollen gegenüber der „Großtechnik“ erhalten.

Der zweite Faktor ist ein normativer: es ist das Präventionsprinzip in der Umwelt- und Technologiepolitik, an dessen Verankerung in der politischen Sphäre grüner Aktivismus ganz wesentlich beteiligt war. Er ist weit wirkmächtiger als die bloße kognitive Verweigerung, weil hier mit Blick auf potenzielle, auch wissenschaftlich nicht hinreichend belegbare Risiken der Ausstieg aus einer bestehenden Technologie oder die Nicht-Entwicklung einer Zukunftstechnologie gerechtfertigt wird. Zwar konnte dieses Prinzip in der realen Welt der politischen Koalitionen und Kompromisse nie in Reinform durchgesetzt werden, doch leitet es nach wie vor jedes grüne Nachdenken über soziotechnische Systeme. In seiner letzten Konsequenz bedeutet dieses Prinzip: Bei Ungewissheit – die nicht zu verwechseln ist mit tatsächlicher technischer Unsicherheit – Ausstieg.

Gleichwohl leidet auch das grüne Präventionsdenken an beträchtlichen inneren Widersprüchen, sobald es pragmatisch einem anderen politischen Programm untergeordnet wird. Erstaunlicherweise setzten grüne Spitzenpolitiker in der Klima- und Energiepolitik naiv und gutgläubig auf die Segnungen von „intelligenten“ Stromnetzen und digitaler Verbrauchssteuerung. Was sie in anderen Fällen radikal ablehnen – den Big Data-Brother und die technisch ins Werk gesetzte Unterwerfung des Individuums und seines Konsums unter die Knute der Maschine – das soll in der digitalen Energiewende Wirklichkeit werden. Von den Risiken der Cyberkriminalität gegen smarte, aber sensible regenerative Elektrizitäts-Infrastrukturen schweigt man vornehm. Doch die Kernkraftwerke der 1980er-Baureihen, die sowohl über eine traditionelle, hack-sichere festverdrahtete Reaktorschutz-Leittechnik verfügen als auch über eine smarte, digitale, flexible, lastfolgefähige Reaktorleistungsregelung, verspottet man als Dinosaurier. „Desorientierung“ allenthalben.

Was ist zu tun?

Robert Habeck steigt also aus und wünscht in seinem Abschiedstext den Zurückbleibenden „interessante Einsichten“ – Einsichten, die er, wie er meint, bereits habe. Sicherlich wird er nun nicht das Verbot von Twitter fordern – aber vielleicht hofft er, sein Beispiel werde zum historischen Beginn einer Massen-Ausstiegsbewegung aus Facebook und Twitter? Doch Habecks Beispiel sollte besser keine Schule machen –  vielmehr sollten die Netzwerk-NutzerInnen sich aus ihrer häufig selbstverschuldeten Netz-Unmündigkeit befreien. Nun folgen ein paar Binsenweisheiten, die jedoch viel zu selten beachtet werden.

Netz-Mündigkeit beginnt mit der Wahl der Passwörter und einer technisch einwandfreien Sicherung sensibler Daten, und endet mit einer routinemäßigen Selbstkontrolle dessen, was man im Begriff ist zu twittern oder zu chatten. Würde ich das auch in der face-to-face-Öffentlichkeit, am Kneipentisch, zur Nachbarin so sagen? Lohnt es sich, jetzt zu schießen – oder sieht die Lage nach einmal drüber Schlafen schon wieder ganz anders aus? Ich habe als Co-Administratorin einer geschlossenen Facebook-Gruppe mit knapp 4000 Mitgliedern, aber auch als Gast in anderen Gruppen die Erfahrung gemacht, dass der in der Gruppe herrschende Ton ganz wesentlich vom Verhalten der „Leittiere“ beeinflusst wird, d.h. der Admins und der prominenten Gesprächs-Initiatoren. Pöbeln sie – macht sich das Recht des Stärkeren und des Maulhelden breit. Verhalten sie sich sachlich und rufen andere dazu auf – tun andere ihnen es nach, trauen sich auch die Stillen, ihre Stimme zu erheben.

Das bedeutet allerdings nicht, die internetbasierte Streitkultur zu ersticken, bevor sie entstehen kann, nur weil sie derzeit, in ihren Kinderschuhen, häufig wild und gemein ist. Wie gesagt bringen Kontroverse und Widerspruch mehr Klicks und Aufmerksamkeit, mehr Diskussion und mehr Erkenntnisfortschritt als Konsens und Katzenbild. Man sollte also seine Authentizität wahren und sich gleichzeitig ein dickes Fell zulegen. Wem die Polemik im Blut liegt, der soll polemisieren, muss aber auch den Shitstorm stoisch abreiten; wer zu den wägend Diskutierenden gehört, kann seinen Ton genauso setzen und allein  durchs Schwimmen gegen einen Meinungsstrom schon eine Kontroverse auslösen.

Auch dafür benötigt man eine gut ausgebaute Aggressionstoleranz, Humor, und ein möglichst stabiles nichtdigitales soziales Umfeld als Rückfallposition. Unterm Strich sollten alle, die über die Netzwerke politisch publizieren, das inhärente Risiko kennen: Schneeflocken werden schmelzen. Aber warm Angezogene werden nicht erfrieren. Wir sollten also nicht aussteigen, sondern standhalten, steuern und gestalten.