Ob bürokratisch, umgangssprachlich oder einfach falsch – es gibt Wörter und Redewendungen, die es nicht geben darf. Im Lexikon der schlimmen Sprache werden sie gesammelt. Und danach hoffentlich für immer vergessen. Diesmal: Die Menschen dort abholen, wo sie stehen.

DAS LEXIKON DER SCHLIMMEN SPRACHE

In diesem Land ist viel Aufregung. Meist lohnt sie nicht. Besser, sich über etwas zu echauffieren, das die Mühe wert und doch harmlos ist: verbrecherischen Sprachgebrauch. Inklusive Urteilsbegründung und Strafmaß.

FOLGE 5

Abholen (als Redensart)

BEGRÜNDUNG

Die Menschen da abholen, wo sie stehen. Das ist eine dieser Phrasen, die vermutlich aus der Psychologie in die Sprachblasen von Politikern gesickert sind. Eigentlich ist „Abholen“ eine Gefälligkeit oder Dienstleistung. Im übertragenen Sinne kommen aber noch einige Nebenbedeutungen hinzu. „Der hier genannte bildliche Gebrauch überträgt die räumliche Komponente auf die Fähigkeiten oder die Lebenssituation des anderen“, heißt es schön zusammengefasst auf einer Redensarten-Sammelseite. Man erkennt in dieser Erklärung, dass die Redewendung von den abzuholenden Menschen arglos ausgelegt ein Appell an Therapeuten oder Ärzte sein kann. Der Arzt hat einen Wissensvorsprung, er weiß, was der Patient braucht. Damit der Patient ihm folgt, muss er sich auf dessen Ebene begeben, sonst kann er ihm nicht helfen. Selbst in dieser positiven Übersetzung scheint allerdings durch, dass das Vorhaben des Abholens das Potenzial zu Paternalismus und Übergriffigkeit in sich trägt. Aus dem Mund von Politikern oder Unternehmensberatern schlägt dieses Potenzial voll durch.

Denn in der Metapher vom Abholen sind „die Menschen“ passiv, sie stehen oder sitzen irgendwo herum und warten, dass jemand sie von A nach B befördert. Vielleicht haben sie sich in ihrer Komfortzone eingerichtet – auch so eine Floskel. Ihre „Fähigkeiten oder ihre Lebenssituation“ entsprechen jedenfalls noch nicht dem gewünschten Level, dorthin muss man sie erst bringen. „Die Menschen“ sind gewissermaßen zurückgeblieben, während der Abholer selbstredend schon bei B angekommen ist und genau weiß, was „die Menschen“ dort erwartet.

Eine vorgeblich einnehmend gemeinte Redensart, mit der man sich auf Augenhöhe zu den anderen begibt, kehrt sich ins Gegenteil. Sie nimmt nicht ein, sondern vereinnahmt. Der Abholer begibt sich nicht auf Augenhöhe, er lässt sich herab. Das wird deutlich, wenn man die Perspektive wechselt und das Ganze aus der Sicht der Angesprochenen betrachtet. Jemand, der sich abholen lässt, ist entweder minderjährig oder hat darum gebeten – tut es zumindest aus freien Stücken. Davon kann bei den Menschen, die in Politikeransprachen abgeholt werden, nicht die Rede sein. Sonst müsste die Notwendigkeit des Abholens ja nicht extra hervorgehoben werden. Kein Wunder, dass viele Menschen auf diese Floskel eher bockig reagieren. Erst recht, weil abholen auch verhaften bedeuten kann. Man möchte sich nicht auf Anordnung von Politikern „abholen“ lassen.

Zusammengefasst: Man holt Kinder von Geburtstagen ab oder Freunde aus der Kneipe. Aber man holt seine Bürger nicht ab. Politiker und Berater sollten deshalb auf den Wunsch verzichten, „die Menschen“ dort abzuholen, wo sie stehen. Dazu gibt es Taxifahrer.

HERKUNFT

Einen anderen dort abzuholen, wo er steht, ist ein Grundsatz der so genannten personenzentrierten Gesprächsführung und dürfte im Laufe der siebziger Jahre aus der Fachsprache in die Wortbaukästen von Politik und Change-Management übernommen worden sein. Dort verliert die Floskel glücklicherweise inzwischen an Popularität, weil die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Kommunikation offensichtlich wurden. Für grüne Verzichtspredigten wird sie aber immer noch gern genutzt.

STRAFE*

20 Peitschenhiebe.

* Dr. Deutsch schlägt für das Verwenden schlimmer Wörter jeweils eine Körperstrafe vor. Sie ist an „Asterix bei den Schweizern“ angelehnt dreistufig: Fünf Stockhiebe, 20 Peitschenhiebe oder „In den See, mit einem Gewicht an den Füßen“. Dieser Vorschlag ist ein Scherz. Niemand muss sich darüber aufregen.

IM NAMEN DES VOLKES

Welches Wort hassen Sie? Welche Floskel macht Sie krank? Vorschläge werden jederzeit gern entgegengenommen.

ALLE WEITEREN FOLGEN DES LEXIKONS

Reden, wir müssen

Sohnemann

Gehangen statt gehängt

Räumlichkeit

Ablachen, abfeiern, abtanzen

Gegenüber

Das pädagogische Wir

Vater Staat und Mutter Natur

US-Administration