Marsch, Marsch – die Flugkörper sind schon da
Der Osten stellt neue Raketen auf, der Westen entdeckt eine Raketenlücke und beschließt die Nachrüstung, Friedensbewegte demonstrieren zu Hunderttausenden – das alles ist schon über 35 Jahre her. Jetzt moniert die NATO erneut eine Raketen-Aufrüstung – bahnt sich da etwa eine Wiederholung an?
Eine halbe Million Menschen überfluteten an einem warmen Sommertag im Juni 1982 die beschauliche Bundeshauptstadt Bonn. Von christlich bis kommunistisch vereinte sich der Volkswille und zelebrierte den Ökopax-Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss, der zweieinhalb Jahre vorher das abflauende „rote Jahrzehnt“ der 1970er-Jahre mit kräftigen Grünstrichen neu belebt hatte. Der als Falke verschriene US-Präsident Ronald Reagan brachte ab 1981 von links bis liberal viele wohlmeinende Friedensfreunde auf die Palme. Dieses Gemeinschaftserlebnis sollte eine Generation prägen, die noch heute als „alte Friedensbewegung“ die Rituale von damals exerziert und das lieb gewonnene Feindbild vom US-Imperialismus pflegt.
Die Sowjetunion hatte raketenmäßig in den 1970ern mit den mobilen SS-20-Mittelstreckenraketen für nukleare Sprengköpfe (sowjetische Bezeichnung: RSD-10) vorgelegt. Die Feststoffraketen konnten drei Sprengköpfe zu je 150 Kilotonnen Sprengkraft tragen (zum Vergleich: die Hiroshima-Bombe hatte 13 Kilotonnen) und flogen bis zu 5.400 Kilometer weit. Damit hätte von der UdSSR aus ganz Westeuropa erreicht werden können.
Der NATO-Doppelbeschluss kündigte zum einen die Aufstellung von Pershing II-Raketen und Tomahawk-Marschflugkörpern an, die gleichwertig mit den SS-20 sein sollten, zum anderen sollte mit diesem Druckmittel ein bilaterales Abkommen zur Begrenzung solcher Geschosse durchgesetzt werden.
SS-20 sowie Pershing II und Tomahawk wurden demontiert
Und das wurde tatsächlich erreicht: Unter dem neuen Sowjet-Chef Gorbatschow wurde im Dezember 1987, vor ziemlich genau 30 Jahren, zwischen den USA und der Sowjetunion das INF-Abkommen (Intermediate Nuclear Forces) vereinbart. Damit wurden sowohl SS-20 wie auch Pershing II und Tomahawk abgezogen und demontiert. Der Kalte Krieg war wenige Jahre später mit dem Zerfall der Sowjetunion vorbei; der INF-Vertrag blieb erhalten, mit der Russischen Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion.
Seither wurden auf beiden Seiten keine neuen Mittelstreckenwaffen stationiert. Nicht betroffen von dem Abkommen waren allerdings Kurzstreckenwaffen bis 500 Kilometer Reichweite. Dazu zählen auch die mobilen und nuklearfähigen russischen Iskander-Raketen, die nach der Annexion der Krim dort aufgestellt wurden. Und mittlerweile auch im Gebiet Kaliningrad, von wo sie innerhalb von fünf Minuten fast bis Stockholm, Kopenhagen oder Berlin fliegen können.
Solche neuen Stationierungen blieben von westlichen Politikern und „Friedensbewegungen“ jedoch bislang unbemerkt, oder besser: ignoriert. Stattdessen zürnte ein Außenminister Steinmeier über „Säbelrasseln“ wegen einiger NATO-Panzerfahrzeuge in den baltischen Staaten, PEGIDA-Aktivisten wünschten „Merkel nach Sibirien, Putin nach Berlin“, linke Friedenskämpfer wähnten Russland von 3.000 westlichen NATO-Soldaten in den baltischen Ländern und Polen „eingekreist“ – während Russland im Krieg gegen Ukraine bereits über 10.000 Todesopfer auf dem Gewissen hat.
Neue Auf- und Nachrüstungsrunde?
