Eine unheilige Allianz – was Benjamin Netanyahu, Premierminister des jüdischen Staates, an die Seite des antisemitischen Zündlers Viktor Orbán treibt.

Wir leben in sehr unsicheren Zeiten. Das ist nicht neu, eher schon eine Binse in Zeiten der europäischen Desintegration, des wachsenden Populismus, der illiberalen Demokratien. In Zeiten von FPÖ und AfD, in Zeiten von Trump und Orbán. Und: Benjamin Netanyahu.

Eine letzte „Bastion“ scheint gefallen. Bislang war stets klar, dass Israel, der Staat der Juden, Juden überall auf der Welt vor Antisemitismus schützt. Dass Jerusalem stets laut und aktiv Kritik äußert, wenn irgendwo auf der Welt eine Regierung die Juden des eigenen Landes drangsaliert, denunziert, gar: verfolgt. Israel war nicht nur eine Zuflucht für Juden, sondern auch der aktive Verteidiger der Sicherheit für Juden weltweit. Eine Art „Schutzmacht“, keine militärische, aber doch mit diplomatischen Mitteln, wenn es darum ging, Juden zu helfen, wenn sie in Gefahr gerieten. 

Das scheint inzwischen vorbei. Spätestens vergangenen Juli wurde das einmal mehr unter Beweis gestellt, als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán Israel und seinen Freund Benjamin „Bibi“ Netanyahu besuchte. Die beiden Männer sind Freunde, ja, mehr noch: „Brüder im Geiste“. Sie sehen die Welt ähnlich, sie denken ähnlich, sie wollen ähnliches. Orbán hat in seinem Staat längst eine „illiberale“ Demokratie geschaffen, Netanyahu arbeitet noch daran. 

Was sie vereint, ist ihr Denken. Sie lassen zwar demokratisch wählen, aber sie sind Gegner des liberalen Prinzips, dass eine Demokratie ihre Minderheiten zu schützen hat. Man will keine Minderheiten im eigenen Land und wenn, dann sollen sie bitte nichts zu sagen haben. Eine nationale, ethnisch definierte Mehrheit soll das Sagen haben. Sonst niemand. Man will keine Kritik und greift deshalb das Justizsystem und die Presse an. Man will vor allem keine Muslime, denn diese sind kulturelle und politische Feinde einer Tradition, die von rechten Populisten in Europa gerne die „judeo-christliche“ genannt wird. 

Muslime als gemeinsamer Feind

Natürlich hat es so eine Tradition nie gegeben. Christliche „Tradition“ war, Juden 2000 Jahre lang zu verfolgen. Alles, was jüdische Kultur war, wurde verbrannt, vernichtet, ermordet. Dieses neue Konstrukt der „judeo-christlichen Tradition“ soll eine Verbundenheit im Kampf gegen den gemeinsamen Feind symbolisieren, gegen die Muslime. Ja, schlimmer noch: die christliche Mehrheitsgesellschaft in illiberalen Demokratien, oder besser: deren populistische, rechtsnationale Kräfte, stellen sich damit selbst einen „Koscher-Stempel“ aus, um zu zeigen, dass man ja mit den Nazis nichts zu tun hat – und daher allerdings dann völlig „legitim“ gegen Muslime und andere agitieren darf. Wobei klar ist, dass Juden hier zum Spielball größerer Interessen werden. Und es darf natürlich nicht verwundern, dass in solchen populistischen Parteien trotz aller „judeo-christlichen“ Beteuerungen antisemitische Tendenzen zuhauf zu finden sind. 

So auch bei Viktor Orbán und seiner Fidész-Partei. Im Frühjahr 2018 machte Orbán einen extrem antisemitischen Wahlkampf und ein Jahr zuvor plakatierte Orbán mit einem zutiefst antisemitischen Slogan ein Konterfei des amerikanisch-ungarischen jüdischen Millionärs George Soros, der mit seiner NGO „Open Society“ ein Dorn im Auge aller Rechtspopulisten ist, weil er den Liberalismus in ihren Ländern unterstützt. Der Vorwurf ihrerseits: Soros versuche mit seinem Geld die Regierungen, die ihm nicht genehm sind, zu stürzen.

Das Plakat rief dazu auf, nicht zuzulassen, dass Soros „als letzter lacht“. Die jüdische Gemeinde in Budapest zeigte sich extrem besorgt und protestierte. Auch der israelische Botschafter in Budapest äußerte sich besorgt – doch sein Premierminister pfiff ihn zurück und spielte die Angelegenheit herunter. Und nicht nur das: Netanyahu reiste frohgemut nach Ungarn, um Orbán zu treffen. Der ließ die Plakate überall dort, wo Netanyahu durchfuhr, abhängen. Aber ansonsten: nichts. Kein Wort von Netanyahu, keine Meinungsänderung Orbáns. Im Gegenteil: Auch Netanyahu hasst Soros – aus ähnlichen Gründen wie alle Populisten in Osteuropa.

Netanyahu schert sich nicht um den Antisemitismus seiner Buddies im Osten. Im Gegenteil. Als Polen ein unsägliches Gesetz erließ, in dem verboten wurde, Polen für den Holocaust mitverantwortlich zu machen, war das zwar so radikal, dass selbst Netanyahus Regierung protestieren mußte. Doch der danach von Polen und Israel neu ausgehandelte Gesetzestext war immer noch so, dass viele Historiker von Geschichtsklitterung sprachen, Yehuda Bauer, der große Historiker der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, nannte den neuen Text gar „Verrat“.

