Ob bürokratisch, umgangssprachlich oder einfach falsch – es gibt Wörter und Redewendungen, die es nicht geben darf. Im Lexikon der schlimmen Sprache werden sie gesammelt. Und danach hoffentlich für immer vergessen. Diesmal: Das pädagogische Wir.

DAS LEXIKON DER SCHLIMMEN SPRACHE

In diesem Land ist viel Aufregung. Meist lohnt sie nicht. Besser, sich über etwas zu echauffieren, das die Mühe wert und doch harmlos ist: verbrecherischen Sprachgebrauch. Inklusive Urteilsbegründung und Strafmaß.

FOLGE 8

Das pädagogische Wir

BEGRÜNDUNG

„Na, Herr Müller, wie geht’s uns denn heute?“ Kennt man, ist ein Einstieg von genügend Witzen über Krankenschwestern. Der Plural ist in diesem Fall der plumpe, aber im Zweifel nett gemeinte Versuch, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen zwischen zwei Menschen, die eigentlich nichts gemeinsam haben: Der eine ist krank und auf Hilfe angewiesen, der andere ist gesund und hilft.

Leider greift der Plural als gemeinschaftsstiftender Kniff aber auch außerhalb von Krankenzimmern um sich – in Form des pädagogischen oder auch mahnenden Wir. Lange eine Marotte evangelischer Prediger und predigender Journalisten, zieht es sich nicht erst in der Corona-Krise durch die gesamte Kommunikation, von Politiker-Statements über journalistische Texte bis in Social-Media-Posts. „Wir müssen jetzt nochmal drei Wochen die Arschbacken zusammenkneifen“, liest man da. Oder gar: „Wir haben es verbockt“. Das Perfide liegt darin, dass das „Wir“ in viel zu vielen Fällen ein rhetorischer Taschenspielertrick ist, eine beschwichtigend-verlogene Umgehung dessen, was eigentlich gemeint ist. Nämlich: „Ihr“. Oder mindestens: „Nicht ich“.

Grundsätzlich ist „vom Ich zum Wir“ eine löbliche Vorgabe in der Kommunikation. Gemeint ist damit aber nicht, Verantwortung zu sozialisieren, nach dem bekannten Motto: Preise und Erfolge erreiche immer „Ich“, Fehler machen immer „Wir“. Das Gegenteil ist richtig.

Schwierig wird es darüber hinaus, wenn das „Wir“ nicht nachvollziehbar definiert ist und offenlässt, ob der Absender der Botschaft sich auch wirklich selbst mit einbezieht. „Wir müssen mehr laufen“ ist als Appell des Kapitäns an seine Mannschaft in der Halbzeit angemessen. Denn es ist klar, dass elf Spieler auf dem Platz gemeint sind, zu denen er auch gehört. Es ist auch klar, dass es um eine gemeinsame Anstrengung von allen für alle geht und nicht darum, nachzuprüfen, ob drei Spieler ohnehin schon jetzt mehr als genug laufen.

Wenn aber im halbjährlichen Klimaschutz-Dossier der lokalen Zeitung ein Redakteur mit Tarifgehalt, Home-Office-Ausrüstung und drei Kilometern Arbeitsweg verlangt, dass „wir“ häufiger mal das Auto stehen lassen sollten, dann fühlen sich die Berufs-Pendler unter den Abonnenten angegriffen. Das pädagogische Wir ist in diesem Sinne allzu oft ein sprachlich kaschierter Vorwurf, der bei Menschen mit einem gewissen Selbstwertgefühl Widerspruch und Trotz hervorruft – und damit das Gegenteil von dem, was der selbsternannte Erzieher beabsichtigt hatte. Eine Menge Menschen können beispielsweise guten Gewissens von sich behaupten, dass sie in Sachen Corona nichts, aber auch gar nichts verbockt haben, sondern seit Monaten jede Anordnung befolgen, selbst die widersinnigen. Diese Menschen werden bockig, wenn man sie zu oft mit einem pädagogischen Wir vereinnahmt.

Wenn der Redakteur im Klimaschutz-Dossier-Beispiel sich dagegen selbst einbezieht, weil er tatsächlich fürs Klima bei Wind und Wetter Fahrrad fährt, statt sich in seinen SUV zu setzen, dann benutze er rechtzeitig das ehrliche „Ich“ und mache transparent, in welchem Umfang er von sich auf andere schließen möchte. Die Zeiten, in denen es verpönt war, „Ich“ zu schreiben, was zu allerlei gestelzten Formeln wie „der Verfasser“ oder zum „Wir“ als so genanntes Pluralis Modestiae von „Ich“ führte, sind längst vorbei.

„Wir“ sollte man, zusammengefasst, nur dann verwenden, wenn man sich selbst in die Gemeinschaft mit einbezieht und sich sicher ist, dass alle Angesprochenen wirklich dazugehören.    

HERKUNFT

„Wir“ ist ein mittelhochdeutsches Personalpronomen, genauer: 1. Person Plural Nominativ, und hat laut Duden drei Bedeutungen. Erstens steht es „für einen Kreis von Menschen, in den die eigene Person eingeschlossen ist.“ Zudem kann man es als Pluralis Modestiae oder Pluralis Majestatis für „Ich“ verwenden sowie in vertraulicher Anrede, „besonders gegenüber Kindern und (veraltend) Patient(inn)en.“ Bedeutung zwei und drei gehören längst nicht mehr zum guten Ton. Alle anderen – heimlich gedachten – Bedeutungen von „Wir“ sollten wir uns schleunigst abgewöhnen.

STRAFE*

20 Peitschenhiebe für alle.

* Dr. Deutsch schlägt für das Verwenden schlimmer Wörter jeweils eine Körperstrafe vor. Sie ist an „Asterix bei den Schweizern“ angelehnt dreistufig: Fünf Stockhiebe, 20 Peitschenhiebe oder „In den See, mit einem Gewicht an den Füßen“. Dieser Vorschlag ist ein Scherz. Niemand muss sich darüber aufregen.

IM NAMEN DES VOLKES

Welches Wort hassen Sie? Welche Floskel macht Sie krank? Vorschläge werden jederzeit gern entgegengenommen.

ALLE WEITEREN FOLGEN DES LEXIKONS

Reden, wir müssen

Sohnemann

Gehangen statt gehängt

Räumlichkeit

Die Menschen da abholen, wie sie stehen

Abtanzen, abfeiern, ablachen

Gegenüber

Vater Staat und Mutter Natur

US-Administration