Jetzt könnte sich auf den ersten Blick ein Wunschtraum solcher „Friedensbewegter“ erfüllen, denn die USA haben ein neues russisches nuklearfähiges Mittelstrecken-Geschoss entdeckt, das wieder wie zu Zeiten der SS-20 ganz Europa bestreichen könnte: mobile landgestützte Marschflugkörper, die in kurzer Zeit verlegbar und schnell einsatzfähig sind. Da in Washington D.C. gerade auch ein Präsident Trump im Amt ist, der Ronald Reagan als Gottseibeiuns bei weitem in den Schatten stellt, könnte sich die German Angst vor irren Amerikanern mit dem Finger am atomaren Abzug in wiederbelebten Friedenstauben-Massenaufmärschen artikulieren.
Doch gemach: Die von amerikanischen Militärs zunächst als SSC-X-8 bezeichnete Cruise Missile (russische Bezeichnung: 9M729) ist keineswegs eine Erfindung der Trump-Administration, sondern steht schon spätestens seit 2013 im Visier der US-Militärs. Mit ihrer Reichweite und Bewaffnung wäre sie ein klarer Verstoß gegen den INF-Vertrag. Der Marschflugkörper soll eine landgestützte Version der bisher schon bekannten SS-N-30 sein (russische Bezeichnung: 3M-14 „Kalibr“), die durch den Abschuss von 26 Stück von Schiffen auf dem Kaspischen Meer auf Landziele in Syrien im Oktober 2015 Aufsehen erregten.
Bereits seit 2008 wird die Waffe getestet, heißt es. 2014 hatte die damalige Obama-Administration auf Tests dieser neuen Cruise Missile hingewiesen und hatte in der Folgezeit versucht, mit stiller Diplomatie die Indienststellung dieser vertragswidrigen Waffen zu verhindern. Das ist offenbar nicht gelungen. Im November 2016 riefen die USA – noch unter der Obama-Präsidentschaft – erstmals seit 13 Jahren wieder ein Treffen der Verifikations-Kommission für den INF-Vertrag in Genf zusammen. Russland bestritt dabei jeglichen Verstoß gegen den INF-Vertrag und beschuldigte im Gegenzug die Amerikaner wegen angeblicher Verstöße.
Im Februar 2017, als Trump gerade eben im Amt war, wurden sie bereits stationiert, wie die New York Times seinerzeit berichtete: „Administration officials said the Russians now have two battalions of the prohibited cruise missile. One is still located at Russia’s missile test site at Kapustin Yar in southern Russia near Volgograd. The other was shifted in December from that test site to an operational base elsewhere in the country, according to a senior official who did not provide further details and requested anonymity to discuss recent intelligence reports about the missile.“
Ahnungslose Europäer
Die europäischen Verbündeten der USA hatten bis vor Kurzem zwar schon mal davon gehört, aber waren offenbar skeptisch geblieben. Die amerikanischen Dienste hatten sich nämlich – wie in solchen Fällen durchaus üblich – verschlossen gezeigt und nur einen Teil ihrer Erkenntnisse weitergegeben. Auch in europäischen Medien fand die neuerdings SSC-8 genannte Waffe kaum Aufmerksamkeit (das „X“ für „experimental“ haben die US-Militärs mittlerweile nach der Stationierung der russischen Raketenbataillone fallen gelassen).
Doch Ende November deckten die Amerikaner gegenüber ihren NATO-Verbündeten die Karten auf. In der „Nuclear Planning Group“ trug US-Verteidigungsminister James Mattis vor, und seitdem sind die Verbündeten im Bilde. Am vergangenen Freitag veröffentlichte der Nordatlantikrat, das wichtigste Entscheidungsgremium der NATO mit ihren 29 Mitgliedsstaaten, eine Erklärung, in der Russland in zurückhaltenden Worten ermahnt wird, sich an den Vertrag zu halten und die gegenseitigen Überwachungsmechanismen zu ermöglichen: „Allies have identified a Russian missile system that raises serious concerns; NATO urges Russia to address these concerns in a substantial and transparent way, and actively engage in a technical dialogue with the United States.“
Diese freundliche Mahnung ist also noch ein gutes Stück entfernt von einem Schritt, der mit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 vergleichbar wäre. Die USA bereiten zunächst weitere Wirtschaftssanktionen gegen russische Firmen vor, die in die Entwicklung der SSC-8 verwickelt sind. Dabei dürfte es sich um das Konstruktionsbüro Novator in Jekaterinburg und um die Herstellerfirma Almas-Antey handeln, die im Westen als Produzent der „Buk“-Luftabwehrraketen bekannt ist, mit denen das malaysische Passagierflugzeug MH17 über der Ukraine abgeschossen wurde.