Was treibt Netanyahu an? Warum verbündet er sich mit solchen anti-demokratischen, nationalistischen und antisemitischen Kräften?

Die ideologische Nähe ist das eine. Das andere aber ist Netanyahus größeres politisches Ziel, das er inzwischen so gut wie erreicht hat: Die Unterminierung von EU-Beschlüssen gegen Israel, zugunsten der Palästinenser. 

Keiner glaubt mehr an die Zwei-Staaten-Lösung

Tatsächlich ist die EU in ihrer gesamtpolitischen Haltung einem linksliberalen Weltbild nah. Der Westen Europas hat sich seit Jahrzehnten auf die Seite der Palästinenser geschlagen und verurteilt nicht nur die israelische Besatzung, sondern ist auch dazu übergegangen, Produkte aus den besetzten Gebieten als solche zu labeln. So nachvollziehbar die kritische Haltung der EU gegenüber der Politik Netanyahus ist, so schießt sie doch manchmal über das Ziel hinaus, ist mitunter realitätsfremd, es werden häufig Organisationen finanziell unterstützt, die bei genauerem Hinsehen nichts zur Beilegung des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern beitragen. Ein aktuelles Beispiel ist die UNRWA, die UN-Flüchtlingsorganisation für die Palästinenser. Keine Bevölkerungsgruppe der Welt hat eine eigene UN-Flüchtlingsorganisation, für alle ist die UNHCR zuständig, die Palästinenser haben sie. Die UNRWA hat viel Gutes getan, keine Frage. Sie hilft Zehntausenden Menschen zu überleben: in Gaza, in Flüchtlingslagern im Westjordanland, z.B. Aber die UNRWA akzeptiert nicht nur die Tatsache, dass sich inzwischen rund 5,5 Millionen Palästinenser als Flüchtlinge verstehen (und darum wieder von der UN-Organisation unterstützt werden, obwohl 1948 nur etwa 700.000 Menschen im arabisch-israelischen Krieg geflohen waren), sondern sie beläßt diese Menschen mit ihrer Unterstützung im Flüchtlingszustand, sie perpetuiert diesen Zustand, der dazu führt, dass man Palästinenser in der politischen Hoffnung belässt, irgendwann doch einmal „zurückzukehren“, also in das Gebiet, das heute als Kernland Israels akzeptiert wird. Eine solche Rückkehr würde aber das Aus für den jüdischen Staat bedeuten. Das weiß die UNRWA, das weiß die EU – aber man verschiebt das Problem, in dem man darauf hinweist, dass all dies im Friedensprozeß gelöst werden müsse. Nur: ist das der Weg? Werden hier nicht Probleme aufrecht gehalten, die tatsächlich mit ein Grund sind, keine Lösungen zu finden? 

Für Netanyahu ist das so und viele Israelis sehen das ähnlich und sind deshalb froh, dass US-Präsident Donald Trump die Parameter, die seit Jahrzehnten als „unverbrüchlich“ galten, einfach mal so verschoben hat, indem er die US-Botschaft nach Jerusalem verlegte oder die UNRWA nicht mehr finanziell  unterstützt . 

Tatsächlich ist es so, dass in der Region kaum noch jemand an die Zwei-Staaten-Lösung glaubt, ja, schlimmer noch: es interessiert niemanden mehr wirklich. Nicht die arabischen Staaten, natürlich nicht die USA, nicht Russland. Und auch nicht alle anderen in Asien oder Afrika, die mit dem High-Tech-Hub Israel Geschäfte machen.

Antisemitische Alliierte

Der EU-Raum ist immer noch der zweitgrößte Markt für israelische Exporte, nach den USA. Das könnte sich in Zukunft in Richtung Asien verschieben, aber noch ist dem nicht so. Indem Netanyahu sich politisch mit den Visegrad-Staaten verbündet, also mit Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei, gelingt es ihm, politische Entscheidungen in Brüssel gegen Israel, die mit Einstimmigkeit erzielt werden müssen, nun schon seit geraumer Zeit zu unterlaufen. Das sichert ihm nicht nur die Freiheit, politisch fortzufahren wie er möchte, es hilft ihm auch eventuelle Boykotte gegen Israel, die die EU irgendwann mal gegen Jerusalem durchzusetzen versuchen könnte, zu verhindern. 

Angesichts solcher politischer Interessen, ist es bemerkenswert, dass Israel zum ersten Mal über antisemitische Politik seiner Alliierten hinwegsieht, dass, mit anderen Worten, „israelische“ vor „jüdischen“ Interessen stehen, wenn es um Fragen des Antisemitismus geht. Der Preis scheint zu hoch zu sein. Eine Verbrüderung mit zutiefst undemokratischen Regimes. Doch aus der Sicht Jerusalems ergibt das Sinn: Politik heißt immer, die eigenen Interessen zu verfolgen. Und angesichts der radikalen Veränderungen in der westlichen Welt sieht Jerusalem, dass die alte Wertegemeinschaft des liberalen Westens, zu dem sich Israel immer bekannt hat, dem Untergang geweiht scheint. Was Netanyahu also macht, wird gern „Realpolitik“ genannt. Sicher ist: zumindest was die aktuelle Entwicklung betrifft, ist Netanyahu realistischer als die liberalen Demokraten in Europa. Ob das aber auf lange Sicht gut gehen wird für Israel, ist noch lange nicht ausgemacht.

Lesen Sie auch: „Nein, Netanyahu ist kein Bruder Orbáns“ von Johannes C. Bockenheimer.