Schon wieder eine „neue Friedensbewegung“?
Die bisherigen Erfahrungen der letzten Jahre lassen eher daran zweifeln, dass Russland sich auch in Bezug auf den INF-Vertrag auf einen kooperativen Weg zurückbegibt. In dem Fall – wenn ein Bruch des INF-Vertrags durch Russland konstatiert werden müsste – würde eine Nachrüstung wahrscheinlicher und wohl auch nötig werden. Russland führt bereits zwei heiße Kriege. Zwei heiße Kriege, bei denen die Reaktionen des Westens vornehmlich auf wirtschaftliche Sanktionen beschränkt sind. Mit den neuen nuklearen Mittelstreckenwaffen bereitet es sich auf einen atomaren Krieg vor, der mit gezielten und begrenzten Schlägen führbar und gewinnbar wäre, weil ein Trump-geführtes Amerika vielleicht davor zurückschrecken würde, massiv zu reagieren. Ein solches Kalkül bedeutet in der Tat die höchste Kriegsgefahr in Europa.
Gegen die bereits erfolgte russische Mittelstreckenwaffen-Aufrüstung darf man in Deutschland – das davon direkt bedroht ist – so oder so keine Proteste erwarten. Die Marschflugkörper sind im Osten bereits da. Sollte aber eine Nachrüstung der NATO in Betracht gezogen werden, dann wäre sicher der Aufschrei der Empörung gewaltig. Würde das damit auch ein Revival der 1980er-Ökopax-Friedensbewegung ermöglichen? Würden Massendemonstrationen wie etwa zu Beginn des US-geführten Kriegs gegen Irak 2003 („Kein Blut für Öl“) die Straßen und Plätze beherrschen?
Eine Querfront macht noch keinen (Friedens-)Sommer
Das scheint zur Zeit eher unwahrscheinlich. Der bisherige Versuch, mit einer „Querfront“ unter dem Label „Friedenswinter“ die „alte Friedensbewegung“ mit verschwörungsgläubigen Rechten und PEGIDA-Kreisen zusammenzubringen, hatte keinen durchschlagenden Erfolg. Die Rolle Russlands als Aggressor in Ukraine und beim Zerbomben von Krankenhäusern und Schulen in Syrien macht es „traditionell“ Friedensbewegten schwerer, sich selbst und anderen den Kreml als Friedensmacht zu verkaufen, die dem amerikanischen Imperialismus widersteht.
So bleiben aktuell erst einmal querfrontige Fans von Ken Jebsen, Jürgen Elsässer oder PEGIDA-Marschierer, die „Frieden mit Russland“ fordern, um einen gewähnten Dritten Weltkrieg zu verhindern. Die halbe Million von 1982 auf den Bonner Rheinwiesen war, wie man heute weiß, unter erheblicher organisatorischer und materieller Hilfe der DDR zustande gekommen, die es bekanntlich nicht mehr gibt. Man soll niemals nie sagen, aber bei allen Versuchen russischer propagandistischer Bemühungen der jüngeren Zeit scheint ein solcher politischer Erfolg zur Zeit eher unwahrscheinlich. Eine Art „Generalprobe“ mit „spontanen“ Aufläufen war mit dem „Fall Lisa“ ein Strohfeuer geblieben.
Und im deutschen Bundestag? Die geglückte Wahl der AfD als wichtigster politischer deutscher Putin-Sympathiekraft ist ein Faktor, mit dem zu rechnen ist. Die in Teilen ebenfalls Putin-freundliche „Die Linke“ zerfasert gerade zunehmend auch anhand einschlägiger Fragen des Verhältnisses zu „Aluhüten“. Entscheidend bleiben aber die anderen Parteien: Wenn es im Parlament irgendwann um eine eventuell nötige Mehrheit für eine Nachrüstung gehen sollte, müsste man über den linken und rechten Rand hinaus mit unsicheren Kantonisten aus den Reihen von SPD, Grünen und möglicherweise auch der FDP rechnen.
Gastautor Albrecht Kolthoff ist freier Journalist. Folgen kann man ihm im Netz unter anderem auf Twitter und Facebook.